Professor Sönke Neitzel, seines Zeichens zuständig für militaristische Betrachtungen, meinte am 6. Dezember 2022 bei Markus Lanz, die von Kanzler Scholz verkündete „Zeitenwende“ sei in Gefahr. Das wie ein Zivilministerium geführte Vereidigungsressort sowie die verbreitete Vorstellung unter den Deutschen, man werde nie wieder in den Krieg ziehen müssen, würden den Anforderungen dieser Wendung im Wege stehen. Es gäbe keine „Gesamtstrategie“ der EU und die Munition sei alle. Dagegen gelte: „Wir brauchen eine kriegsfähige Bundeswehr.“ In welche Kriege er ziehen möchte, nach den Erfahrungen von 1918 und 1945, sagte Neitzel nicht.
Mit „Zeitenwende“ beschrieb der Bundeskanzler am 27. Februar 2022 in einer Regierungserklärung die Zäsur, die der russische Angriff auf die Ukraine für Deutschland bedeute. Was dabei apokalyptisch als Drohung artikuliert wurde, ist eine rasante Anpassung an die Konfrontationsstrategie der USA und der NATO gegenüber Russland (und China). Mit einem Federstrich wurden langfristig bewährte Prinzipien der deutschen Außenpolitik über Bord geworfen, die mit Willy Brandt, dem Begriff der „Entspannung“ und mit fortgeltenden Grundsätzen deutscher Außenpolitik unter Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Schröder und Merkel verbunden waren. Petra Erler vermerkte, die EU habe von strategischer Autonomie und globalen Ambitionen geträumt; das sei vorbei. Und sie fuhr fort: Wir wären aber nicht in Deutschland, „wenn diese radikale Wende nicht verbunden wäre mit Selbstbezichtigung und tiefster Zerknirschung darüber, wie man bisher nur so eigensüchtig, naiv und blind sein konnte“, als wäre die deutsche Außenpolitik in den vergangenen 20 Jahren „von Trotteln gemacht worden“. Die große Angst gehe um, „dass der eine Hegemon durch einen anderen abgelöst werden könnte“, und der könnte sich dann genauso oder noch schlimmer verhalten, als man selber in den vergangenen Jahrhunderten.
Die Amtswalter der deutschen Sprache haben „Zeitenwende“ nun zum „Wort des Jahres“ 2022 gekürt. Im Jahre 2021 war das „Wellenbrecher“ – gemeint waren aber nicht Anlagen zum Küstenschutz in Zeiten steigender Meeresspiegel, sondern staatliche Maßnahmen zur Eindämmung von „Corona“. Erstmals wurde ein solches Wort 1971 gekürt. Das war damals „aufmüpfig“. Insofern haben wir auch hier eine Fallhöhe von der Gesellschaftskritik zur Staatsbeflissenheit.
Wie bei einer deutschen weltpolitischen Bekundung nicht anders zu erwarten, hat der Kanzler seine „Zeitenwende“ nun globalisiert. In der außenpolitischen US-Zeitschrift Foreign Affairs erschien am 5. Dezember 2022 ein Text mit seinem Namen unter dem Titel: „Die globale Zeitenwende“. Es ist jetzt nicht mehr einfach eine Zeitenwende, also eine ohne Attribut, sondern in der deutschsprachigen Fassung „die“ Zeitenwende, ebenso auf Englisch: „The Global Zeitenwende“. Der Terminus wurde ins Englische übernommen, wie früher „The Kaiser“ oder „Blitzkrieg“. Und Scholz verkündet seine Botschaft nun quasi urbi et orbi.
Bereits im September hatte der Kanzler vor der UNO-Vollversammlung zu Russlands Ukraine-Krieg gesagt: „Das ist blanker Imperialismus! Die Rückkehr des Imperialismus ist nicht nur ein Desaster für Europa. Darin liegt ein Desaster auch für unsere globale Friedensordnung, die die Antithese ist zu Imperialismus und Neo-Kolonialismus.“ In der Zeitschrift Jacobin hieß es dazu kürzlich: „Neuerdings werfen sich Großmächte gegenseitig vor, imperialistisch zu sein. Ein analytischer Begriff wird zur moralischen Empörungsfloskel degradiert.“ Genau in diesem Sinne taucht der „Imperialismus“ auch bei Scholz auf: Imperialistisch sind immer die anderen, vor allem der Russe, nicht aber die USA oder der Westen.
Scholzens Beschreibung der Weltlage stellt eine Mischung dar aus Halbwahrheiten und Lügen. Zu ersteren gehört die zutreffende Feststellung, in den drei Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Krieges sei durch wachsenden internationalen Handel, „weltumspannende Wertschöpfungs- und Produktionsketten sowie einen nie dagewesenen Austausch von Menschen und Wissen über Grenzen hinweg“ erreicht worden, dass „über eine Milliarde Bürgerinnen und Bürger den Weg aus der Armut gefunden“ haben. Dabei unterschlägt er allerdings, dass 800 Millionen davon Chinesen sind, die von der hierzulande übel beleumdeten Kommunistischen Partei regiert werden. Dann kommt bereits die direkte Geschichtsklitterung. Scholz verweist auf Willy Brandts Worte, nun wachse zusammen, was zusammengehört – bezieht dies jedoch kurzschlüssig auch auf den Beitritt östlicher Länder zu NATO und EU.
