Dass die Welt seit Beginn des Ukrainekriegs
Züge einer neuen Blockkonfrontation trägt,
ist unbestreitbar.
DER SPIEGEL, 21/2023
Europa mag steif und fest behaupten,
dass Russland sich selbst isoliert –
aus der Perspektive des Globalen Südens
stellt sich das ganz anders dar.
Giogio Romano Schutte,
Politologe, Brasilien
Zu den international ausgewiesenen sicherheitspolitischen Experten Russlands zählt Dmitri Trenin. Seit 30 Jahren analysiert und erklärt er die internationale Politik Moskaus. Vornehmlich im Verhältnis zu den USA und zum kollektiven Westen generell.
Solange er dies als Chef der Dependance der US-amerikanischen Carnegie-Stiftung in Moskau tat – unapologetisch, doch erkennbar auf der Basis nationaler Interessen Russlands –, war Trenin, obwohl US-Falken spätestens seit Erscheinen seines Buches „Should We Fear Russia?“ (2016) suspekt, im Westen durchaus wohlgelitten. Zu Hause aber galt er eher als bezahlter US-Angestellter und bei Hardlinern zuweilen gar als Vaterlandsverräter. Das hat sich geändert, seitdem Carnegie in Moskau im April 2022 auf Anweisung russischer Stellen geschlossen werden musste und Trenin die Seiten gewechselt hat. Als nunmehr wieder offen loyaler Patriot (Rigth or wrong – my country!) ist er inzwischen Forschungsprofessor an der Higher School of Economics und Leading Research Fellow am Institute of World Economy and International Relations, beide in Moskau. Seine heutigen Expertisen erfolgen durchweg in einem von ihm bis dato ungewohnten Begründungs-, respektive Rechtfertigungsmodus. Den Boden kritischer Realitätswahrnehmung wollte und hat Trenin trotzdem nicht verlassen, doch darf er jetzt gleichwohl als Repräsentant eines auch von den staatlichen Medien verbreiteten und damit mindestens offiziösen sicherheitspolitischen Denkens gelten.
Bereits im November 2022 hatte Trenin in einem Beitrag für die Plattform Russia in Global Affairs, der von der Schweizer Website globalbridge.ch auch auf Deutsch verbreitet wurde, von einem „Abbruch“ der bisherigen Außen- und Sicherheitspolitik Russlands im Verhältnis zum Westen gesprochen und expressis verbis betont: „Das Wort ‚Abbruch‘ […] ist bewusst gewählt. Ein ‚Wendepunkt‘ kann immer noch durch Umkehr und mit einer Rückkehr zum Ausgangspunkt wettgemacht werden […]. Ein Abbruch aber bedeutet die Unumkehrbarkeit dessen, was geschehen ist.“ Und ebenso nüchtern wie strategisch weitreichend ergänzte Trenin, dass Russland „kein großes Interesse mehr daran [hat], den Status quo in Europa und in der Welt insgesamt aufrechtzuerhalten“.
Anfang Mai 2023 hat Trenin seine Einschätzung in einem weiteren Beitrag, dieses Mal für die Plattform Horizons (deutsch wiederum auf globalbridge.ch) präzisiert: „Im Wesentlichen hat der Krieg in der Ukraine ein Erdbeben im Bereich der russischen Außenstrategie, des Einsatzes von Diplomatie und militärischer Gewalt ausgelöst und die Art und Weise, wie Moskau den Rest der Welt betrachtet, radikal verändert. Das kürzlich veröffentlichte außenpolitische Konzept [gemeint ist der vom russischen Präsidenten am 31. März 2023 unterzeichnete Ukas Nummer 229 über die Grundzüge der künftigen Außenpolitik; ausführlicher dazu Blättchen 9/2023 – G.M.] ist ein Indikator dafür, wohin die Reise bisher gegangen ist, aber es ist nur ein erster Schritt in eine grundlegend neue Richtung. Diese Richtung negiert […] das ‚neue Denken‘ von Michail Gorbatschow, die ‚lasst uns mit dem Westen verbündet sein‘-Haltung von Boris Jelzin und sogar die ‚Groß-Europa bis nach Wladiwostok‘-Ansprüche von Wladimir Putin als jungem Präsidenten.“
Die Älteren werden sich erinnern: Das Neue Denken Gorbatschows hatte ab 1985, nach dessen Amtsantritt als Generalsekretär der KPdSU, die Welt zunächst in ungläubiges Erstaunen versetzt, dann fasziniert; es wurde zur entscheidenden Initialzündung für die friedliche Beendigung des ersten Kalten Krieges.
