26. Jahrgang | Nummer 7 | 27. März 2023

Bei Existenzgefährdung – Atomkrieg

von Wolfgang Schwarz

Wir werden nicht anders können.

 

Thomas Müller,

Chef des Rüstungsunternehmens Hensoldt,

auf die Frage, ob eine Atommacht wie Russland
überhaupt in die Knie zu zwingen sei

 

 

Russland wird die Menschheit nur zerstören,

wenn Russland selbst an den Rand der Zerstörung gebracht wird.

 

Alexander Dugin

 

Präsident Wladimir Putins Rede an die Nation am 21. Februar 2023 enthielt zwei grundlegende sicherheitspolitische Botschaften an den Westen. Die eine betraf den noch bis 2026 laufenden New START-Vertrag mit den USA zur Reduzierung der strategischen Offensivwaffen. Russland hat seine Mitgliedschaft mit sofortiger Wirkung ausgesetzt, was von hiesigen Politikern und nahezu unisono von den Medien umgehend aufgegriffen und teils heftig kritisiert worden ist – siehe dazu ausführlicher Teil I dieses Beitrages in Das Blättchen 6/2023.

Die andere Botschaft hingegen ist nicht nur hierzulande komplett ignoriert worden, obwohl sie womöglich noch gravierender war. Vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges und der systematischen Ausweitung der militärischen Unterstützung der USA und weiterer, vor allem NATO-Staaten für Kiew fasste Putin die russische Sicht auf die Zielstellungen des Westens in diesem Krieg folgendermaßen zusammen: „Der Westen benutzt die Ukraine als Rammbock gegen Russland und als Testgelände. […] Die westlichen Eliten machen keinen Hehl aus ihrem Ziel, das, ich zitiere, ‚die strategische Niederlage Russlands‘ ist. Was bedeutet das für uns? Es bedeutet, dass sie planen, uns ein für alle Mal zu erledigen […].“ Infolgedessen, so Putin weiter, „werden [wir] entsprechend reagieren, weil dies eine existenzielle Bedrohung für unser Land [Hervorhebung – W.S.] darstellt“. Im historischen Rückblick vermeinte Putin gar, eine entsprechende Kontinuität seit Ende des Kalten Krieges auszumachen: „In den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat der Westen unablässig versucht, […] Russland als den größten überlebenden Teil der historischen Ausdehnung unseres Staates zu beseitigen.“

*

Im Ukraine-Krieg ist Russland mit seinem Überfall auf das Nachbarland am 24. Februar 2022 der Aggressor, doch – in den Augen der meisten westlichen Beobachter – ein bisher alles in allem unerwartet wenig erfolgreicher. Der dilettantisch ins Szene gesetzte Marsch auf Kiew scheiterte komplett, und nach anfänglichen territorialen Eroberungen im Osten und im Süden der Ukraine ist ein Teil davon bereits wieder verlorengegangen. Die Kampfhandlungen haben sich längst in einem zermürbenden Abnutzungskrieg festgefressen, der auf ukrainischer Seite allein mit hinreichenden westlichen Waffenlieferungen und weiteren mindestens gefechtsentscheidenden Hilfestellungen fortgesetzt werden kann. General a. D. Harald Kujat, früherer Generalinspekteur der Bundeswehr, resümierte dazu dieser Tage im schweizerischen Online-Magazin Zeitgeschehen im Fokus: „Die Staaten, die man allgemein als den Westen bezeichnet, also in erster Linie die Nato-Mitgliedstaaten, stehen weitgehend geschlossen auf der Seite der angegriffenen Ukraine. Und zwar in allen drei Dimensionen des Krieges: In der militärischen Auseinandersetzung durch die Lieferung von Waffen und Ausrüstung sowie die Ausbildung ukrainischer Soldaten, im Wirtschaftskrieg durch Sanktionen gegen Russland und finanzielle Zuwendungen an die Ukraine, im Informationskrieg durch eine überwiegend einseitige Berichterstattung und zum Teil auch durch gezielte Desinformation. Mit zunehmender Dauer des Krieges wird die Abgrenzung zwischen völkerrechtskonformer Unterstützung im Einklang mit Artikel 51 der Uno-Charta, der indirekten Beteiligung an Kriegshandlungen und direkter Beteiligung immer schwieriger. Insbesondere dann, wenn ein Staat Aufklärungs- und Zielinformationen bereitstellt, die unmittelbar operativen Zwecken dienen und entscheidend zur Durchsetzung strategischer Ziele beitragen.“ Kein Zweifel besteht für den Ex-General offenbar über das strategische Ziel speziell der USA in diesem Krieg, nämlich „Russland, den zweiten geopolitischen Rivalen, politisch, wirtschaftlich und militärisch so weit zu schwächen, dass sie sich auf die Auseinandersetzung mit China konzentrieren können“.

