25. Jahrgang | Nummer 11 | 23. Mai 2022

Hegemonialkrieg

von Erhard Crome

Der ukrainische Krieg Russlands geht in den dritten Monat, mit tausenden Toten, zerstörten Städten und Dörfern und Millionen Flüchtlingen. Ein Ende ist nicht abzusehen. Die Rede ist inzwischen von einem Ermattungskrieg, Moskau will die Kiewer Armee ermatten und am Ende doch noch einen Sieg erringen, Washington will Moskau ermatten und Russland dauerhaft als relevante Weltmacht ausschalten. EU-Europa wurde bereits politisch und ökonomisch ermattet und erscheint nur noch als eine Art Schatten der Globalpolitik der USA. Deutschland will alles für eine Niederlage Russlands tun. Und tut so, als hätten die deutschen Truppen nicht bereits zweimal weit im Osten, zuletzt 1941 kurz vor Moskau gestanden – mit dem bekannten Ergebnis.

Obwohl der Krieg Russlands im dritten Monat ist, sind wir bei der Analyse immer noch am Anfang. Viele Linke lehnen nach wie vor den Befund ab, dass wir es seit dem Ende des osteuropäischen Realsozialismus wieder mit einem globalen Zeitalter des Imperialismus zu tun haben, in dem Russland als ein eigenständiges imperialistisches Zentrum agiert. In gewissem Sinne ist es die zweite „Brzezinski-Falle“; die erste war, Breshnew 1979 zum Einmarsch in Afghanistan zu provozieren. Die zweite war die Position, in den 1990er Jahren formuliert, Russland höre ohne die Ukraine auf, „ein Reich zu sein, dass es aber, wenn sich die Ukraine bestechen und unterordnen lässt, automatisch ein Reich wird“. Da durch die Druck- und Erpressungspolitik der USA und der EU mit dem Maidan-Putsch 2014 die Bestechungsvariante ausschied, hat sich der Ersatz-Zar Putin 2022 zum militärischen Anschluss der Ukraine entschieden, zumindest weiterer ihrer Teile. In beiden Fällen kann man detailliert und voller Eifer die US-amerikanische Fallen-Politik beschreiben. Sie enthebt die Entscheidungsträger in Moskau aber nicht der Verantwortung, den Einmarsch befohlen zu haben.

Wir haben es mit einem Regionalkrieg zwischen der Moskauer und der Kiewer Regierung zu tun. Die Moskauer „Elite“ hat den Kompromiss zwischen den Nomenklatura-Verantwortlichen von 1991, an welchen Bruchlinien sie die Sowjetunion in nationale Bestandteile zerlegen, um sich in eine neue Kapitalistenklasse zu verwandeln, aufgekündigt. Da die früheren Sowjetrepubliken aber nun souveräne Staaten im Sinne der UNO und des Völkerrechts geworden waren, hat Russland einen anderen souveränen Staat überfallen. Da hilft auch kein Reden von Antifaschismus oder Sich-Berufen auf Katharina II. oder die Verfasstheit Russlands vor 1917.

Zugleich ist es ein Hegemonialkrieg um die Weltordnung des 21. Jahrhunderts. Den USA geht es nicht um die „Freiheit“ der Ukrainer oder die Verteidigung der ukrainischen Völkerrechtlichkeit. Ziel ist es auch nicht, der Ukraine zu helfen, sondern Putin und die russische Staatlichkeit und Machtposition zu bekämpfen. Die USA wollen ihre globale Machtposition verteidigen und ihren sich abzeichnenden Niedergang möglichst lange hinauszögern. Und da China und Russland als die stärksten Konkurrenten dabei erscheinen, haben sie jetzt den schwächeren der beiden, nämlich Russland, in einen Hegemonialkampf verwickelt.

Hegemonialmächte und Imperien als Große Mächte im Zenit ihrer Macht agieren anstelle des nicht vorhandenen Weltstaates und nehmen eine internationale Ordnungsfunktion wahr. So zumindest die Lehre von den Internationalen Beziehungen. Kreuzt sich allerdings die Abstiegsphase der einen großen Macht mit der Aufstiegsphase einer anderen, kommt es zum imperialen beziehungsweise hegemonialen Übergang. Der bringt stets Unruhe in die Staatenwelt, er kann friedlich verlaufen oder kriegerisch. Ein friedlicher Übergang bedarf historischer Voraussetzungen. In der britischen Marineführung und Regierung wurde in den 1920er Jahren die Entwicklung der Marine der USA als Bedrohung der britischen Vorherrschaft zur See angesehen. Selbst Winston Churchill, damals britischer Finanzminister, schrieb 1928, ein Krieg zwischen Großbritannien und den USA wäre zwar „töricht und katastrophal“, aber nicht „undenkbar“. Am Ende war es der Kampf gegen Hitlerdeutschland, der beide auch im zweiten Weltkrieg zu Verbündeten machte.

