26. Jahrgang | Nummer 13 | 19. Juni 2023

Eindeutig und zeitlos

von Jutta Grieser

Wie Frau Strack-Zimmermann von der FDP und Frau Baerbock von den Grünen habe ich noch nie eine Knarre in der Hand gehabt. Aber im Unterschied zu den beiden kriegslüsternen Damen halte ich bescheiden die Klappe, wenn es um Waffen geht. Ich habe nämlich gleich ihnen davon nicht die geringste Ahnung. Das einzige, was ich weiß: Waffen zerstören und töten. Und wenn die Granate „puff“ gemacht hat, ist eine Menge Geld verbrannt und viel Feinstaub und anderer Dreck in die Umwelt gelangt. Kurzum, das Zeug taugt zu nichts – außer zum Geldverdienen. Denn die, die es produzieren (oder Aktien von Rüstungsunternehmen besitzen), verdienen an jedem Schuss.

Darum, so scheint mir, sind eine Menge Leute daran interessiert, dass möglichst lange und viel in der Ukraine geschossen wird. Denn einen anderen Grund vermag ich in diesem Krieg gegenwärtig nicht zu erkennen. Den Ukrainern wird es nicht gelingen, die Russen außer Landes und von der Krim zu treiben. Und für die Russen war schon am zweiten Tag die Spezialoperation gescheitert, als ihre Panzer sechzig Kilometer vor Kiew steckenblieben. Der Sturz des vermeintlich faschistischen Regimes fiel aus. Als Faustpfand bei Friedensverhandlungen sollen die eroberten Territorien offenbar auch nicht eingesetzt werden, denn es gibt erkennbar kein Interesse an solchen Gesprächen. Jedenfalls kommt aus dem Kreml kein Echo auf diverse Vermittlungsangebote aus Asien, Afrika, Südamerika und dem Vatikan.

Wir haben es also mit einer der großen Fragen unserer Zeit zu tun: Was will Putin? Die Frage, was der Westen mit seinem Schauspieler in Kiew will, ist nämlich beantwortet. Bleibt also nur diese eine nach der russischen Strategie.

Allerdings, und das macht es nicht ganz so einfach und hindert unsereinen daran, hirnlos mit den Westwölfen zu heulen, was eben diese von jedermann und jederfrau verlangen: Russland hat ein legitimes Sicherheitsinteresse. Große Staaten haben diesbezüglich auch größere Bedürfnisse. Man stelle sich die Reaktion der USA vor: In kalifornischen Gewässern patrouillierte die halbe chinesische Flotte wie’s die amerikanische im Ost- und im Südchinesischen Meer zu halten pflegt. Oder Mexiko schlösse mit Russland einen Militärpakt. (Wir erinnern uns der sowjetischen Raketen auf Kuba zu Beginn der sechziger Jahre und was daraus wurde. Aber auch, wie zwei willensstarke und durchsetzungsfähige Politiker – Kennedy und Chruschtschow – aus dieser Krise kamen.)

Russland fühlt sich seit Jahren insbesondere von der NATO bedrängt, ausgegrenzt, gedemütigt, beleidigt (Obama: „eine Regionalmacht“). Die seit Jahrzehnten vom flächengrößten Staat der Welt diplomatisch geäußerten Einwendungen und moderat vorgetragenen Ansprüche wurden stets hochmütig vom Westen ignoriert. Moskau predigte tauben Ohren.

Ich entsinne mich des KSZE-Nachfolgetreffens Ende 1994 in Budapest. In jüngster Zeit verwies man gelegentlich auf das Budapester Memorandum, in welchem ehemalige Sowjetrepubliken sich zur Überführung der auf ihrem Territorium stationierten Nuklearwaffen nach Russland – dem Nachfolgestaat der Sowjetunion – verpflichtet hatten. Anlass für diese Erinnerung waren zweideutige Bemerkungen des Kiewer Staatsschauspielers, dass sich die Ukraine vielleicht um Atomwaffen bemühen solle …

