Die russischen Landstreitkräfte
sind durch den erfolgreichen Abwehrkampf
der ukrainischen Armee mithilfe westlicher
Waffensysteme auf Jahre hinaus personell
und materiell geschwächt.
Helmut W. Ganser
Brigadegeneral a.D.
Nach Angaben des Bulletins of the Atomic Scientists verfügen die russischen Streitkräfte aktuell (Stand: 2022) über knapp 2000 einsatzbereite atomare Sprengköpfe für Trägersysteme nichtstrategischer Reichweite (ballistische Raketen, land- und seegestützte Marschflugkörper, Luftabwehrraketen, Bomber, Jagdbomber, Torpedos und andere). Diese sogenannten taktischen Atomwaffen für den Einsatz auf dem Gefechtsfeld sind gängiger russischer Praxis nach nicht bei operativen Einheiten, sondern in zentralen Lagereinrichtungen gebunkert.
Am 25. März 2023 hat der russische Präsident Wladimir Putin offiziell verkündet, dass Moskau taktische Nuklearsprengköpfe nach Belarus verlegen und dort dauerhaft stationieren werde. Es werde keine unmittelbare Übergabe an Minsk erfolgen, die Waffen blieben weiter unter russischer Kontrolle. Doch es würden Voraussetzungen geschaffen, um die belarussischen Streitkräfte zum Einsatz im Kriegsfall zu befähigen. Dazu erfolge die Übergabe ballistischer Raketen vom Typ Iskander und belarussische Kampfflugzeuge seien bereits entsprechend umgerüstet worden.
Der Vollzug der Übergabe von Iskander-Raketen an Belarus wurde Anfang April durch den russischen Verteidigungsminister Schoigu bestätigt. Die Ausbildung der entsprechenden weißrussischen Kampfverbände ist angelaufen.
Bis 1. Juli sollen (hoffentlich gegen Fremd-, also auch gegen unautorisierten Minsker Zugriff ausreichend geschützte) Lagermöglichkeiten für die russischen Atomsprengköpfe auf belarussischem Gebiet fertiggestellt sein, so dass von diesem Zeitpunkt an von einer tatsächlichen Stationierung ausgegangen werden muss.
Wie ist diese Entwicklung militärisch zu bewerten?
Grundsätzlich kann Hans Kristensen, dem international renommierten Atomwaffenexperten der US-amerikanischen Federation of American Scientists, zugestimmt werden: „Die Stationierung in Belarus hat keinen militärischen Nutzen, weil Russland schon über so viele dieser Waffen und Kräfte innerhalb Russlands verfügt.“ Mit anderen Worten: Alle künftig von Belarus aus angreifbaren Ziele konnten auch bisher schon von russischem Territorium aus ins Visier genommen werden. Insofern ist Kristensens Mutmaßung, die angekündigte Stationierung sei „Teil von Putins Spiel, zu versuchen, die NATO einzuschüchtern“, nicht ganz schlüssig: Wenn keine zusätzliche oder gar neuartige Bedrohung entsteht, wodurch sollte dann der Einschüchterungseffekt ausgelöst werden?
Bleibt also die Frage nach dem Warum.
Für das Springer-Blatt DIE WELT steht der Befund außer Frage: Die Stationierung „ist ein weiterer Schritt hin zum vollständigen Anschluss von Belarus an das neue russische Imperium, die Eingemeindung in Putins Kolonialreich. […] Putin signalisiert damit, dass die Unabhängigkeit von Belarus […] nur noch eine Farce ist […].“ Dass die sicherheitspolitische Anbindung Minsks an Moskau mit den jetzigen Maßnahmen weiter verstärkt wird und dass genau dies eine mitentscheidende Intention des Kremls sein dürfte, soll gar nicht bestritten werden. Doch ob dem Verfasser der zitierten Analyse eigentlich klar ist, was er mit seiner Feststellung zugleich über die politischen und strategischen Implikationen der sogenannten nuklearen Teilhabe in der NATO aussagt? In deren Rahmen stationieren die USA seit Jahrzehnten Atomwaffen, die zwar unter amerikanischer Einsatzkontrolle bleiben, auf dem Gebiet von Verbündeten. Im Falle des Falles sollen diese Waffen jedoch von nationalen Trägersystemen der Verbündeten (Kampfbombern) zum Einsatz gebracht werden? Das betrifft derzeit neben Belgien, Italien, den Niederlanden und der Türkei auch Deutschland. Alle fest eingemeindet in Washingtons Kolonialreich?
