25. Jahrgang | Nummer 12 | 6. Juni 2022

Japans militärische Ambitionen und der Quad-Gipfel in Tokio

von Peter Linke, zz. Almaty

Ministerpräsident Fumio Kishida wollte unbedingt ein guter Gastgeber für seine drei Kollegen, den frischgebackenen Regierungschef Australiens Anthony Albanese, den indischen Ministerpräsidenten Narendra Modi sowie US-Präsident Joseph Biden, sein, als er für Ende Mai zum vierten Quad*-Gipfel nach Tokyo lud, um der Vision eines „freien und offenen Indo-Pazifiks“ neues Leben einzuhauchen. Die insbesondere von Washington gewünschte antichinesische Stoßrichtung der regionalen Partnerschaft war in den letzten Monaten durch die Entwicklungen in der Ukraine globalpolitisch etwas in den Hintergrund geraten. Höchste Zeit also, dies zu ändern.

Und Japans Premier legte sich mächtig ins Zeug: In Indonesien, Vietnam und Thailand warb er nicht nur für neue regionale Sicherheitspartnerschaften, sondern auch für den US-amerikanischen Plan eines sogenannten Indo-Pacific Economic Framework for Prosperity (IPEF) mit seinem nur mäßig verschleiertem Anliegen, durch die Neugestaltung strategischer Lieferketten China geoökonomisch zu marginalisieren. Wie ein hoher japanischer Regierungsbeamter einräumte, war Tokio aufgrund seines guten Rufs – den es sich im Laufe der Verhandlungen über die Trans-Pacific Partnership (TPP), aus denen sich die USA unter Trump verabschiedet hatten, – von Washington vorgeschickt worden, um den Südostasiaten IPEF schmackhaft zu machen. Mit Erfolg. Den Preis dafür zahlt Taiwan, das nicht mitmachen darf. Auf dass Peking nicht zu stark verärgert werde.

Angesichts derart selbstloser Unterstützung für die Belange Washingtons sei daran erinnert, dass Quad geopolitische Überlegungen zugrunde lagen, die erstmals in Japan angestellt wurden und deren Ausgangspunkt die Verschiebung des Kräftegleichgewichts in Fernost nach Ende des Kalten Krieges war. Dabei lag für japanische Strategieplaner auf der Hand, dass der Hegemon USA nicht einfach durch den Hegemon China abgelöst werden würde. Die Dinge lagen etwas komplizierter: Da gab es ein dynamisches Indien, die aufstrebenden Wirtschaftsmächte Südostasiens, eine Russische Föderation auf der Suche nach einer neuen West-Ost-Balance und natürlich die Wirtschaftsgroßmacht Japan. Mittelfristig würde in der Region ein kompliziertes multipolares System entstehen, für welches das Konzept des Asia-Pacific (geprägt Anfang der 1960er Jahre durch den damaligen japanischen Außenminister Takeo Miki) keine ausreichende Grundlage mehr bot: Und zu versuchen, gegenüber China eine Politik des Containments zu betreiben, würde aufgrund der wachsenden wirtschaftlichen Verflechtungen nichts bringen.

In seinen 2006 veröffentlichtem Buch „Vorwärts zu einem schönen Land“ (Utsukushii kuni e) schrieb der damals frischgebackene Premier Shinzō Abe, es würde ihn nicht überraschen, wenn in zehn Jahren das japanisch-indische Verhältnis eine größere Rolle spielte als die Beziehungen zwischen Japan und den USA oder die zwischen Japan und China. Ein Jahr darauf sprach er im indischen Parlament von der „Konfluenz zweier Meere“. Das Konzept des Indo-Pacific war geboren. Mit seiner 2012 lancierten Idee eines „asiatischen demokratischen Sicherheitsdiamanten“ – der Sicherung der maritimen Gemeingüter vom Indischen Ozean bis zum Westpazifik durch Australien, Indien, Japan und die USA – unterstrich der gerade nach fünfjähriger Abstinenz wiedergewählte Abe noch einmal die seiner Meinung nach strategische Bedeutung eines solchen Sicherheitsarrangements neben den bereits bestehenden zwischen einerseits Japan, den USA und Australien, andererseits Japan, Australien und Indien sowie drittens Japan, den USA und Südkorea.

