Wolfgang Kohlhaase, unvergleichlicher Aufschreiber – Am Sonntag, dem 2. Oktober 2022, waren Sie am späten Nachmittag in Neuhardenberg noch selbst zu erleben. Jutta Hoffmann las Ihre herrlich lakonische Erzählung „Begräbnis einer Gräfin“ und holte Sie hernach auf die Bühne. So war zu erfahren, dass Ihnen die Geschichte mit der Gräfin bei einem Streifzug über Usedom vor Jahrzehnten tatsächlich über den Weg gelaufen ist und dass die Idee zu einer anderen Erzählung – „Erfindung einer Sprache“ – jahrelang bei Ihnen lag, bevor Sie sie dann doch literarisch umgesetzt haben. (Die Erzählung war bereits 1980 im bb-Bändchen Nr. 482 enthalten und wurde 2020 in deutsch-russisch-weißrussischer Ko-Produktion vom ukrainisch-US-amerikanischen Regisseur Vadim Perelman unter dem Titel „Persischstunden“ verfilmt.)
Nach der Befragung in Neuhardenberg lasen Sie zur Freude Ihres Publikums selbst ebenfalls ein Stück – „Kohle und Kavallerie“.
Aber Schriftstellerei war nicht das Metier, das Sie zuerst berühmt gemacht hat. Das waren vielmehr die Filme, zu denen Sie die Drehbücher verfasst haben. Seit Anfang der 1950er Jahre in der DDR, nach 1990 dann im größeren Deutschland. Sie zählten, so Anke Westphal in der Berliner Zeitung, „zu den wenigen Künstlern, die auch nach dem Mauerfall von 1989 […] noch die verdiente Anerkennung erfuhren“.
Das Drehbuch, so definierten Sie einmal, sei das Notieren einer Geschichte zum Zwecke ihrer Verfilmung. Das war nun wirklich die Untertreibung des Jahrhunderts, wenn man allein an solche Streifen denkt wie „Solo Sunny“, „Ich war neunzehn“ oder „Sommer vorm Balkon“. Regisseure und Filmkenner setzten Ihr Können dem von Erich Kästner und Billy Wilder gleich. Dabei Botschaften zu transportieren war nicht Ihre leitende Intention. Die legten Sie in einem anderen Streifen, „Whisky mit Wodka“, dem Regisseur Tellek (Sylvester Groth) in den Mund, indem Sie ihn auf die Frage nach der Botschaft des Films, der in diesem Film gedreht wird, sagen ließen: „Die Botschaft gibt es vielleicht gar nicht. Man macht einen Film nämlich nicht, weil man Bescheid weiß, sondern um etwas herauszufinden. Der Film ist Vermutung. Es geht um immer neue Bilder für die Dinge, die sich immer wiederholen, die großen Phänomene: die Liebe, der Tod und das Wetter.“
Am 5. Oktober 2022 sind Sie, 91-jährig, verstorben, und Anke Westphal rief Ihnen nach: „Verloren haben wir nun alle – eine bedeutende gesamtdeutsche Stimme.“ Das war auch ganz in unserem Sinne gesprochen.
Blättchen-Leser, offenbar keine ganz unzahlreiche Spezies (Das Blättchen verzeichnete in den zurückliegenden zwölf Monaten über 1,37 Millionen Seitenaufrufe.) – Sollten Sie bei der Lektüre unseres Magazins schon jemals gelächelt oder gar hemmungslos gelacht haben, so hoffen wir inständig, die betreffenden Passagen hatten nichts mit lebenden Politikern oder Institutionen zu schaffen. Denn anderenfalls hätten wir es diesen gegenüber ja nicht nur am angemessen huldvollen Hofknicks fehlen lassen, sondern uns zugleich dem dringlichen Verdacht kremlfreundlicher Narrative, wenn nicht gar gezielter Desinformation ausgesetzt. Mit solchen Narrativen befasst sich bereits seit 2015 eine Task Force des Europäischen Auswärtigen Dienstes. Fünf zentrale derartige Muster wurden bisher identifiziert. Eines davon ist gekennzeichnet durch Verhohnepiepelung von Politikern oder Institutionen; dafür hat die Task Force einen eigenen Terminus technicus erfunden – Hahaganda.
Klingt reichlich dämlich?