Dann hätte sich der „Schwerpunkt unserer Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ zu „anderen vordringlichen Bedrohungen“ verschoben. Zuvörderst nennt Scholz „die Balkankriege“. Dass es sich hier um einen Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien handelte, verschweigt der Kanzler. Es folgt der Verweis auf Russlands Krieg in Georgien 2008. Dass einige Monate zuvor die NATO auf ihrem Gipfeltreffen in Bukarest die Aufnahme Georgiens und der Ukraine beschlossen und in ihrem Kommuniqué verankert hatte, wird ebenso ausgeblendet wie die Tatsache, dass es dann im Sommer 2008 die georgische Regierung war, die jenen Krieg gegen die abtrünnige Provinz Südossetien eröffnete, weil sie sich offenbar von den USA dazu ermuntert fühlte. Südossetien wurde dann von Russland unterstützt.
Scholz behauptet, Putin habe zuvor – auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 – „eine aggressive Rede“ gehalten. Tatsächlich hatte Horst Teltschik, früher Sicherheitsberater von Kanzler Kohl und 2007 Chef jener Konferenz, Putin – eben weil in der NATO die nächste Osterweiterung diskutiert wurde – ermuntert, in München die russischen Sicherheitsbedenken offen zu erklären. Die nächste Lüge in Scholzens Darstellung ist, „der Kreml“ habe die Rüstungskontrollverträge untergraben. Kein Hinweis, dass es die USA waren, die den Vertrag zur Begrenzung der Raketenabwehrsysteme und das Open Skies-Agreement aufgekündigt haben und für das Scheitern des Vertrages zur Beseitigung landgestützter nuklearer Mittelstrechenwaffen mindestens ebenso verantwortlich waren wie Moskau.
Bei Scholzfolgt des Weiteren ein Verweis auf den „brutalen militärischen Einsatz zugunsten des Assad-Regimes in Syrien“. Dass der im Einklang mit dem Völkerrecht auf Bitten der syrischen Regierung erfolgte, während die westliche, auf Regime Change zielende Politik dort völkerrechtswidrig war, wird ebenfalls verschwiegen.
Zur Vorgeschichte des Ukraine-Krieges wird zutreffend das Minsk-Abkommen (2015) erwähnt, zugleich jedoch behauptet, Russland habe dessen Umsetzung unmöglich gemacht. Tatsächlich hatte die Kiewer Regierung sich unablässig geweigert, die Vereinbarungen in Bezug auf eine Autonomie in Donezk und Luhansk zu erfüllen und das Feuer gegen die Bevölkerung dieser Gebiete tatsächlich einzustellen.
Insofern stellt sich schon die Frage, ob eine Außenpolitik am Ende erfolgreich sein kann, wenn sie von einer solchen Ansammlung falscher Lagedarstellungen und -einschätzungen ausgeht.
Der Kanzler-Artikel enthält sodann zwei bemerkenswerte Aussagen. (Ihre Umsetzung bedarf weiterer Beobachtung.) Die eine bezieht sich darauf, dass dieses Deutschland nun endlich auch eine neue militärische Rolle spielen soll. Es solle „einer der Hauptgaranten für die Sicherheit in Europa“ werden. Historisch stellt Scholz die jetzigen Bemühungen um deutsche Kriegsführungsfähigkeit dabei auf eine Stufe mit Adenauers Schaffung der Bundeswehr und dem NATO-Beitritt 1955. Sicherheit wird bei Scholz wieder ausschließlich militärisch und nicht politisch-diplomatisch verstanden, „Verantwortung“ meint ebenfalls nur Militär und Aufrüstung. In die deutschen Streitkräfte soll weiter investiert, die EU-Rüstungsindustrie soll ausgebaut, deutsche Truppen sollen verstärkt „an der NATO-Ostflanke“ stationiert und die ukrainischen Streitkräfte ausgebildet und ausgerüstet werden. Gleichwohl solle dies auch künftig „nicht zu einer direkten Konfrontation mit Russland führen“, jedoch „für glaubhafte Abschreckung“ Moskaus sorgen. Frühere Begrenzungen bei Rüstungsexporten werden abgeschafft. Deutschlands „neue Rolle“ erfordere dabei „eine neue strategische Kultur“. Was immer das bedeuten mag.
Der Text enthält darüber hinaus – wie nicht anders zu erwarten – blumige Bekenntnisse zur „transatlantischen Partnerschaft“, zur NATO und zur Politik Bidens. Gleichzeitig lehnt Scholz Einschätzungen ab, wonach ein neuer Kalter Krieg heraufziehen würde, „der die Vereinigten Staaten und China als Gegner in Stellung bringt“. Er beruft sich auf sein Agieren beim deutschen G7-Vorsitz 2022 und betont, „in einer multipolaren Welt“ müssten „Dialog und Kooperation […] auch außerhalb der demokratischen Komfortzone stattfinden“. Es gelte daher nicht zuletzt, „mit Ländern zusammenzuarbeiten, die demokratische Institutionen zwar selbst nicht angenommen haben“, aber dennoch „ein regelbasiertes System […] unterstützen“. Das ist zwar noch kein Konzept der friedlichen Koexistenz, aber immerhin kein eindeutiges Einschwenken auf den Konfrontationskurs der USA gegen China.
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