Um zu begreifen, was von einer Negierung dieses Denkens zu erwarten und von welcher Tragweite und Dramatik die jetzige Feststellung Trenins daher ist, sollte man zunächst die seinerzeit revolutionären Essentials der Gorbatschowschen Konzeption aus der Versenkung holen. Kerngedanke war die Zielstellung, die bisher vorherrschende Konfrontation zwischen Ost und West und die dadurch permanente Kriegsgefahr durch Schaffung eines Systems kooperativer Beziehungen zu überwinden. Weitere Hauptgedanken hat Gorbatschow selbst – unter Rückgriff auf sein zusammen mit Wadim Sagladin und Anatoli Tschernjajew verfasstes und unter dem Titel „Das Neue Denken. Politik im Zeitalter der Globalisierung“ 1987 auch in der Bundesrepublik publiziertes Buch – später folgendermaßen aufgelistet:
- Verzicht auf ideologische Konfrontation mit dem Westen,
- Verzicht auf militärisches Herangehen an die Beziehungen zur Außenwelt,
- Kurs auf Beendigung des Rüstungswettlaufs,
- Liquidierung von Massenvernichtungswaffen,
- Abbau der Streitkräfte bis zu einem Niveau, das nach vernünftigen Maßstäben ausreichend ist,
- Integration der Wirtschaft in die Weltwirtschaft und Einbindung des Landes in den allgemeinen Zivilisationsprozess,
- Wahlfreiheit für alle, unter anderem auch im Hinblick auf die Gesellschaftsordnung,
- Verzicht in den internationalen Beziehungen darauf, anderen Staaten den eigenen Willen mit Gewalt aufzuzwingen,
- Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten,
- Konzentration auf präventive Diplomatie und Vertrauensbildung als wichtigste Faktoren in der Weltpolitik,
- Bereitschaft zur Kooperation mit allen, die dazu bereit sind, zur Lösung von internationalen Problemen wie Menschrechte, Ökologie, humanitäre Fragen.
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Exkurs: Das Neue Denken war auch in der DDR Gegenstand von Untersuchungen, Kontroversen und eigenen Beiträgen (siehe ausführlich Blättchen, Sonderausgabe vom 01.07.2013). In einer Arbeit von Autoren aus dem Institut für Internationale Politik und Wirtschaft (IPW) aus dem Jahre 1987 wurden zum Beispiel folgende Zusammenhänge hervorgehoben: „Friedenssicherung durch Rüstungsbegrenzung und Abrüstung […] Darin liegt mindestens in vierfacher Hinsicht […] der Schlüssel für das Überleben der Menschheit. Materiell: Abrüstung ist der einzige Weg, um die militärische Bedrohung der menschlichen Existenz in ihrer Substanz […] zu verringern und schließlich zu überwinden […]. Finanziell: Die Lösung der globalen Probleme [von den Autoren konkret bezogen auf Entwicklungsangleichung der Dritten Welt und globalen Umweltschutz – G.M.] erfordert immense finanzielle Aufwendungen, die aber insbesondere die Industriestaaten und – in bestimmtem Maße – selbst die meisten Entwicklungsländer durchaus aufbringen können, wenn das Wettrüsten gestoppt und die Abrüstung eingeleitet wird. […] Wettrüsten und Lösung der globalen Probleme übersteigt die Leistungsfähigkeit der Wirtschaften der Staaten der Erde bei weitem; Lösung der globalen Probleme statt Wettrüsten ist die einzig praktikable Alternative. Wissenschaftlich-technisch: In der militärischen Forschung und Entwicklung ist heute […] ein erheblicher Teil der jährlichen Forschungsmittel und nicht zuletzt der wissenschaftlichen Spitzenkräfte gebunden, die für andere Bereiche […] nicht zur Verfügung stehen. Politisch-psychologisch: […] dem gegenwärtigen Niveau der militärischen Konfrontation zwischen Ost und West [folgt] ein adäquat hohes Mißtrauen in den zwischenstaatlichen Beziehungen auf dem Fuße, so dass schon von daher eine komplexe internationale Zusammenarbeit […] über Ansätze nicht hinauskommt.“
Was wäre davon heute nicht schon längst wieder zutreffend?