Und Abe versuchte, bei sich zu Hause entsprechende Voraussetzungen dafür zu schaffen. In seinen insgesamt gut neun Jahren als Ministerpräsident krempelt er Japans Sicherheits- und Militärpolitik gründlich um. Ein besonderer Dorn im Auge war ihm dabei die japanische „Friedenverfassung“ von 1946, deren Artikel 9 dem Land verbot, Krieg zu führen und Streitkräfte zu unterhalten. Der daraus resultierenden Beschneidung des „Rechts auf kollektive Selbstverteidigung“, etwa im Rahmen des japanisch-US-amerikanischen Beistandspaktes (Anpo) von 1960, begegnete Abe 2014 mit einer Neuinterpretation des Verfassungstextes, wonach „kollektive Selbstverteidigung“ unter drei Voraussetzungen möglich sei: Erstens, ein mit Japan befreundetes Land werde attackiert und das Leben japanischer Bürger sei ernsthaft in Gefahr; zweitens, Gewalt sei legitim, falls es keine andere Möglichkeit gebe, das Leben von Japanern zu schützen, und drittens, die Anwendung von Gewalt müsse auf das absolut notwendige Minimum beschränkt bleiben.

Darüber hinaus begann Abe, erheblich am Beschaffungsrad zu drehen: So wurden zur Verstärkung der südlichen Verteidigungslinie auf Miyakojima (450 Kilometer entfernt von Taiwan) MHI-Typ-12-Boden-Schiff-Raketen stationiert und mit der Izumo und der Kaga bekamen Japans Maritime Selbstverteidigungsstreitkräfte zwei hochmoderne Flugzeugträger, die aus Verfassungsgründen „Helikopter-Zerstörer“ genannt werden, um ihr erhebliches Offensivpotential zu verschleiern. Ebenfalls unter Abe für die Marine beschafft: zwölf konventionelle Jagd-U-Boote der Sōryū-Klasse. Ergänzt werden sollen diese durch Boote der Taigei-Klasse: ideal für seichte Küstengewässer dank Wasserstrahlantrieb und ausgestattet mit Lithium-Ionen-Batterien sowie hochmoderner Schnorkeltechnik für erhöhte Tauchdauer. Auch ihr Bau begann noch zu Abes Zeiten. Selbst der Weltraum war für den nicht länger tabu: 2020 etablierte er im Rahmen der Luftselbstverteidigungsstreitkräfte ein Operatives Weltraumgeschwader zum Schutz japanischer Weltraumplattformen vor Störaktionen dritter Staaten.

Nach Abe Japans Streikkräfte immer noch als bloße „Selbstverteidigungsstreitkräfte“ (Jieitai) zu bezeichnen, fällt zunehmend schwer: Insbesondere in den letzten zehn Jahren hat deren Offensivfähigkeit zu Land, zu Wasser und in der Luft merklich zugenommen: Für Global-Firepower ist Japan heute die fünftgrößte Militärmacht der Welt – nach den USA, Russland, China und Indien – sowie die Nummer sechs hinsichtlich seiner Militärausgaben.

Abe hat seinen Nachfolgern Yoshihide Suga und Fumio Kishida diesbezüglich ein gut bestelltes Feld hinterlassen. Zwei wesentliche, miteinander verwobene Probleme konnte jedoch auch Abe nicht zufriedenstellend lösen: Die ungebrochen hohe Abhängigkeit Japan von US-Rüstungsgütern sowie die Erreichung internationaler Konkurrenzfähigkeit der japanischen Rüstungsindustrie.

Keine Frage: Japaner und US-Amerikaner trainieren gern und viel miteinander – 2021, trotz Pandemie, in 118 Manövern. Das dabei Interoperabilität gewährleistet ist, dürfte nicht zuletzt der Tatsache geschuldet sein, dass rund 97 Prozent der von den japanischen Streitkräften genutzte Hardware aus den USA stammt. Nicht gerade Ausdruck für eine wirklich souveräne Militärpolitik! Gern würde Tokio gemeinsame technologische Projekte realisieren, um dieses Ungleichgewicht zu beheben. Allerdings ist in den letzten Jahren immer deutlicher geworden, wie schwierig es ist, mit US-Amerikanern, die traditionell ein eher eingleisiges Verständnis von Technologietransfer pflegen, an einem Strang zu ziehen.

