Der Januar vor hundert Jahren beginnt mit einem weltpolitischen Paukenschlag. Gegen die Stimme Großbritanniens stellen die West-Alliierten einen Rückstand Deutschlands bei den Reparationsleistungen fest. Wie für einen solchen Fall angedroht, marschieren französische und belgische Truppen am 11. Januar 1923 im Ruhrgebiet ein, um die Lieferungen zu erzwingen. Reichskanzler Wilhelm Cuno, Mann des deutschen Großkapitals, ruft zum „passiven Widerstand“ auf; die ausfallenden Lohnzahlungen übernimmt der Staat und bringt damit die Gelddruckereien noch einmal so richtig auf Touren.
Die Produktionseinschränkungen des Ersten Weltkriegs und die in Gütern zu entrichtenden Reparationsleistungen hatten zu einem Angebotsmangel geführt. Die Unternehmen konnten massive Preissteigerungen durchsetzen, die eine erhöhte Geldmenge, Papiergeld natürlich, erforderlich gemacht hatten. Auch die Staatsausgaben wurden mittels inflationstreibender Anleihen finanziert. Die Geldentwertung befand sich auf dem Vormarsch. Hugo Stinnes, der politisch wohl einflussreichste Industrielle (laut TIMES-Magazin „der neue Kaiser von Deutschland“) erklärte noch im November 1922, er habe und werde jeden Versuch zur Stabilisierung der Mark bekämpfen. Die mit der Inflation in Gang gesetzte gigantische Umverteilungsmaschine machte ihn zum größten Inflationsgewinner und reichsten Mann des Reichs. Er hatte ein riesiges Unternehmensimperium zusammengeramscht und bediente die Kredite mit entwertetem Geld. Nun, im Januar 1923, brechen mit der staatlichen Finanzierung des passiven Widerstands alle Dämme. Kostet das Einzelheft der Weltbühne in diesem Monat schon 150 Mark, sind es im Juni bereits 1500 und im Oktober, dem letzten Monat vor Einführung der Rentenmark und dem Abbruch der Inflationsspirale, werden 20 Millionen Mark pro Heft verlangt. Die prozentuale Preissteigerung im Vergleich zu den 5 Mark, die das Heft Anfang 1922 noch kostete, mag man gar nicht ausrechnen. Um diese Erhöhung plausibel zu machen, verweist Herausgeber Siegfried Jacobsohn auf die weit stärkere Preisentwicklung einer Straßenbahnfahrt. Fast regelmäßig muss er um Nachzahlungen bitten, weil die Kosten den Einnahmen schon Stunden später erneut enteilen.
Aber wer eine Weltbühne kaufen kann, ist noch ziemlich komfortabel dran. Schon die Jahre zuvor waren die Inflationsraten hoch, aber zunächst mit Produktionssteigerungen und sogar einem Rückgang der Arbeitslosigkeit verbunden gewesen. Nun aber lief die Wirtschaft völlig aus dem Ruder. Stieg die Industrieproduktion nach dem Krieg bis 1922 auf über 70 Prozent des Vorkriegsstands, so sackt sie nun auf 47 Prozent ab. Die Arbeitslosigkeit explodiert geradezu, die Zahl der Arbeitslosen beträgt nach offiziellen Angaben im Dezember des Krisenjahrs 1,5 Millionen. Die damalige Arbeitslosenrate von übers Jahr gerechnet 10 Prozent scheint moderat zu sein, ist aber in manchen Monaten und den Städten mehr als doppelt so hoch. Um die Lohnentwicklung zu drosseln, werden die mühsam erkämpfte Tarifhoheit abgeschafft und der Achtstundentag ausgesetzt. Die Reallöhne sinken auf 40 Prozent des Vorkriegsniveaus. Während auf der einen Seite einem luxuriösen Leben gefrönt wird, herrscht auf der anderen Seite existenzielle Armut. Verhungern, Erfrieren und Selbstmord sind an der Tagesordnung. Wer kennt nicht die Darstellungen eines Georg Grosz aus dieser Zeit, auf denen zum Skelett abgemagerte Proletarier sehnsüchtig vor prall gefüllten Schaufenstern stehen, während Kriegs- und Inflationsgewinnler sich bei Champagner und dicken Zigarren mit Dirnen vergnügen. Die Devise lautet: Bloß schnell das gerade verdiente Geld ausgeben, es wird in der Zeit, die man vom Fabriktor zur Wohnung braucht, schon entwertet sein. Stefan Zweig erinnerte sich, „Berlin verwandelte sich in das Babel der Welt. Bars, Rummelplätze und Schnapsbuden schossen auf wie Pilze.“ Es seien „apokalyptische Monate“ gewesen, die einem „Hexensabbat“ geglichen hätten. Nichts, schreibt er, habe „das deutsche Volk so erbittert, so hasswütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation.“
Die sozialen Spannungen steigen ins Unerträgliche und verschiedene Bewegungen von extrem links bis extrem rechts erhalten wachsenden Zulauf. Die Hitlerpartei hält ihren ersten Parteitag ab. Die Ruhrbesetzung führt zu Sabotage und bewaffneten Aufständen mit vielen Toten. Im August wird die Cuno-Regierung durch eine Streikbewegung hinweggefegt; Gustav Stresemann wird neuer Kanzler. Die Entdeckung einer monarchistischen Verschwörung in Bayern beantwortet der Reichspräsident im September mit dem Verhängen des Ausnahmezustands. Es beginnt, was einmal der erste „Deutsche Oktober“ genannt werden wird.