Indizien dafür, die auch Moskau nicht verborgen geblieben sein dürften, sind seit Ausbruch des Krieges von amerikanischer Seite hinreichend geliefert worden:

  • Bereits am 26. März 2022 hatte US-Präsident Biden während eines Staatsbesuches in Polen bezüglich Putin gefordert: „Um Gottes Willen, dieser Mann darf nicht an der Macht bleiben“. Das war nicht nur vom US-Magazin Newsweek als Aufforderung zum Regimewechsel verstanden worden. (Zwar hat das Weiße Haus dies anschließend ebenso dementiert wie Biden selbst, doch muss in Krisen- und Kriegszeiten leider davon ausgegangen werden, dass sich jene Interpretationen besonders nachhaltig einprägen, die den eigenen Worst Case-Annahmen am ehesten entsprechen. Zumal spätestens seit den Einlassungen von Angela Merkel und François Hollande zum Minsk-Prozess Ende vergangenen Jahres russischerseits gilt: „Wir haben kein Vertrauen mehr in Sie und können Ihren Versprechungen keinen Glauben mehr schenken“, so Wassili Nebensja, Russlands Vertreter im UN-Sicherheitsrat, im Februar 2023 an die dort versammelten „ehemaligen westlichen Partner“.)
  • Im April 2022 hatte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin nach einem Besuch in Kiew erklärt: „Wir wollen Russland in dem Ausmaß geschwächt sehen, dass es die Art von Dingen, die es mit dem Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr machen kann.“ Das darf durchaus als Bestreben zur dauerhaften militärischen Deklassierung Russlands im Vergleich zu den USA verstanden werden, denn deren Interventionsbereitschaft und -fähigkeit ist in den vergangenen 30 Jahren so oft unter Beweis gestellt worden, dass Zweifel daran unangemessen wären.
  • Erst im Februar 2023 hatte Victoria Nuland, under secretary of state for political affairs im US-Außenministerium, mit Blick auf die Krim laut Handelsblatt geäußert: „[…] die Ukraine wird nicht sicher sein, wenn die Krim nicht zumindest entmilitarisiert ist“, womit unter anderem die Beseitigung des Hauptstützpunktes der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol ins Visier genommen wurde. Und zu russischen Militäreinrichtungen auf der Krim generell erklärte sie: „Das sind legitime Ziele. Die Ukraine greift sie an, und wir unterstützen sie dabei.“

Darüber hinaus sind in den USA allerdings noch sehr viel weiterreichende Überlegung und Szenarios im Schwange. Da wird für den Fall einer Kriegsniederlage Moskaus von einer „Auflösung der Russischen Föderation, wie sie heute bekannt ist“ (Jamestown Foundation), ausgegangen und darüber debattiert, wie eine solche Entwicklung im Interesse der USA zu steuern sei. Am 14. Februar 2023 hielten die Jamestown Foundation und das Hudson Institute, beide in Washington ansässig, ein gemeinsames Symposium ab – Thema: „Vorbereitungen für die Auflösung der Russischen Föderation“. Bereits zuvor waren dazu von der Jamestown Foundation Vorstellungen über eine „vollständige Dekolonisierung und Aufteilung der Russischen Föderation entlang ethnisch-religiöser Linien“ ventiliert worden. „In gewisser Weise“, so Sergey Sukhankin, einer der Autoren, „ist dieses Szenario vergleichbar mit dem 1944 vorgeschlagenen Nachkriegsprogramm für Deutschland, besser bekannt als Morgenthau-Plan*.“ Diesen Ansatz hat Janusz Bugajski, Senior Fellow an der Jamestown Foundation, um die Forderung ergänzt, dass die „Planung für die Einrichtung eines internationalen Koordinierungsausschusses, der die Auflösung Russlands […] zu verwalten hätte, […] jetzt beginnen sollte“.