Ist es womöglich auch.
Nichts desto trotz kann die Definition auf der offiziellen Website unserer Bundesregierung nachgelesen werden: „Das Konzept der Hahaganda ist […] eines der trügerischsten Instrumente der Desinformation. Dieses Narrativ basiert auf der Verhöhnung von Institutionen und Politikerinnen und Politikern, indem man sich über zugehörige Themen oder Personen lustig macht beziehungsweise diese ins Lächerliche zieht. Ziel ist es, die Glaubwürdigkeit und den Ruf der Institution und Person zu untergraben.“
Und was ist mit Satire, fragen Sie jetzt?
Satire, werte Blättchen-Leser, war gestern, durfte bekanntlich, wie Kurt Tucholsky reklamierte, alles und war bei Betroffenen entsprechend unbeliebt. Nunmehr ist das ultimative Instrument zur Hand, um allen Spottdrosseln und pseudohumoristischen Schmierfinken ein für alle Mal den Stecker zu ziehen – die Hahaganda-Keule.
Um maximaler Wirkung Willen empfehlen wir dem Gesetzgeber, das Instrument mutig, aber vor allem umgehend mit einem neuen Straftatbestand („Majestäts- und Institutionsuntergrabung“) zu bewehren. Im gleichen Zuge die poena mortis wiedereinzuführen sollte zumindest zielführend in Erwägung gezogen werden.
Kriegserklärung – Ist nach allgemeinem Verständnis eine völkerrechtlich bindende Erklärung eines Staates nach außen, das heißt eine an andere Völkerrechtssubjekte gerichtete Mitteilung, die die Konstatierung des Kriegszustandes zwischen den betreffenden Staaten zum Gegenstand hat. Üblicherweise erfolgt die Abgabe derartiger Erklärungen durch Regierungen im Wege der Übergabe diplomatischer Noten. Neu ist jetzt die Abgabe an die Adresse eines fremden Staatsoberhauptes durch einen nationalen Gesundheitsminister via Twitter – Karl Lauterbach am 1. Oktober, 2:21 Uhr nachmittags: „Wir sind im Krieg mit Putin.“ Nun sollten allerdings, wie in solchen Fällen Usus, auch die diplomatischen Beziehungen zu Moskau zügig abgebrochen werden, damit die zerebral bekanntlich etwas trägen Russen endlich begreifen, was die Stunde geschlagen hat.
Elisabeth II., verstorbene Queen – Nachdem der hysterische globale Hype um Ihr Ableben allmählich abgeebbt ist, wollen auch wir Ihnen ein Valet nachrufen.
Zur finalen Sympathieträgerin once and for all ausrufen müssen wir gottseidank nicht mehr. Das hat bereits der Qualitätsjournalist Julian Reichelt, Ex-BILD-Chef, zur Genüge übernommen: Sie hätten es geschafft, „mit unvergleichlichem Anstand all das zu verkörpern, was unsere Welt zu einem lebenswerten Ort macht: Stabilität, Verlässlichkeit, Treue, Tradition, Tee, Loyalität, Freundlichkeit, Klugheit, Familie.“ Ob Oskar Lafontaine angesichts dieser Aufzählung womöglich sein Verdikt über die spezifische Qualität von Sekundärtugenden wiederholte, muss dahingestellt bleiben. Dichter dran an Ihrer Persönlichkeit war aber wohl sowieso Gatte Prinz Philipp, von dem die Einschätzung überliefert ist: „Wenn etwas kein Gras frisst und nicht furzt, ist die Königin nicht daran interessiert.“ Wieder anderen gelten Sie als herausragendes Beispiel für jenen typisch britischen Humor, dem allerdings – kommt er aus aristokratischer Kehle – ungeachtet unüberhörbarer Selbstironie häufig zugleich ein Hauch feinsinniger Arroganz eignet. So sollen Sie beim Einkauf im Supermarkt – von einer anderen Kundin mit „My dear, Sie sehen aus wie die Königin!“ angesprochen – repliziert haben: „Wie beruhigend.“ Kritikern hingegen gelten die Highlights und Resultate Ihres über 70-jährigen Verharrens auf dem Thron nur als weiteres Beispiel dafür, dass die Monarchie so überflüssig ist wie ein Kropf, nur für den Steuerzahler unanständig viel teurer. Doch wir sind temporär etwas milder gestimmt und belassen es bei einem – R.I.P.
Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission – Nach der, so Ihre Wortwahl, „eindeutigen Sabotageaktion“ gegen die Erdgaspipelines Nord Stream 1 und 2 am Boden der Ostsee luden Sie scharf durch: „Jede vorsätzliche Störung der aktiven europäischen Energieinfrastruktur ist inakzeptabel und wird zur stärkstmöglichen Reaktion führen.“
Doch wie heißt es so schön? Die Engländer hängen keinen, sie hätten ihn denn …
Dürfen wir daher zur Suche nach den Schuldigen eine Vermutung äußern? Als unser BuKa Olaf Scholz am 7. Februar 2022 in Washington weilte, zeigte ihm der neben ihm stehende US-Präsident auf einer gemeinsamen Pressekonferenz, wer im deutsch-amerikanischen Verhältnis Koch ist und wer Kellner:
„Präsident Biden: Wenn Russland einmarschiert […], dann wird es kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen.
Reporter: „Aber wie wollen Sie das genau machen, da […] das Projekt unter deutscher Kontrolle ist?
Biden: „Ich verspreche Ihnen, dass wir in der Lage sein werden, das zu tun.“
Warum uns das jetzt wieder einfällt? Nun, der frühere polnische Außenminister und jetzige EU-Abgeordnete Radek Sikorski twitterte nach dem Sabotageakt kurz und bündig: „Thank you, USA.“
Allerdings könnte man sich angesichts der militanten Ablehnung der Nord Stream-Trassen seitens Warschau natürlich auch fragen, ob Sikorski da nicht bloß nach dem Motto „Haltet den Dieb!“ …
André Mielke, neuerdings Heringsbelauscher – Sie schreiben in der Berliner Zeitung über Irrsinniges dieser Tage. Beispiel Nordstream – der irre Iwan sprenge seinen Joker, um ein Zeichen zu setzen? Bei Nordstream gehe es um Transiteinnahmen, Rohstoffe und Geostrategie. Sie verweisen böser Weise ebenfalls auf Joe Bidens Ankündigung, der Pipeline ein Ende zu bereiten. Tja – und auf Außenminister Blinken, der sich angesichts der Explosionen von Nordstream über „eine großartige strategische Gelegenheit“ freute. Na ja, ist politische Unreife Ihrerseits, wie Sie betonen. Und Ihre Hoffnung ist nun ein Hering, der alles beobachtet hat – und von Profis ohne Waterboarding zum Reden gebracht wird.
Irgendwie passt der Irrsinn …
Heribert Prantl, wirklich ein Sturmgeschütz der Demokratie – Seit 2007 wettern Sie ebenso systematisch wie dauerhaft (bisher 149 Beiträge zum Thema in der Süddeutschen Zeitung) gegen das von Bundesregierungen unterschiedlicher Couleur betriebene Projekt einer gesetzlich verankerten anlasslosen Vorratsdatenspeicherung, die ein gewaltiger Schritt in Richtung des gläsernen Bürgers wäre. Sie haben’s uns gerade noch mal erläutert: „Vorratsdatenspeicherung bedeutet […]: Es wird vorbeugend gespeichert, wer mit wem per Telefon, Handy oder E-Mail in Verbindung gestanden hat und wo er sich dabei aufgehalten hat; es wird auch gespeichert, wer was im Internet gelesen, gesucht oder geschrieben hat – und zwar ‚anlasslos’, das heißt: also, ohne dass sich jemand verdächtig gemacht hat oder, ohne dass eine konkrete Gefahrenlage besteht. Da werden also sämtliche Telefon- und sonstigen Kommunikationsdaten sämtlicher Bürgerinnen und Bürger gespeichert, um dann später aus diesen ungeheuren Datenmassen verdächtige Daten herauszufiltern.“ Das Projekt ist zwar bereits mehrfach höchstrichterlich gescheitert, so vor dem Bundesverfassungsgericht und eben erst vor dem Europäischen Gerichtshof, doch es sei wie mit dem Murmeltier: „Das grüßt täglich. Kaum ist diese Vorratsdatenspeicherung von den höchsten deutschen und europäischen Gerichten verboten, taucht sie wieder auf, neu gefärbt und neu gebürstet. Immer und immer wieder ist das so.“ Und so werde es, das ist Ihre aufgrund leidvoller Erfahrung mehr als berechtigte Vermutung, auch dieses Mal wieder sein. Wir befürchten dies ebenfalls. Und appellieren daher nachdrücklich: „Lieber Herr Prantl, bitte halten Sie die Stellung!“
