25. Jahrgang | Nummer 10 | 9. Mai 2022

Zwischen Berlin und Moskau

von Jan Opal, Gniezno

Am Rathaus in Vilnius ist nun deutlich zu lesen: „Für eure und unsere Freiheit!“ Beigefügt sind die ukrainischen Nationalfarben, die Losung selbst aber ist geschrieben in Litauisch, Polnisch, Ukrainisch und Belorussisch. Der innehaltende Betrachter kommt plötzlich ins Gespräch mit einem schwedischen Ehepaar, das aus Uppsala herübergekommen ist, und wird schließlich gebeten, doch einmal kurz zu übersetzen, was da verkündet wird. Der Bezug zum Abwehrkampf der Ukraine gegen Russlands Überfall ist offenkundig, doch für die tieferliegende historische Resonanz, die da anschlägt, fehlt das erforderliche Gespür, wie es nur tiefere geschichtliche Zugehörigkeit hervorrufen kann. Das einfache Losungswort erscheint wie der Schlüssel zu einer längst vergangenen Welt, die erst noch aufgeschlossen werden muss. Dass es obendrein wiedergegeben wird in den Sprachen, die im Westen Europas weniger geläufig sind, verstärkt nur diesen Eindruck.

Der kluge Einfall der Stadtoberen in Vilnius bündelt wie in einem Brennglas fast zweihundert Jahre hin- und herwogender Geschichte, wie sie den Menschen in Litauen, Polen, der Ukraine und Belarus jetzt wieder vor den Augen steht. Die aber ist gespickt mit blutig niedergeschlagenen Aufständen, mit vergeblichen Versuchen, die nationale Existenz zu gewinnen oder zu verteidigen, mit beispielhaften wie auch erschreckenden Vorgängen. Und oft genug ist man sich auch gegenseitig angefallen, immer dann nämlich, wenn eigener nationaler Anspruch zuerst und gegen andere – ziemlich gleichwertige – Interessen durchgesetzt werden sollte. Aber vor allem ist es ein Erdenwinkel, in dem oft genug andere von außen teilten und herrschten oder es zumindest immer wieder versuchten.

Eine einschneidende Zäsur der Geschichte bilden das Jahr 1989 und die Folgejahre, in denen die einst mächtige Sowjetunion schließlich wie ein Kartenhaus in ihre einzelnen Landessteile zusammenfiel. Den Anfang hatte übrigens Litauen gemacht am 11. März 1990, als in Vilnius feierlich die Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit von 1918 erklärt worden war. Unvergessen ist hier, dass Moskau später als Antwort und als Zeichen erschreckender Hilflosigkeit Panzereinheiten rief, um den einseitigen und zunächst als unerhört angesehenen Schritt mit Gewaltmitteln von der Bühne zu nehmen. Später hat ausgerechnet Russlands Präsident Wladimir Putin noch ganz am Anfang seiner langen Herrschaftsjahre versucht, dieser geschichtlichen Zäsur einen gültigen Ausdruck zu geben: Der Zerfall der Sowjetunion sei die größte geopolitische Katastrophe im 20. Jahrhundert.

Was wie eine Drohung, wie Kraftprotzerei daherkam, war in Wirklichkeit vor allem das Eingeständnis ohnmächtiger Wut über den Verlust einer riesigen Fläche von fast fünfeinhalb Millionen Quadratkilometern – was mehr als der Fläche Europas ohne den einstigen sowjetischen Raum entspricht! Putin kritisierte vor allem, dass es nicht restlos gelungen war, diesen gewaltigen Raum unter neuen Bedingungen und mit anderen Mitteln fest um Moskau zu integrieren; er versprach zugleich, dieses nun selbst erfolgreich und konsequenter verfolgen zu wollen. Halbwegs akzeptiert, wiewohl nur zähneknirschend, wurde der nicht mehr zu verhindernde Übergang Estlands, Lettlands und Litauens in die westlichen Strukturen – in die Europäische Union und die NATO. Doch alle anderen sollten fest und unverrückbar im Moskauer Einflussbereich bleiben. Das Schaffen neuer Formen hegemonialer Herrschaft wurde vorangetrieben, mitunter mutete es sogar an, als wollte Putin im „euroasiatischen“ Raum selbst die ungeliebte EU kopieren. Selbstverständlich war in Moskau nie die Rede davon, Souveränitätsrechte an zu bildende gemeinsame Institutionen abzugeben, denn erstrebt wurde ausschließlich die feste geopolitische Bindung an Moskau.

Die Entwicklungen in Georgien und in der Ukraine nach 2004 – nach der gerade erfolgten Osterweiterung der EU – ließen im Kreml allerdings die Warnleuchten angehen. Putins gewitztes Konzept, nicht mit der EU als Ganzes, sondern immer nur mit den einzelnen Hauptstädten zu sprechen oder eben nicht zu sprechen, schien für lange Zeit durchaus erfolgreich zu sein. Insbesondere die immer fester werdende strategische Anbindung der deutschen Wirtschaft – des so enorm wichtigen Motors für die Entwicklung in der gesamten EU – an russische Erdgaslieferungen schien diesen Weg Moskauer EU-Politik vollauf zu bestätigen. Im Katz-und-Maus-Spiel mit den nach der Krim-Annexion gegen Moskau verhängten EU-Sanktionen sah Putin sich stets als derjenige, der auf entsprechender Kommandohöhe dennoch alles unter seiner Kontrolle hält. Unüberbrückbar schienen vielen in Moskau die immer tiefer werdenden Gräben innerhalb der westlichen Gemeinschaft geworden zu sein. Wie sehr sich Putin darin allerdings verrechnet hatte, wurde nach dem 24. Februar 2022 schnell deutlich.

Ein offenes, wenn auch unfreiwilliges Eingeständnis für das Scheitern der gesamten Ukraine-Politik Moskaus war jene abfällige Bemerkung aus dem letzten Jahr, wonach diejenigen, die austreten wollten (sic!), zuvor gefälligst das zurückgeben müssten, was sie beim Eintritt ungerechtfertigt dazubekommen hätten. Putin meinte damit jenes Drittel der Ukraine, das östlich einer von Charkiw bis Odessa reichenden Linie liegt. Dass er nun seit dem Februar 2022 mit Waffengewalt versucht, solchen lediglich verbalen Übergriffen die Tat folgen zu lassen und entsprechendes Territorium „zurückzuholen“, liegt auf der Hand. Doch hat er die Rechnung wiederum ohne den sprichwörtlichen Wirt gemacht. Die EU-Beitrittsperspektive der Ukraine ist – auch wegen der entschiedenen Haltung ihrer Mitglieder Litauen und Polen – eine ausgemachte Sache, selbst dann nämlich, wenn sich die großen Nettozahler in der Gemeinschaft später wieder etwas stärker zieren sollten. Und in Belarus wird unter anderen Umständen, die zweifellos kommen werden, kaum noch eine Mehrheit in der Bevölkerung jenem Manne folgen, der jetzt fest an der Seite Putins zu stehen scheint.

Der EU mögen viele Dinge eigen sein, die ihr vorgeworfen werden könnten – warum auch nicht! Doch eines ist in ihr sicherlich nicht möglich, solange man Mitglied bleiben möchte: mit Waffengewalt Veränderungen von Grenzverläufen gegenüber Nachbarstaaten durchzusetzen, sobald diese den machtpolitischen Träumen entgegenzustehen scheinen.