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Vor diesem Hintergrund erschließt sich die sicherheitspolitische Brisanz von Putins Äußerung, Ziel des Westens sei es, „uns ein für alle Mal zu erledigen“, wenn man die geltende russische Militärdoktrin (bestätigt durch den Erlass Nr. Pr-2976 des russischen Präsidenten vom 25.12.2014) und die „Grundlagen der staatlichen Politik der Russischen Föderation auf dem Gebiet der nuklearen Abschreckung“ (bestätigt durch den Erlass Nr. 355 des russischen Präsidenten vom 02.06.2020) in die Betrachtung einbezieht. Denn darin werden die Bedingungen für den Einsatz von Atomwaffen folgendermaßen definiert: „Die Russische Föderation behält sich das Recht vor, Nuklearwaffen anzuwenden als Antwort auf den Einsatz der Nuklearwaffen und/oder anderer Arten von Massenvernichtungsmitteln gegen sie und/oder ihre Verbündeten, sowie im Fall einer Aggression gegen die Russische Föderation mit Einsatz konventioneller Waffen, wenn die staatliche Existenz selbst bedroht wurde [Hervorhebung – W.S.].“ (Wortlaut Grundlagen- Erlass)

Hat Putin in seiner Rede an die Nation also dem Westen durch die Blume zu verstehen geben wollen, dass er die letztgenannte Bedingung für einen russischen Ersteinsatz von Kernwaffen bereits als erfüllt ansieht? Und bedeutet dies, das jederzeit damit gerechnet werden muss?

Bei der Beantwortung dieser Fragen begäbe man sich auf höchst spekulatives Terrain. Sie deswegen jedoch ganz und gar zu ignorieren, wie Politik und Mainstreammedien das hierzulande nach der Putin-Rede getan haben, könnte sich als sträflicher Fehler erweisen. Denn wer weiß schon, ob der US-Experte John Mearsheimer mit seiner Prognose nicht Recht behalten wird: „Sollten die Ukrainer das Blatt wenden, werden die Russen zu Atomwaffen greifen.“

Und sollte sich der Ukraine-Krieg doch noch zum direkten militärischen Konflikt zwischen Russland und der NATO ausweiten, würden sie dies wahrscheinlich erst recht tun. Konventionell jedenfalls wäre Moskau chancenlos (siehe ausführlich Blättchen 15/2022). Dazu hätte dann auch der bisherige Verlauf des Ukraine-Krieges bereits das Seine beigetragen. In einem nicht klassifizierten Bericht der US-Geheimdienste („Annual Threat Assessment of the U. S. Intelligence Community, 6. Februar 2023) wurde dazu gerade festgestellt: „Schwere Verluste bei den [russischen – W.S.] Bodentruppen und der massive Einsatz von präzisionsgelenkter Munition während des Konflikts haben Moskaus konventionelle Fähigkeiten am Boden und in der Luft geschwächt und seine Abhängigkeit von Atomwaffen erhöht.“

Derzeit scheint aber zumindest eines gewiss: Mit immer weiteren Waffenlieferungen des Westens an Kiew lassen sich diese Dilemmata nicht nur nicht auflösen, sondern wird auch der Worst Case nicht unwahrscheinlicher. Oder um es mit den Worten eines der profundesten Kenner der Geschichte der US-Atomrüstung und ihrer teils irren Kapitel (siehe Blättchen, 6/2020) zu sagen: „Ich habe nicht daran geglaubt – und die meisten Leute haben nicht daran geglaubt –, dass Putin wirklich in die Ukraine einmarschieren würde. Es schien verrückt. Man kann also auch sagen, er würde niemals Atomwaffen in Richtung Westen abschießen, weil das verrückt ist, aber vielleicht tut er es doch.“

 

* – Diesem, nach seinen Veranlasser – dem damaligen US-Finanzminister Henry Morgenthau – benannten Plan zufolge sollte Deutschland bekanntlich (unter Abgabe großer Teilterritorien an die UdSSR, Polen und Frankreich) in einen Süd- und einen Nordstaat (dieser allerdings ohne direkten Zugang zur Nordsee) geteilt und insgesamt zum Agrarland zurückgebaut werden; um letzteres abzusichern, sollten das zu demontierende Ruhrgebiet sowie alle daran anschließenden westdeutschen Gebiete bis hinauf zur Nordsee sowie einschließlich Schleswig-Holsteins als Internationale Zone dauerhaft unter UN-Verwaltung gestellt werden.