Boris Palmer, Tübinger OB und Enfant terrible der Grünen – in einem Interview mit der Eberbacher Zeitung (15.09.22) holten Sie kürzlich ganz weit aus: „Im Grundgesetz steht, dass öffentliche Ämter nach Leistung, Eignung und Befähigung vergeben werden. Es gibt eine Bewegung in Deutschland, die will diese drei Wörter streichen und durch Bettvorlieben, Opferstatus und Hautfarbe ersetzen. Das ist im Prinzip das, worauf die Identitätspolitik hinausläuft: Öffentliche Ämter nicht mehr für alte, weiße Männer, sondern für homosexuelle Frauen, die Diskriminierungserfahrung haben. Und ich halte das schlicht für falsch. Das zerstört eine Gesellschaft komplett. Wenn Leistung, Befähigung und Eignung nicht mehr gelten, ist in der Gesellschaft einfach nichts mehr konsensfähig.“
Und auf die Frage, warum Sie es nicht bei Ihren Erfolgen als OB beließen und sich stattdessen in Debatten einmischten, die wenig mit Tübingen zu tun hätten, schoben Sie nach: „Das Wort Idiot bezeichnet im Altgriechischen jemanden, der sich nicht für öffentliche Belange interessiert. Und ich möchte kein Idiot sein.“
Da sind wir ganz bei Ihnen, geben allerdings zu bedenken, dass das bloße Interesse für öffentliche Belange keineswegs eine Gewähr dafür bietet, nicht doch idiotisch zu agieren. Siehe zum Beispiel – nächste Antwort.
Sahra Wagenknecht, Enfant terrible der Linken – Sie sind jüngst aus den eigenen Reihen und von anderwärts mal wieder heftigst gescholten worden für eine Rede im Bundestag, in der Sie unter anderem konstatierten, wir hätten die dümmste Regierung Europas. Dabei liegen die Ursachen dafür im System, denn, wie die Schweizer WELTWOCHE diagnostiziert hat: „Demokratie ist die Herrschaft der Mittelklugen: Die größten Deppen fallen bei der Mehrheitsmeinung durch, und den Genialen können leider auch nur wenige folgen.“
Allerdings kann man, wie hierzulande längst Usus, noch einen draufsetzen! Die WELTWOCHE hat beobachtet: „In einer Zeit, in der es als umso progressiver gilt, je kleiner die Minderheit ist, für die man sich einsetzt (siehe Transdebatte und Genderstern), geraten Fachkompetenz, Elite oder schlichtes Wissen unter den Verdacht, Ausdruck von Dominanz oder weißer Mehrheitsgesellschaft, mithin von Übel zu sein.“ Und da wird dann halt nicht nur ein Germanist (Dr. phil.) und Kinderbuchautor Bundeswirtschaftsminister und hält Insolvenzen für eine Art Betriebsferien, sondern es schlägt das Gesetz der Serie gegebenenfalls gnadenlos zu: „Die schon als Umweltministerin in Rheinland-Pfalz heillos überforderte Philosophin und Sprachtrainerin Anne Spiegel (41, Grüne) wurde als Bundesfamilienministerin durchgereicht, weil der linke Parteiflügel eine Frau für den Posten brauchte. Einzige Qualifikation: Sie hat selbst eine Familie […]. Weil er beim parteiinternen Machtkampf die Migrantenkarte spielte, wurde der Sozialpädagoge Cem Özdemir (56, Grüne) Landwirtschaftsminister, ohne je zuvor mit dem Thema in Berührung gekommen zu sein. Und an der Spitze des Verteidigungsministeriums ist die aktuelle Ministerin Christine Lambrecht (57, SPD) lediglich die letzte einer ganzen Reihe von Ministern, die von Militär nicht nur keine Ahnung und zum Thema keine Neigung hatten, sondern auch aus völlig sachfremden Gründen (Quote, Karriere, schlichte Suche nach einem Posten) ins Amt kamen.“