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Und was soll in Moskau auf Neues Denken, die Haltung aus den Jelzin-Jahren und die früheren Vorstellungen Putins denn nun folgen? Darüber geben der Ukas vom März und die Erläuterungen Trenins klar Auskunft: Für die kommenden Jahrzehnte und das russische Agieren auf der internationalen Bühne hat man sich für einen Kurs entschieden, der auf eine vollständige Abkehr Russlands vom Westen und auf eine weitgehende und langfristige Absage an jegliche substantielle Zusammenarbeit mit diesem hinausläuft. (Im russisch-deutschen Verhältnis kann man das gerade ganz praktisch beobachten. Da hat Moskau soeben entschieden, die Anzahl der deutschen Staatsbediensteten im Lande künftig auf 350 zu beschränken und damit die diplomatische, kulturelle und sonstige staatliche Kooperation systematisch weiter einzuschränken.)
Diese destruktive Attitüde ist Teil einer umfassenden Strategie mit dem erklärten Ziel, die überkommene, von den USA und ihren Verbündeten dominierte Weltordnung durch eine neue sogenannte multipolare zu ersetzen – mit den, so Trenin, „Schlüsselbereichen […] Finanzen, Sicherheit und Information“. Gelingen soll dies offenbar durch eine Art revitalisierter Blockkonfrontation mit dem kollektiven Westen – dieses Mal gemeinsam mit allen Staaten, die den Westen international ebenfalls gern marginalisiert sähen, also den „Ländern der Weltmehrheit“ (Trenin) und natürlich unter der Ägide Russlands, Chinas und, aus Sicht des Kremls, möglichst auch Indiens. Nochmals Trenin: „Die wichtigste außenpolitische Ressource Russlands ist die Position der Weltmehrheit, die nach größerer politischer, wirtschaftlicher und militärischer Unabhängigkeit auf der Weltbühne strebt und ihre eigene Identität im Rahmen der Weltzivilisation behauptet.“ Diese Feststellung wird unter anderem durch den Sachverhalt gestützt, dass sich seit der Annexion der Krim und selbst nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine kaum ein Land in Südamerika, in Afrika oder im Nahen Osten den westlichen Sanktionen gegen Moskau angeschlossen hat, und in Ostasien waren es bisher auch nur drei.
Entwickelt werden soll eine wirkungsmächtige antiwestliche Blockstruktur vor allem ausgehend von der BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika). Ende Mai 2023 waren, einer russischen Quelle zufolge, bereits 25 weitere Staaten, die dem Verbund beitreten wollen, namentlich bekannt. Zwölf aus Asien, sieben aus Afrika, fünf aus Lateinamerika sowie einer aus Europa – darunter Algerien, Ägypten, Argentinien, Indonesien, Iran, Mexiko, Venezuela und die Vereinigten Arabische Emirate (VAE), aber auch frühere, besonders enge Verbündete Washingtons wie Pakistan und Saudi-Arabien. Selbst das NATO-Mitglied Türkei habe „ein Auge auf die BRICS geworfen“, so der russische Analytiker Pjotr Akopow. Unter fünf weiteren potenziellen Antragstellern sollen sich Singapur und möglicherweise Israel befinden. (Im Zusammenhang mit dem Treffen der BRICS-Außenminister in Kapstadt Ende Mai / Anfang Juni 2023 war in Medienberichten von bisher 19 vorliegenden offiziellen Beitrittsanträgen die Rede.) Damit habe sich die gemeinsame antiwestliche Politik Russlands und Chinas, meint der russische Politologe Wladimir Pawlenko, von einer „Revolte […] in eine vollwertige Konfrontation verwandelt“ und zwar „in eine Konfrontation der zivilisatorischen Modelle […]. Der Westen und der Nicht-Westen.“ Dass die Entwicklung in diese Richtung geht, schwant auch westlichen Beobachtern. Über das Treffen in Kapstadt informierte DIE WELT unter der Überschrift: „Wie Russland die Brics-Staaten gegen den Westen in Stellung bringt“.