Um der japanischen Rüstungsindustrie trotzdem etwas Luft zu verschaffen, kippte Abe 2014 das Verbot von Waffenexporten. Eine Agentur für Beschaffung Technologie und Logistik wurde beauftragt, Waffen Made in Japan weltweit zu vermarkten. Schnell jedoch stellte sich heraus, dass dies gar nicht so einfach ist: Zum einen verfügten die Japanern als Nachzügler auf diesem Gebiet über keinerlei Vermarktungserfahrung. Zum anderen erwiesen sich viele Produkte als zu teuer und oft als wenig geeignet für die Kriege des 21. Jahrhunderts. In fünf Jahren verkaufte Japan gerade einmal ein Überwachungsradar an die Philippinen. Andere Geschäfte scheiterten: wie der Verkauf von Sōryū-U-Booten an Australien (hier machten die Franzosen das Rennen, nur um später, nachdem sich Canberra für den Umstieg auf Nuklear-U-Boote aus den USA und Großbritannien entschieden hatte, selbst das Nachsehen zu haben) oder wie die Lieferung von US-2-ShinMaywa-Seenotrettungsflugzeugen an Indien, der Export einer Radaranalage an Thailand sowie die Lieferung von Fregatten an Indonesien.

Angesichts dieser Pleiten wird Altministerpräsident Abe nicht müde, die Trommel für eine Mitgliedschaft Japans im AUKUS-Sicherheitspakt (siehe dazu auch Blättchen 21/2021) zu schlagen, wobei für ihn ganz offensichtlich technologische Fragen im Vordergrund stehen. So wirbt er für eine intensivere Zusammenarbeit auf den Gebieten Netzsicherheit, Künstliche Intelligenz und Quantentechnologie mit … Australien!

Als wesentlicher Schritt in diese Richtung kann das Anfang des Jahres zwischen Tokyo und Canberra unterzeichnete Reciprocal Access Agreement (RAA) gelten – für Japan der erste große bilaterale Militärpakt nach Anpo.

Überhaupt wird das laufende Jahr für Japan wichtige sicherheits- und militärpolitische Weichenstellungen bringen. Eine Strategie zur Gewährleistung wirtschaftlicher Sicherheit wurde unlängst vom Parlament verabschiedet, die sich im Kern um „Lieferketten-Resilienz“, die „Aufrechterhaltung strategischer Infrastruktur“, die „Sicherung technologischer Überlegenheit“ sowie „Patentschutz“ dreht. Zusammen mit der Novellierung der Nationalen Sicherheitsstrategie (Kokka ansen hoshō senryaku), den Nationalen Programmatischen Verteidigungsleitlinien (Bōei keikaku taikō) sowie dem Mittelfristigen militärischen Beschaffungsprogramm (Chūkin bōeiryoku seibi keikaku) wird sie die Sicherheitspolitik Japans auf Jahre prägen. Debattiert wird bis Ende des Jahres nicht mehr und nicht weniger als die massive Verstärkung der Offensivfähigkeit der Jieitai, wobei die Entwicklung von Hyperschallwaffen, Atom-U-Booten sowie eines Nachfolgers für das Mitsubishi-J-2-Mehrzweckkampfflugzeug – und zwar nicht zusammen mit Lockheed Martin, USA, sondern mit der britischen Konkurrenz von BAE Systems – ebenso zur Sprache kommen werden wie die „Fähigkeit zum Gegenschlag“ (Hangeki nōryoku) und die Möglichkeit „nuklearer Teilhabe“ (Kaku kyōyū). Letztere würde das Ende der 1971 verkündeten „Drei nicht-nuklearen Prinzipien“ – keine Herstellung, kein Besitz, keine Lagerung von Kernwaffen – bedeuten.

Vor diesem Hintergrund müssen die Ergebnisse des jüngsten Quad-Gipfels für japanische Strategieplaner eher ernüchternd sein. Insbesondere die ambivalente Haltung Bidens in der Taiwan-Frage dürften die japanischen Alarmglocken zum Schrillen gebracht haben. Denn im japanischen Verteidigungsweißbuch 2021 war erstmals die Sicherheit Taiwans als Teil der Sicherheit Japans bezeichnet worden. Washington würde im Fall der Fälle Taipeh zu Hilfe eilen, so der US-Präsident vollmundig gegenüber den anderen Quad-Staaten, nur um Stunden später verkünden zu lassen, dass sich an der „Ein-China-Politik“ der USA nichts geändert habe. Verlässliche Führung sieht anders aus! Auch und vor allem im Indo-Pazifik. Und dass in der Quad Abschlusserklärung weder China noch Russland auch bloß erwähnt wurden, sollte Premier Kishida endgültig in seiner Nibelungentreue gegenüber den USA erschüttert haben: Ganz offensichtlich hatte Shinzō Abe recht, als er für die Region einen komplizierten Multilateralismus voraussah, der mit blindem Vertrauen auf die USA nicht zu beherrschen sei.

* – Quadrilateral Security Dialogue, kurz Quad: sicherheits- und militärpolitisch ausgerichteter Zusammenschluss der Staaten USA, Australien, Indien und Japan.