Am Nachmittag des 26. Juni, zu Sitzungsbeginn, fragte der britische Premier Boris Johnson in die G7-Gipfel-Runde, ob man nicht angesichts der hohen Temperaturen die Jacketts ausziehen sollte, beantwortete die Frage aber selbst mit der Bemerkung: „Wir alle müssen zeigen, dass wir härter sind als Putin.“ Und weiter: „Wir müssen unsere Bauchmuskeln zeigen.“ Der kanadische Regierungschef Justin Trudeau setzte hinzu, man sollte mit nacktem Oberkörper reiten. Als Anspielung auf Putins Macho-Bilder, auf denen er in solcher Pose zu sehen war und worüber sich westliche Politiker und Journalisten regelmäßig lustig machten. Journalisten war dies eine Meldung aus Elmau wert. Putin nahm diesen Ball scheinbar ernst auf und sagte seinerseits vor Journalisten in Turkmenistan, wo er gerade zu Verhandlungen weilte, wenn die G7-Spitzen sich entblößt hätten, wäre dies „ein widerlicher Anblick“ gewesen; für die Harmonie von Körper und Geist müsse man Sport treiben und weniger Alkohol trinken. Am Ende saßen sie auf Schloss Elmau doch ohne Jackett am Tisch.
Der „kollektive Westen“, wie es in Russland neuerdings heißt, hatte wie schon 2021 mehrere Gipfeltreffen zusammengespannt, schon damit der greise USA-Präsident Joe Biden nicht so oft über den Ozean fliegen muss, um seine Reihen gegen den russischen Krieg und für die Ukraine zu schließen. Am 23. und 24. Juni fand in Brüssel ein EU-Gipfel statt, auf dem zusätzliche Sanktionen gegen Russland beschlossen wurden, der Ukraine weitere militärische Unterstützung und Hilfsgelder zugesagt und der Titel eines EU-Beitrittskandidaten verliehen wurden. Hierzu war Biden nicht erforderlich, aber so konnten die EU-Europäer auf dem G7-Gipfel eigene Beiträge melden. Die militärische und finanzielle Unterstützung der USA für die Ukraine liegt derzeit bei über 50 Milliarden Dollar. Vom 28. bis 30. Juni fand in Madrid ein NATO-Gipfel statt, bei dem eine Aufstockung der Schnellen Eingreiftruppe auf 300.000 Mann, eine weitere Erhöhung der Militärausgaben, eine neue NATO-Doktrin für die nächsten zehn Jahre, in deren Mittelpunkt Russland als Feind steht, sowie die Aufnahme von Finnland und Schweden auf der Tagesordnung standen.
Der G7-Gipfel vom 26. bis 28. Juni in Elmau lag dazwischen und war der spezifische deutsche Beitrag, mit dem sich zugleich Olaf Scholz als Weltpolitiker beweisen konnte. Zu den Verabredungen von G7 (neben den bereits genannten Staaten auch Frankreich, Italien und Japan) gehörten eine zeitlich unbegrenzte militärische, finanzielle, humanitäre und diplomatische Unterstützung der Ukraine, weitere Sanktionen gegen Russland, um dessen Einnahmen zu verringern, Stabilisierung der Weltwirtschaft durch Stabilisierung von Lieferketten, globale Ernährungssicherheit, Förderung der Energiewende und des Ausstiegs aus der Kohle. Für eine „Globale Partnerschaft für Infrastruktur und Investment“, womit vor allem in Afrika und in Konkurrenz zu Chinas „Seidenstraßen“-Projekt Einfluss erzielt werden soll, wurden 600 Milliarden US-Dollar angekündigt. Zugleich soll eine „Erhöhung der Resilienz“, also der Krisenfestigkeit der G7-Gesellschaften und darüber hinaus erreicht werden. Am Ende der Ergebnisliste dieses Gipfels rangierten die „Stärkung der Menschenrechte“, die Bekämpfung der Desinformation und die Geschlechtergerechtigkeit.