Die Zeichen für eine Globalisierung der BRICS-Gruppe stehen im Übrigen augenscheinlich generell nicht ungünstig, wenn man bedenkt, dass es China bereits gelungen ist, einen Ausgleich zwischen den bisherigen Todfeinden Iran und Saudi-Arabien einzuleiten und damit neue Perspektiven für die Beendigung der Bürgerkriege im Jemen und in Syrien zu eröffnen, oder welchen Grad die Entfremdung Riads gegenüber Washington inzwischen angenommen hat. Nicht nur gab Riad dem US-Drängen nach Erhöhung seiner Erdölförderung, um den exorbitanten Preiserhöhungen für Energieträger auf dem Weltmarkt entgegenzuwirken, bisher nicht nach und empfing kürzlich gar den vom gesamten Westen sanktionierten Innenminister Russlands, auch die im Westen heftig kritisierte Reintegration Syriens in die Arabische Liga wurde maßgeblich von Saudi-Arabien in Szene gesetzt.
Weiterer Aufschluss über die künftige Ausgestaltung des BRICS-Verbundes wird von dessen Gipfeltreffen vom 22. bis 24. August 2023 in Südafrika erwartet. Fest steht auf jeden Fall, dass die Gründungsgruppe ihr Rütteln „am wohl mächtigsten Fundament der aktuellen Weltordnung: dem US-Dollar“ (DER SPIEGEL) intensivieren will. Das Ziel der Installierung einer alternativen globalen Leitwährung und letztlich einer neuen Weltfinanzordnung war eines der beherrschenden Themen beim erwähnten Treffen der BRICS-Außenminister in Kapstadt, bei dem außerdem Vertreter von 15 weiteren Staaten des globalen Südens zugegen waren, so aus Argentinien und Kuba. Die unter anderem zu diesem Zweck bereits 2014 gegründete BRICS-Entwicklungsbank (New Development Bank) – mit Sitz in Shanghai und seit kurzem geleitet von der früheren brasilianischen Präsidentin Dilma Rouseff – ist inzwischen durch weitere Mitglieder verstärkt worden, zum Beispiel durch Ägypten und die VAE.
Trenin ist jedoch Realist genug, um zu erkennen, dass Moskau mit seinen Bestrebungen auch im eigenen Lager vor grundlegenden Herausforderungen steht und wo die Hauptachse des weiteren Geschehens verläuft: „Bislang sind die BRICS-Länder – China, Indien, Brasilien, Südafrika – und die anderen Länder der Weltmehrheit eher geneigt, die Weltordnung anzupassen, als sie radikal zu ersetzen oder sie gar zu zerstören.“ Und: „Der Übergang zu einer neuen Weltordnung wird […] weitgehend vom Ausgang der Rivalität zwischen den beiden großen Weltmächten, den USA und China, abhängen.“
Den in diesem Beitrag skizzierten russischen Vorstellungen zufolge soll es letztlich erneut um einen Endkampf zwischen Gut und Böse sowie um Sieg oder Niederlage gehen.
Trenin rechnet in diesem Kontext damit, dass in den nächsten zehn bis 15, wenn nicht sogar 20 Jahren „Krieg […] die wichtigste Form der Interaktion zwischen Russland und dem Westen bleiben“ werde. Neben weiteren fundamentalen Veränderungen in der russischen Außen- und Sicherheitspolitik hält Trenin schließlich auch die bisherige ablehnende Haltung Moskaus zur Weiterverbreitung von Kernwaffen für überdenkenswert: „Auf jeden Fall kann Russland nicht im Einklang mit den US-Ansätzen zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen gegenüber Iran und Nordkorea handeln.“ Was das konkret heißen könnte, lässt Trenin offen.
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Was den weiteren Fortgang der BRICS-Bestrebungen um eine neue Weltordnung anbetrifft, so war dazu im Magazin Multipolar kürzlich folgende pessimistische Einschätzung des Autors Ulrich Teusch zu lesen: „Es mag sein, dass der Krieg [in der Ukraine – G.M.] das Tor zu einer multipolaren Weltordnung weit aufstoßen wird. Aber ob diese Ordnung einen manifesten Fortschritt mit Blick auf Frieden, Menschenrechte, Demokratie und soziale Gerechtigkeit bringen wird, darf man aus heutiger Sicht bezweifeln.“
Wenn man allerdings in Rechnung stellt, in welchen Zustand die Welt durch die seit Ende des ersten Kalten Krieges bestehende alleinige Dominanz der USA und des kollektiven Westens geraten ist, dann kann dem Versuch des Südens, diese Dominanz zu beenden, seine Berechtigung schwerlich abgesprochen werden.
Schlagwörter: Blockkonfrontation BRICS, China, Dmitri Trenin, Gabriele Muthesius, Krieg, multipolar, Russland, Weltordnung, Westen