Wundern darf man sich anschließend natürlich über gar nichts mehr. Dass Sie es trotzdem tun, bestätigt diese Regel nur umso eindrücklicher: „[…] die Vorstellung, dass wir Putin dadurch bestrafen, dass wir Millionen Familien in Deutschland in die Armut stürzen und dass wir unsere Industrie zerstören, […] – ja wie bescheuert ist das denn!“
Stefan Baron, Ex-Chefredakteur der Wirtschaftswoche und nachmaliger Kommunikationschef der Deutschen Bank – Sie erinnern sich bemerkenswert präzise: „Es war Emmanuel Macrons wohl mutigster – und lichtester – Moment: Nach dem Ende des Kalten Krieges sei die atlantische Allianz ‚nicht einmal ansatzweise neu bewertet worden‘, die Nato ‚hirntot‘, klagte der französische Staatschef 2019 mit Blick auf Bestrebungen, das Bündnis auch noch um die Ukraine nach Osten auszuweiten. ‚Wir dürfen Russland nicht vollends an China verlieren.‘ Und Sie schlagen den Bogen zum Hier im Jetzt. „Mit dem Ukraine-Konflikt ging Russland dem Westen nun vollends verloren.“ Konkret: Es entstehe „um die Achse Peking-Moskau herum ein immer größerer eigenständiger politökonomischer Kosmos, der wie einst der Eiserne Vorhang West und Ost voneinander zu trennen droht. Die Welt steuert auf einen neuen kalten Krieg zu. Dieser dürfte für den Westen weit weniger erfreulich verlaufen als der letzte. China, Russland und ihre Verbündeten bringen ein ganz anderes Gewicht auf die Waage als die einstige Sowjetunion. Hätte die EU sich rechtzeitig auf ihre Interessen besonnen und von den USA emanzipiert, wäre diese Entwicklung vermeidbar gewesen. Nicht nur die Nato, auch die EU ist offenbar hirntot.“
Besser, werter Kollege, hätten wir es auch nicht sagen können.
Louise Fletcher alias Oberschwester Ratched – Milos Formans geniale Verfilmung von Ken Keseys Roman „Einer flog übers Kuckucksnest“ (1976) gehört zu jenen zeitlosen Filmen, die man nicht nur nicht vergisst, sondern auch immer mal wieder anschauen kann. Das ist neben dem Spiel von Jack Nicholson (Oscar als Bester Hauptdarsteller) vor allem Ihrer Verkörperung der tyrannischen, Macht und Manipulation bis zur Vernichtung von Menschen einsetzenden Oberschwester Ratched zu danken. Die war kein bloß literarisches Individuum, sondern die Personifizierung eines Herrschaftssystems, das hinter durchaus demokratisch maskierter Fassade seinen Status quo mit faschistoiden Methoden aufrechterhält.
Ironischerweise war ihre Figur im Vergleich zu Keseys Original im Drehbuch abgemildert worden. Sie wiederum lieferten eine sehr subtile Darstellung ab, bei der Sie die Emotionen der Figur oft nur durch Ihre Mimik vermittelten. Sie schafften es sogar, dass das Publikum in mehr als einem Schlüsselmoment des Films Mitleid mit dieser Ratched hatte. Völlig zu Recht erhielten Sie für diese Verkörperung des Bösen einen Oscar als Beste Hauptdarstellerin (der Film selbst gewann erstmals in der Geschichte der Oscars in sämtlichen fünf Hauptkategorien) sowie einen Golden Globe, und das American Film Institute führt ihre Filmfigur bis heute auf Platz fünf auf seiner Liste der 100 besten amerikanischen Filmbösewichte aller Zeiten – hinter Hannibal Lecter, Norman Bates, Darth Vader und der Wicked Witch of the West aus dem „Zauberer von Oz“.
Gestandenen und seinerzeit viel bekannteren Hollywoodstars als Ihnen – Anne Bancroft, Jane Fonda und Faye Dunaway – war die Rolle dieser Oberschwester Ratched vor Ihnen angeboten worden, und alle hatten abgelehnt. Sie fürchteten womöglich, damit zum Gesicht eines hassenswerten Systems zu werden, nämlich dem der USA.