Scholzens Kernsatz war wieder: „Präsident Putin darf diesen Krieg nicht gewinnen!“ Das allerdings ist schwieriger als gesagt. Als die G7 Mitte der 1970er Jahre als inoffizielles Gremium geschaffen wurde, waren dies in der Tat die sieben leistungsstärksten Industriestaaten. Sie hatten damals einen Anteil am globalen Bruttoinlandsprodukt von fast 60 Prozent. Heute sind es, bei etwa 10 Prozent der Weltbevölkerung, noch etwas über 30 Prozent; der Anteil hat sich also praktisch halbiert. Die „sonstigen Staaten“ der G20-Gruppe, darunter China, Indien, Südkorea, Indonesien, Brasilien, Argentinien, Mexiko, Südafrika, haben einen Anteil am globalen BIP von 49 Prozent und an der Weltbevölkerung von 53 Prozent.
Die Staaten des Südens unterstützen die Sanktionspolitik des Westens gegen Russland in ihrer großen Mehrheit nicht, wichtige Länder, darunter China und Indien, haben sich auch in der UN-Vollversammlung bei der Verurteilung des russischen Krieges enthalten. Um hier weitere Unterstützer zu gewinnen, hatte Scholz Partnerländer aus dem Süden nach Elmau eingeladen: Indonesien und Indien als die gegenwärtigen und kommenden Vorsitzenden der G20, Senegal als derzeitiger Vorsitzender der Afrikanischen Union, Argentinien als Vorsitzender der Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten sowie Südafrika. Alle fünf waren freundlich und diplomatisch verbindlich, haben aber in der Sache, was Russland betrifft, nicht nachgegeben. Indonesien blieb auch bei seiner Einladung an Russland – das heißt offiziell an Putin – zum G20-Gipfel im Herbst dieses Jahres. Die südafrikanische Außenministerin Naledi Pandor sagte in einem längeren Interview für das ZDF: „Die Probleme um die Ukraine und Russland wurden seit zehn Jahren diskutiert. Wir in Afrika wurden nie gefragt. Und jetzt sollen wir uns für eine der Seiten entscheiden.“ Die Erfahrung Südafrikas ist, dass sich die Beteiligten an einen Tisch setzen müssen, um einen Frieden zu vereinbaren.
Präsident Biden reiste früher ab. Er fuhr mit einer langen Wagenkolonne vom Flughafen München nach Elmau und auch wieder zurück. Alle anderen waren mit Hubschraubern geflogen. Es hieß, die US-amerikanischen Piloten konnten die Landung bei Schloss Elmau nicht oft genug üben. Da ergibt sich einerseits die Frage nach der Qualifikation US-amerikanischer Piloten. Und andererseits die, warum man sich nicht auf die Qualifikation deutscher Piloten verlassen hat. Wo wir doch eigentlich „Verbündete“ sind.
Insgesamt waren bei dem Gipfel 18.000 Sicherheitskräfte eingesetzt, das Ereignis kostete den deutschen Steuerzahler 180 Millionen Euro. Diese Gipfel waren ja – zuerst in Japan, Kanada und Schottland – in die Berge verlegt worden, weil es zuvor einen üblichen Tourismus von Globalisierungsgegnern, darunter auch von „Schwarzen Blocks“ gab, bei dem Straßenschlachten mit der Polizei, Verwundete und Tote und allgemeine Randale an der Tagesordnung waren. Hier gab es wieder nur eine Straße zum Ort des Geschehens, und die Behörden konnten sich aussuchen, welche zwei Radfahrer mit einer Losung zum Hotel fahren durften, nachdem sie auf Waffen, Farbbeutel und anderes kontrolliert worden waren. Der bayerische Ministerpräsident meinte, dies war der zweite Gipfel in Elmau, und so rasch brauche er keinen nächsten.
Kanzler Scholz hatte bei seiner Abschlusspressekonferenz, als er die Weltlage resümiert hatte, auf die Frage einer Reporterin, ob er denn konkretisieren könne, welche Sicherheitsgarantien die G7-Staaten der Ukraine gäben, geantwortet: „Ja. Könnte ich.“ Und nichts weiter.
Die politisch korrekten Sensibelchen der nachwachsenden Generation mokierten sich im Internet über seine „unfreundliche“ Antwort. Geborene Berliner finden das witzig. Wenn die Frage lautet: „Kann ick hier ma durch?“ ist die Antwort: „Weeß ick nich, versuch doch mal.“
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