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Exkurs – apropos nukleare Teilhabe. Schon 1964 hatte ein Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates der USA in einem damals streng geheimen Memorandum dieses Konstrukt dahingehend charakterisiert, dass damit „die nichtnuklearen NATO-Partner in Kriegszeiten faktisch zu Atommächten werden“. Otfried Nassauer, ein leider viel zu früh verstorbener exzellenter Kenner der Materie, hat 2001 zusammengefasst, „dass in dem Moment, in dem das mit der Bombe beladene Flugzeug auf der Startbahn steht und zum Abschuss bereit ist, die Kontrolle über die Waffe von den USA, einem Kernwaffenstaat, auf Nichtkernwaffenstaaten übergeht. Die Kontrolle über diese Waffe liegt in diesem Moment sowohl im physischen als auch im rechtlichen Sinne bei dem Piloten aus dem Nicht-Kernwaffenstaat.“
1968 kam es – maßgeblich auf Initiative der Atommächte USA, Großbritannien und UdSSR – zum Abschluss des Atomwaffensperrvertrages (Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons, NPT), in dem es unter anderem heißt:
- Artikel I: „Jeder Kernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber an niemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben […].“
- Artikel II: „Jeder Nichtkernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen […].“
Allerdings hatten die USA zu keinem Zeitpunkt die Absicht, deswegen das bereits bestehende System der nuklearen Teilhabe in der NATO aufzugeben. Andererseits waren sie jedoch am NPT als Hebel interessiert, um die Weiterverbreitung von Kernwaffen in immer weitere Staaten zu unterbinden. Den Widerspruch aufgelöst hat Washington seinerzeit durch einen diplomatischen Taschenspielertrick – eine einseitige Interpretation des NPT in dem Sinne, dass die nukleare Teilhabe nicht gegen dessen Verpflichtungen verstoße. Dies haben die USA damals nicht öffentlich gemacht, wohl aber im Zuge der NPT-Verhandlungen einigen anderen Staaten zur Kenntnis gegeben. Darunter der Sowjetunion. Die stand vor der Wahl, die Kröte zu schlucken oder den NPT scheitern zu lassen.
Gleichwohl hat Moskau später bei verschiedenen Gelegenheiten klar gemacht, dass die nukleare Teilhabe eine Verletzung der Artikel I und II NPT darstellt. Eine Position, die Russland bis zur jüngsten Entwicklung beibehalten hat und die nun – nicht mehr gilt. Putins neues Narrativ lautet im Gegenteil: Die Entscheidung zur Stationierung sei „nichts Ungewöhnliches, denn die Vereinigten Staaten machen das schon seit Jahrzehnten. Sie haben ihre taktischen Atomwaffen seit Langem auf dem Territorium ihrer Verbündeten, der NATO-Länder und in Europa stationiert“. Russland und Belarus „werden das Gleiche tun, ohne unsere internationalen Verpflichtungen zur Nichtverbreitung von Atomwaffen zu verletzen“.
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Zurück zum Warum der jetzigen russischen Stationierung.
Der Vorgang ist zunächst einmal ein Signal an Washington: Was Ihr Euch seit Jahrzehnten herausnehmt, verwehren wir uns ab sofort auch nicht mehr. Und wichtiger noch: Im nuklearen Bereich sind wir allemal in der Lage, Euch Paroli zu bieten.
