Adam Michnik, Veteran der Solidarność-Bewegung, hat sich jetzt ausführlicher zu Russland zu Wort gemeldet. Den Anlass boten innenpolitische Turbulenzen in Polen, hatte das Lager der Nationalkonservativen um Jarosław Kaczyński doch zuletzt versucht, das Thema für Wahlkampfzwecke zu missbrauchen. Donald Tusk, der wichtigste Oppositionspolitiker, sollte als angeblicher Agent russischer Interessen vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden. Die passende Antwort erhielten die Nationalkonservativen am 4. Juni dieses Jahres, als in Warschau eine halbe Million Menschen dem Aufruf von Tusk folgte und der Regierung die rote Karte zeigte.
Michnik nutzt die Gelegenheit, will den Blick nach Osten schärfen. Im Schatten des russischen Angriffs gegen die Ukraine habe nämlich die Tendenz wieder zugenommen, mit unbegründeter Herablassung auf Russland und die russische Gesellschaft zu blicken. Was im Falle des angegriffenen und bedrängten Landes – der Ukraine – vielleicht verständlich sei – im Falle eines Landes wie Polen sei es nicht hinzunehmen. In klaren Worten verweist Michnik mit einiger Sorge auf russlandfeindliche Tendenzen. Mitunter sei es wohl nur die dunklere Kehrseite ungeteilter Unterstützung für die kämpfende Ukraine, letztere könne aber sehr wohl auch ohne das andere auskommen.
Michnik erinnert an Michail Gorbatschow, ohne dessen Perestroika der mit dem 4. Juni 1989 ermöglichte Ausweg aus den Gegebenheiten der Volksrepublik Polen gar nicht möglich gewesen wäre. Eine Rolle des sowjetischen Partei- und Staatschefs also, die auch anderswo in Mitteleuropa immer wieder beschrieben wird. In diesem Fall sagt es aber ein Mann, der in der Spitze jener Bewegung stand, ohne die Gorbatschows in die politische Freiheit weisenden Ideen kaum auf einen so fruchtbaren Boden gefallen wären. Umso erfreulicher ist es, wenn Gorbatschows Rolle so herausgehoben wird.
Zu den Besonderheiten des polnischen Blicks auf die Sowjetunion in den damaligen Zeiten gehörte immer, dass hinter der Fassade der übermächtig wirkenden Union sofort Russland, Belarus, Litauen oder eben die Ukraine wahrgenommen wurden. Das war anderswo weniger der Fall, zum Beispiel in der DDR. Unvorstellbar etwa, dass der Volksbuchhandel in den Filialen zwischen Rostock und Suhl wohlfeile Buchausgaben mit umfassender Darstellung der Geschichte der Ukraine, Lettlands, Litauens, Georgiens und anderer Republiken ausgelegt hätte. Der normale DDR-Bürger verblieb in dieser Hinsicht schlicht in übergeordneten Sowjetkategorien; die in der Gesamtkonstruktion aufgehobenen Spannungen zwischen den einzelnen Unionsrepubliken waren kaum Gegenstand tieferer Betrachtung, genauer: sie konnten es nicht sein.
Auch Michnik machte in den Sowjetjahren keine Ausnahme von der polnischen Regel, für ihn war die Sowjetunion vor allem eine komplexe Machtkonstruktion, in der dem überaus spannungsreichen Verhältnis Russlands zu den Einzelrepubliken immer eine herausgehobene Stellung zukam, so dass ihm die Sozialstruktur – also das sozialistische oder gar kommunistische Versprechen – als unter- oder nachgeordnet galt. Damals war der Vorwurf schnell bei der Hand, dass eine solche Position antisowjetisch sei. Genau besehen wird aber deutlich, dass da in erster Linie russische Machtpolitik gegenüber den anderen Unionsrepubliken im Blick war, also das, was in der einschlägigen Literatur hilfsweise als die Jahrhundertlast russischer imperialer Politik beschrieben wird, die auch das Sowjetland oder die Sowjetordnung nicht abschütteln konnte.
Selbstverständlich gab es damals zwischen den Positionen, wie sie Michnik und andere im oppositionellen Solidarność-Lager vertraten, und denjenigen Sichtweisen, die unter den Führungsleuten in der VR Polen üblich waren, auch größere Unterschiede. Und doch war der jeweilige Abstand zu dem in der DDR allgemein üblichen Verständnis ungleich größer, so dass aus der Sicht der Berliner Genossen in dieser Hinsicht bei den Polen sowieso Hopfen und Malz verloren schienen.
Heute nun zeigt sich Michnik – einmal abgesehen vom Krieg gegen die Ukraine – ungebrochen optimistisch, wenn er auf Russland schaut. Die Herausbildung selbstständiger, souveräner, von aller Welt anerkannter Staaten nach dem Zerfall der Sowjetunion sei unumkehrbar, auch wenn Putins Krieg gegen die Ukraine noch einmal die ganze Gefahr aufblitzen lasse. Putin versuche, mit militärischen Mitteln das Rad der Geschichte zurückzudrehen – ihm entgegen komme das weitgehende Aushebeln der Gewaltenteilung in Russland. In dieser Hinsicht wagt Michnik sogar den vergleichenden Hinweis auf Hitlers Vorgehen gegen die Tschechoslowakei und gegen Polen, als zunächst Grenzen infrage gestellt wurden, um anschließend die Nachbarländer gleich ganz von der politischen Landkarte wischen zu können. Doch schnell setzt er einschränkend hinzu: Man dürfe das heutige Russland in keinem Fall auf Putin reduzieren. Michnik setzt im starken Maße auf das andere, auf das nicht mit dem Putinschen Machtzentrum verbundene Russland. Das freiheitliche Potential in der russischen Gesellschaft sei nicht zerstört, auch wenn es jetzt und insbesondere unter den Bedingungen des Krieges gegen die Ukraine von den Behörden heftig bekämpft werde.
Eine Lösung der Fesseln, in die sich das heutige Russland verstrickt habe, bedarf in Michniks Verständnis zum einen der Beendigung des Krieges gegen die Ukraine und des Rückzugs der russischen Truppen aus den besetzten oder annektierten Gebieten – wobei er Donbass und Krim noch einmal zu trennen versteht. Zum anderen bleibe der Sturz Putins unerlässlich, was aber allein der russischen Gesellschaft als Aufgabe zukomme. Mit Putin an den Machthebeln, so Michnik entschieden, sei an gutnachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und dem übrigen Europa nicht zu denken.
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