Bei jenem Treffen in der ungarischen Hauptstadt gab es auch einen heftigen Zusammenstoß zwischen US-Präsident Clinton und dem ausnahmsweise stocknüchternen Boris Jelzin. Die ARD-Tagesschau berichtete am 5. Dezember 1994: „Nach einer Mahnung an die Kriegsparteien in Jugoslawien befürwortet Bill Clinton eine Ausdehnung der NATO nach Osteuropa in die Staaten des früheren Warschauer Paktes Richtung Russland. Boris Jelzin antwortet sofort und nimmt kein Blatt vor den Mund. ‚Was bedeutet denn das für Russland? Soll es jetzt statt eines Kalten Krieges einen Kalten Frieden geben? Wollt ihr die russische Demokratie jetzt schon begraben? Warum dieses Misstrauen? Eine Ausdehnung der NATO bis nach Russland – nein!‘“

Sein Nachfolger Wladimir Putin wiederholte nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal dieses Njet auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007. Und präferierte – unter anderem im Deutschen Bundestag im Jahr 2001 – einen gemeinsamen eurasischen Wirtschaftsraum vom Atlantik bis zum Pazifik. Das aber wollte die übriggebliebene „Supermacht“ nicht hinnehmen. Es passte nicht in ihre Vorstellungen von der Neuordnung der Welt. Konkurrenten mussten ausgeschaltet, nicht unterstützt werden …

Gut, das alles ist vergossene Milch und keine Rechtfertigung für den jetzigen Krieg. Für Kriege gibt es keine Entschuldigung – wie Erhard Crome an dieser Stelle („Zeitenwende ohne Vierte Gewalt“, Das Blättchen 11/2023) mit seinem Exkurs über „gerechte Kriege“ deutlich machte. Nicht wenige Linke aber zeigen sich unfähig, den Platz zwischen den Fronten zu finden. Um nicht verdächtigt zu werden, den „Putin-Verstehern“ zuzuneigen, flüchten sie sich ins NATO-Lager, hängen blaugelbe Fähnchen in den Wind und fordern Waffen für die Ukraine. Jeder Schuss ein Russ … Denn wer wie einst Bertha von Suttner „Die Waffen nieder!“ fordert, gilt hierzulande bereits als Fünfte Kolonne Moskaus.

Ach, hätten die Linken als Partei und als Individuen doch beizeiten ihr Verhältnis zur DDR geklärt, dann würden sie vielleicht auch in dieser Frage eine klare Position beziehen können. Der Gründungskonsens der ostdeutschen Republik lautete nämlich: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!

Und: Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen!

Eindeutiger und zeitloser geht es nicht. Klassisch sozusagen. Und Klassik gründet auf allgemeingültigen Erkenntnissen und Erfahrungen, in diesem Falle: Faschismus wurzelt in der kapitalistischen Gesellschaft, ist deren letzte Konsequenz bei Manipulation, Ausbeutung und Unterwerfung. Er zeigt sich im Übrigen nicht nur in Lagern und Stacheldraht. Auch Gesinnungsterror ist Terror. Und Uniformität trägt nicht immer Uniform. Darum: Wenn man dauerhaft Frieden will, nicht nur einen temporären zwischen den Krisen, muss man den Kapitalismus grundsätzlich in Frage stellen und ihn zu überwinden versuchen. Hier, in der Ukraine, in Russland, überall. Karl Liebknecht ging gewiss nicht fehl in der Annahme, dass der Hauptfeind im eigenen Lande steht.

Jetzt also rächt sich, dass die Partei Die Linke eine gestörte Beziehung zur Vergangenheit hat. Auf fatale Weise erfüllt sich die Prophezeiung: Wer seine Geschichte verdrängt oder vergisst, hat auch keine Zukunft. Und treibt stattdessen der AfD Wähler zu. Mangels Alternativen. Die Linke ist erkennbar keine in dieser Allparteienkriegsbefürwortersauce.

Was für eine verrückte Welt: So viel Chancen für gesellschaftliche Opposition war selten, doch es gibt sie nicht. Sie hat den Strack-Zimmermännern und -frauen kampflos das Feld überlassen.