88-jährig sind Sie jetzt verstorben. Wir ziehen den Hut und neigen das Haupt.
Annalena Baerbock (MdB Bündnis 90/Die Grünen), feministische Außenministerin – Sie sind zwar erst kurz im Amt, haben aber schon bleibendes hinterlassen. Öffentliche Auftritte etwa, die man sich immer wieder gern anschaut, Evergreens quasi. So schnatterten Sie zum Beispiel am Rande des Madrider NATO-Gipfels im Frühsommer, quasi ohne Punkt und Komma, los: „Wir wollten weiter mit Russland äh leben, es war nie Ziel der NATO in Konfrontation mit Russland zu gehen ganz im Gegenteil, man hat ja im Rahmen der NATO gemeinsam mit Russland vor einiger Zeit, vor längerer Zeit, die NATO-Russland-Grundakte auch beschlossen das war genau das Instrument wie man in Frieden, in Vertrauen miteinander lebt aber dieses Vertrauen hat Russland im wahrsten Sinne des Wortes in die Luft gesprengt und jetzt gilt es gerade, diese Länder zu unterstützen, die in direkter Nachbarschaft an der Grenze zu Russland, äh, liegen, weil die sich fürchten, äh, wenn sie angegriffen werden wir machen hier deutlich wir stehen in voller Solidarität mit den baltischen Staaten, mit Finnland und Schweden und werden jeden Winkel unseres gemeinsamen Bündnisgebietes verteidigen wenn es denn so sein sollte aber wir tun alles, dass es dazu nicht kommt […].“ (Mehr davon? Einfach hier klicken.)
Zwei langjährige Ex-NDR-Kämpen, Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam, hatten dafür zwar nur Häme: „In Anlehnung an Karl Kraus gestehen wir Baerbock zu: Man muss nicht nur keine Ahnung haben, wovon man eigentlich spricht, man muss es auch noch schlecht ausdrücken können. Dann kann man deutsche Außenministerin.“
Doch das sollte Sie nicht grämen. Es gibt halt immer wieder Menschen, die selbst für 1a-Stand-up-Comedy einfach keinen Nerv haben!
Hilary Mantel, Neu-Erfinderin des historischen Romans – Das Genre galt lange als angestaubt und trivial. Und zwar auf einem Niveau, über das Liebhaber guter Literatur mangels Wahrnehmung nicht einmal die Nase rümpfen. Bei solchem Urteil mag durchaus auch die blasierte Arroganz vermeintlicher intellektueller Überlegenheit im Spiel gewesen sein, doch wer nach Ihnen in dieser Attitüde verharrt, dem trübt die Ignoranz der Verblendung tatsächlich den Blick. Denn Sie haben dem Genre erneut zu einer literarischen Größe verholfen, wie sie etwa zu Zeiten Stefan Zweigs nicht ernsthaft infrage gestellt wurde. Und diese Leistung haben Sie keineswegs nur mit Ihrem Hauptwerke vollbracht – der Trilogie über Thomas Cromwell, Heinrichs VIII. rechte Hand, der wie sein weit bekannterer Vorgänger und Antipode Thomas Morus, an dessen sozialer und physischer Vernichtung Cromwell mehr als nur eine Aktie hatte, ebenfalls auf dem Schafott endete.
Für die ersten beiden Bände erhielten Sie 2009 sowie 2012 völlig zu Recht jeweils den Booker Award, die höchste britische Literaturauszeichnung. Dieses Doppel ist vor Ihnen überhaupt nur fünf weiteren Autoren gelungen. Doch die Preisverleihung wäre auch für Ihren bereits 1992 erschienenen Roman „A Place of Greater Safety“ (deutsch, 2012: „Brüder“) gerechtfertigt gewesen – ein grandioses Panorama der Französischen Revolution und ihrer führenden Köpfe (Georges Danton, Camille Desmoulins und Maximilien Robespierre) und von deren tödlichen Antagonismen.
Soeben hatten Sie und Ihr Mann ein Haus in Irland gekauft, weil Sie nach dem Brexit nicht mehr in England leben wollten. Nun hat Sie, nur 70-jährig, zwar zeitlebens chronisch krank, doch gleichwohl überraschend ein Schlaganfall aus dem Leben gerissen.
Ihre Bücher werden Ihnen ein bleibendes Denkmal sein.
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