Deutschland und die USA agierten seit Ende des 19. Jahrhunderts als Weltmacht-Aspiranten, um Großbritannien als Hegemonialmacht zu beerben. Das war der historische Hintergrund der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Aus denen gingen die USA als Sieger hervor und Deutschland wurde als Großmacht-Kandidat ausgeschaltet. Hier ist es sinnvoll, auf die Analysen des Historikers Ludwig Dehio aus den 1950er Jahren zurückzukommen. Den „Begriff des Hegemonialkampfes“ nannte er einen „Leitbegriff“. Nur so ließen sich die beiden Weltkriege der Deutschen im 20. Jahrhundert richtig einordnen: Sie zeigten „aufs höchste gesteigert die wohlbekannten Familienzüge jener europäischen Hauptkriege, wie sie bezeichnet werden durch die Namen Karls V. und Philipps II., Ludwigs XIV. und Napoleons I.“ Dehio forderte den Verzicht auf Deutungen, „die das deutsche Geschehen unserer Epoche einfach aus deutscher Wurzel emporwachsen sehen mit der Zielstrebigkeit eines Baumes, ohne die Verflechtung dieses Geschehens mit der Umwelt dauernd im Auge zu behalten“.

Bezogen auf die Debatten in Deutschland vor 1914 nannte es Dehio die „preußische Methode“, durch systematische Rüstung die eigene Machtentfaltung zu entwickeln. In diesem Sinne sei die Rüstung zur See seit Ende des 19. Jahrhunderts der Versuch gewesen, „aus der europäischen Enge hinaus in das erhoffte Weltgleichgewichtssystem einzudringen, so wie einst Preußen eingedrungen war in das europäische Gleichgewichtssystem“. Ein „Weltgleichgewicht zur See“ werde das europäische Gleichgewicht ablösen. Ziel des modernen Imperialismus sei es nicht, ein Weltreich nach dem Muster des Römischen Reiches zu schaffen, sondern eine Anzahl von Weltstaaten nebeneinander, ähnlich dem „Gleichgewicht der Mächte im alten europäischen Staatensystem“. Deutschland habe „nicht nach Weltherrschaft“ gestrebt, „wohl aber nach Aufrechterhaltung des Gleichgewichtes in einem solchen Weltstaatensystem der Zukunft“.

Das aber hätte bedeutet, Großbritannien „aus seiner Stellung als Bürge des bisherigen Gleichgewichtssystems“ in Europa hinauszudrängen und „in der Welt aus seiner Stellung als Inhaber der Seemacht“. Es ging also nicht darum, „durch die Seerüstung zu verteidigen, was wir besaßen, sondern mit ihrer Hilfe friedlich zu erringen, was wir besitzen wollten: Weltmacht“. Während der deutsche Imperialismus also danach strebte, „an der englischen Weltseehegemonie vorbei“ zu „einer Weltmacht neben anderen“ zu werden, drängte Britannien Deutschland „in die isolierte Stellung eines potentiellen Bewerbers um die europäische Hegemonie“. Das bedeutete: „So bekämpfte jeder der Rivalen unter Berufung auf das Gleichgewicht die hegemoniale Stellung des anderen, nur dass jeder unter Hegemonie und Gleichgewicht etwas gänzlich Verschiedenes verstand“. Der erste Weltkrieg war „das paradoxe Ergebnis des Griffes in die Ferne“ und führte zu einem Krieg in der Nähe: um die Hegemonie in Europa.

Russland hat sich ein Jahrhundert später in eine vergleichbare Position manövriert. Es wollte in der Hegemonialordnung des 21. Jahrhunderts mit den USA, China, der EU und Indien auf Augenhöhe agieren. Jetzt führt es einen Krieg in seiner Nähe, dessen Ausgang sowohl militärisch als auch politisch offen zu sein scheint. Wenn die Idee dieses Krieges die Stärkung seiner globalen Stellung war, führt er auch dann zu deren Schwächung, wenn das unmittelbare militärische Ergebnis gesichtswahrend aussehen sollte.