25. Jahrgang | Nummer 24 | 21. November 2022

Historische Parallelen

von Jan Opal, Gniezno

Den polnischen Unabhängigkeitstag, der auf den 11. November fällt, nutzte der Staatspräsident der Ukraine, um den Nachbarn in Polnisch eine Hymne tiefer Dankbarkeit zu übersenden. „Euer Land – unsere Schwester“, sagte Wolodymyr Selenskij betont emphatisch den Menschen in Polen. Tatsächlich zählt die entschiedene und vorbehaltlose Haltung Polens bei der Unterstützung des ukrainischen Verteidigungskrieges gegen die Putin-Aggression zu den wichtigen Gründen, die zu den von vielen zunächst gar nicht erwarteten Erfolgen der ukrainischen Seite gegen die drohende Invasion geführt haben. So nimmt es nicht Wunder, wenn Selenskij in seiner Feiertagsbotschaft vor allem auf die gemeinsamen Erfahrungen anspielt, die beide Länder mit der russischen Seite gemacht hätten. Tatsächlich würde kaum jemand in Polen behaupten, dass Moskau von ukrainischer Seite gewissermaßen provoziert worden sei, um schließlich in das Nachbarland einzufallen. Jetzt auf der Straße lauthals einen „Frieden mit Russland“ zu fordern, käme hierzulande niemandem in den Sinn. Hierin wenigstens ist sich der große politische Bogen von nationalkonservativ bis links einig. Und der verunglückte Raketeneinschlag im polnischen Grenzort Przewodów wird daran wenig ändern.

Dennoch ist eine gewisse Ermüdung auch hierzulande nicht zu übersehen, denn längst ist die heroische Anfangszeit mit der überschäumenden, spontanen Hilfsbereitschaft für die tapfer kämpfende und sich verteidigende Ukraine anderen, meistens gemischten Gefühlen und Einstellungen gewichen. Natürlich wünscht sich die große Mehrheit in Polen einen Frieden für die Ukraine, allerdings wird der immer zusammengedacht mit einer grundlegenden Bedingung – dem vollständigen Abzug der Invasoren. Da spielen tatsächlich ähnliche Erfahrungen hinein, die Polen und die Ukraine mit dem großen Nachbarn Russland gemacht haben oder jetzt machen.

Auf das Prinzip strikter territorialer Integrität hatte im Zweiten Weltkrieg die polnische Exilregierung in London gesetzt, die zu den treuesten Verbündeten der Westalliierten zählte. Stalins frühe Entscheidung, nach dem militärischen Sieg der gegen Hitler verbündeten Alliierten jene Gebiete fest in die Sowjetunion einzugliedern, die bereits 1939 und 1940 an der Westgrenze des Sowjetreiches im Bündnis mit Hitlerdeutschland faktisch annektiert worden waren, ließ Polen kaum noch einen Spielraum – die künftige Ostgrenze war gesetzt. Für London und Washington zählte in erster Linie das strategische Bündnis mit Moskau, um den gemeinsamen Gegner niederzuwerfen. Die Kröte, dem treuen Verbündeten Polen bezüglich aller Nachkriegsvorstellungen in den Rücken zu fallen, wurde schnell geschluckt. Die tragische Niederlage des Warschauer Aufstands vom Sommer 1944 besiegelte alle polnischen Träume, Vorkriegspolen in seinen damaligen Grenzen erhalten zu können.

Jetzt schlug die Stunde für Polens Kommunisten, die Stalin wenige Jahre zuvor noch unbarmherzig verfolgt hatte, die nun aber mit der polnischen Volksarmee an der Seite der Roten Armee auf Berlin zogen. Es gelang, im Westen einen – zuvor von allen Seiten kaum für möglich gehaltenen – handfesten Gebietsaustausch auf Kosten Deutschlands durchzusetzen. Die Oder-Neiße-Linie, die kürzestmögliche Grenze zwischen Deutschland und Polen überhaupt, erwies sich später als wahrer Glücksfall für die europäische Geschichte, ist heute einer der Grundpfeiler der nach Osten erweiterten Europäischen Union.

Putin will vollendete Tatsachen schaffen, hat mit der Annexion im September 2022 ein Gebiet im Osten und Süden der Ukraine abgezirkelt, das nun „für immer“ – wie es in Moskau großsprecherisch heißt – zu Russland gehören solle, überhaupt immer schon russisches Gebiet gewesen sei. Putin begreift den brutalen Eingriff als eine gerechtfertigte Korrektur falscher Grenzverläufe; eine Kraft, ihn von dieser Vorstellung abzubringen, ist in Russland nicht zu sehen. Für die Aussichten auf einen Friedensschluss mit Russland bedeutet das nichts Gutes. Eine Wiederholung der Westverschiebung Polens infolge des Zweiten Weltkriegs ist für die Ukraine ausgeschlossen, die guten Gründe sind leicht erklärbar. Es gibt allerdings einen kleinen Spielraum, der insbesondere Putin nicht passen wird.

Moskau würde sich – die Krim einmal ausgenommen – auf eine selbstständige, territorial nicht beschnittene Ukraine nur noch einlassen, wenn deren politisches und gesellschaftliches Abdriften nach Westen ausgeschlossen wäre. Das aber kann nach den Entwicklungen in diesem Jahr niemand mehr garantieren, es scheint sogar ausgeschlossen zu sein. Also bliebe nur die andere Seite. Putin bekäme zumindest einige Teile seines Happens, den er unbedingt und unter Einsatz fast aller militärischer Mittel für Russland beansprucht. Der Preis für ihn wäre allerdings ein sehr hoher: Polen musste damals notgedrungen im politischen Einflussbereich der Sowjetunion verbleiben, es hatte keine andere Chance. Die Ukraine aber hätte andere Karten als Polen damals, wäre in der Lage, selbst souverän zu entscheiden, wie weit und in welcher Form sie sich dem Westen anzuschließen gedenkt. Die Westbindung der Ukraine wäre dann unumkehrbare Tatsache. Putin wäre mit seiner Vorstellung gescheitert, dass es eine feste Grenze gäbe, an der Russland unter Einschluss der Ukraine und der Westen ihre Interessenssphären einvernehmlich trennten.