Reaktionäre Kreise versuchen zu putschen und die linken Rheingebiete von Deutschland zu separieren. Im Herbst gründen sie eine „Rheinische Republik“ und eine „Autonome Pfalz“. In der Weltbühne berichtet Kurt Tucholsky später: „Lawinenartig wuchs inzwischen die separatistische Bewegung, proportional der Inflation. Das Rheinland stand damals geschlossen wie ein Mann zu dem, der besser zahlte. Die Beamten, die Großbanken, die Geistlichen warteten auf ihren Augenblick. Zu Frankreich hinüber wollte keiner, bei Preußen bleiben wenige. Was sie wollten und wozu sie damals auch ein Recht hatten, war Befreiung aus der Hölle der Inflation und Schaffung einer eignen Währung, einer eignen autonomen Republik.“ Stresemanns Regierung muss nach wenigen Wochen wieder zurücktreten, er selbst wird aber erneut mit der Regierungsbildung beauftragt. Wiederum scheitert er. Es wird die vierte Regierung innerhalb eines Jahres gebildet. Die anhaltende Wirtschaftsmisere und die politische Instabilität werden im Oktober mit der Verabschiedung eines Ermächtigungsgesetzes beantwortet. Nachdem in Sachsen und Thüringen Koalitionsregierungen unter Teilnahme von KPD-Ministern gebildet werden, rücken Truppen der Reichswehr in Sachsen und Thüringen ein und erklären die sächsische Regierung für abgesetzt. Die Regierung in Thüringen löst sich von selbst auf.
Einige führende Kommunisten in Deutschland und der Kommunistischen Internationale in Moskau betrachten die ökonomische und politische Situation als eine revolutionäre Krise. Endlich könne verwirklicht werden, worauf der inzwischen schwer erkrankte und zurückgezogen lebende Lenin einst gehofft und hingearbeitet hatte: die sozialistische deutsche Revolution im Gefolge der russischen Oktoberrevolution. Was die einen erhoffen, fürchten die anderen. John M. Keynes hatte in seiner Schrift „Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages“ auf die Gefahr hingewiesen, die dem Westen aus einer Verbindung zwischen Sowjetrussland und einem bolschewistischen Deutschland drohe. „Ein Sieg des Spartakismus in Deutschland könnte sehr wohl die Einleitung der Weltrevolution sein.“ Linksradikalen Kräften schien die Zeit nunmehr reif zu sein und am 23. Oktober beginnt der „Hamburger Aufstand“, der – die Frage ist nicht gänzlich geklärt – entweder das Signal für einen allgemeinen Aufstand oder eine Art Versuchsballon sein sollte, vielleicht aber auch aufgrund von Missverständnissen ausgelöst wurde. Der Aufstand wird nach wenigen Stunden niedergeschlagen. Keine drei Wochen später putscht Adolf Hitler und verkündet im Münchener Bürgerbräukeller die „nationale Revolution“. Er erklärt die bayerische Regierung für abgesetzt und proklamiert den „Marsch auf Berlin“. Anders als sein Vorbild Mussolini mit seinem „Marsch auf Rom“ ein Jahr zuvor scheitert er jedoch – freilich nur vorläufig. Das Reich wird in den militärischen Ausnahmezustand versetzt; General Hans von Seeckt, Chef der Heeresleitung, übernimmt die vollziehende Gewalt.
Die ganze Situation schreit schon lange nach einer wirtschaftspolitischen Wende. Hugo Stinnes, zunächst Gegner einer „Erfüllungspolitik“, plädiert ab Sommer für die Erfüllung der Reparationsauflagen und den Abbruch des passiven Widerstands. Er sekundierte Stresemann, der später meinte, dass der Widerstand „uns nur weitere Bolschewisierung gebracht hätte“. Weil die Verhältnisse völlig zerrüttet sind und unter diesen Bedingungen auch die Verwertung des Großkapitals zu leiden beginnt, soll die Inflation nun bekämpft werden. Im November wird eine Währungsreform durchgesetzt. Mit der Rentenmark wird der Wahnsinn der Hyperinflation beendet, mit einem Schlag ist der Staat seine Schulden los und riesige Geldvermögen haben sich zu Nichts aufgelöst. Die Siegermächte des Weltkriegs ernennen ein Gremium unter Leitung des US-Amerikaners Charles Dawes; es soll Deutschlands Zahlungsfähigkeit untersuchen und Vorschläge zur Lösung der Reparationsfrage ausarbeiten. Mit Beendigung der Inflation und der Annahme des Dawes-Plans beginnt sich die deutsche Wirtschaft ab 1924 zu erholen. Es kommt zu den kurzen „Goldenen Zwanziger Jahren“, den „Roaring Twenties“, eine Zeit der „relativen Stabilisierung“ auch des internationalen Kapitalismus. Angesichts der Niederlagen der Lohnabhängigen und der Arbeiterbewegung zieht Morus, mit bürgerlichem Namen Richard Lewinsohn, in seiner Jahresbilanz in der Weltbühne das Fazit: „Das Jahr 1923 wird in die Geschichte der deutschen Wirtschaft mit goldenen Lettern eingeschrieben sein […] Bei den Deutschen dauert es immer ein bisschen länger. Aber allmählich werden auch sie schon merken, wohin die Reise geht.“ Nur sechs Jahre später bricht die Weltwirtschaftskrise aus. Die Arbeitslosenzahl steigt auf über sechs Millionen. 1933 wird Hitler zum Reichskanzler ernannt.
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