Doch zugleich sind die jetzigen Maßnahmen kein isolierter Schritt, sondern Teil einer durchchoreographierten Strategie, die auf „schrittweise, graduelle […] Eskalation“ ziele, wie es in einem Kommentar des russischen Staatssenders RT DE ausgedrückt und erläutert wurde: „Im Rahmen dieser Strategie hat Moskau seit Februar eine Reihe von Schritten unternommen. Zuerst verkündete Wladimir Putin die Aussetzung der Teilnahme Russlands an dem Vertrag über strategische Offensivwaffen. Danach wurden am 9. März fünf ‚Kinschal‘-Raketen auf die Ukraine abgefeuert. Eine der Raketen traf ein Gebäude mit hochrangigen NATO-Beratern in der Nähe von Kiew und signalisierte damit dem Westen, dass der Kreml westliche Entscheidungszentren in der Ukraine angreifen werde. […] Schließlich versank am 14. März in Anwesenheit russischer Piloten eine US-amerikanische Reaper-Drohne im Schwarzen Meer […]. Inzwischen stationiert Russland seine Atomwaffen in Belarus und bringt sie näher an die europäischen Hauptstädte heran.“ Sollten trotz alledem „die europäischen ‚Partner‘ das herrschende Regime in Kiew weiterhin mit Waffen versorgen und die Bedrohung der Russischen Föderation weiter verstärken“, werde Moskau „mit neuen erzieherischen Maßnahmen“ reagieren. Auch Nikolai Sokov, bis 1992 im sowjetischen, dann russischen Außenministerium in den bilateralen START-Prozess mit den USA involviert und seit 1996 unter anderem Experte am James Martin Center for Nonproliferation Studies in Monterey (Kalifornien) warnt: „Putin geht bewusst Schritt für Schritt vor. Mit jedem schickt er eine Botschaft auf die andere Seite: Ändert eure Entscheidungen.“
Nicht zuletzt konfrontiert Moskau die NATO – nach der bereits vor längerem vollzogenen Verlegung von Atomsprengköpfen in die Exklave von Kaliningrad – nun in einer weiteren potenziellen Frontregion eines möglichen direkten militärischen Konflikts zwischen beiden Seiten mit dem Risiko eines frühzeitigen Atomwaffeneinsatzes nach Ausbruch eines solchen Konflikts. Schon während des ersten Kalten Krieges, als zeitweise tausende von US-Atomwaffen in der BRD und eine unbekannte Anzahl sowjetischer in der DDR stationiert waren, haben sich Experten mit dem use them or loose them-Problem befasst: Je frontnäher Atomwaffen stationiert sind, desto eher sieht sich der Besitzer bei schnellen, tiefen Vorstößen des Gegners vor die Alternative gestellt, diese Waffen entweder einzusetzen oder sie an, respektive durch den Gegner zu verlieren. Angesichts der überragenden konventionellen Bündnisüberlegenheit der NATO gegenüber Russland, die bereits vor dem Ukraine-Krieg bestand (siehe ausführlich Das Blättchen 15/2022) und die durch die russischen Verluste in diesem Krieg zusätzlich verstärkt wird, ist dem jetzigen Schritt also doch nicht jegliche militärische Logik abzusprechen. Dass sich damit allerdings das Atomkriegsrisiko in Europa weiter erhöht, liegt auf der Hand.
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Nachbemerkungen:
Bei seiner Erklärung am 25. März hat Putin zugleich hervorgehoben, dass die jetzigen Maßnahmen vor allem auch auf wiederholtes, nachdrückliches Bitten des weißrussischen Präsidenten Lukaschenko hin erfolgen.
Da kann man nur hoffen, dass Washington gegenüber dem schon länger anhaltenden vergleichbaren polnischen Drängen – unter anderem seitens des Präsidenten Andrzej Duda –US-Atomwaffen (etwa aus Büchel in der Eifel oder direkt aus den USA) nach Polen zu verlegen, weiterhin taub bleibt.
Inzwischen soll Polen – kursierenden Gerüchten zufolge – angeboten haben, sich zunächst auch ohne Stationierung von Atomwaffen im eigenen Lande in die nukleare Teilhabe einzugliedern. Wie das gehen sollte? Na zum Beispiel, indem polnische F-35-Kampfflugzeuge, die ab 2026 verfügbar sein sollen, den neuen B61-12-Atombomben der USA (zu dieser Waffe siehe Das Blättchen 17/2011) in Büchel attachiert werden. Als Ersatzträgersystem für die jetzigen Methusalem-Tornados der Bundesluftwaffe. Denn deutsche F-35 werden ja erst deutlich später nach Büchel kommen …
Wirklich verwunderlich im Zusammenhang mit Putins Erklärung vom 25. März ist allerdings folgender Sachverhalt. Während des Besuches des chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Moskau (20. bis 22. März 2023) gab es eine bilaterale Erklärung am 21. März, in der es unter anderem hieß: „Alle Nuklearmächte sollten Kernwaffen nicht außerhalb der Grenzen des nationalen Territoriums stationieren, und alle im Ausland stationierten Kernwaffen müssen abgezogen werden.“
Entweder betrachtet der Kreml – womöglich aufgrund des zwischen beiden Ländern seit 1999 bestehenden Föderationsvertrages – Belarus schon nicht mehr als Ausland oder Putin hätte nicht einmal eine Woche gebraucht, um diese nicht gänzlich unwichtige gemeinsame russisch-chinesische Position in Makulatur zu verwandeln. Das allerdings würfe die Frage auf, wie viele Potemkinsche Dörfer sich vielleicht noch im russisch-chinesischen Verhältnis verbergen mögen …
Schlagwörter: Atomwaffen, Atomwaffensperrvertrag, Belarus, NATO, NPT, Nukleare Teilhabe, Russland, Sarcasticus