Altreichskanzler Bismarck besetzt noch immer einen erstklassigen Stammplatz im Rankingspektakel der lobenswerten Deutschen. Selbst wenn einer seiner Kernsätze außer Kraft gesetzt zu sein scheint: „Solange Deutschland und Russland befreundet sind, geht es Europa gut.“
Die Einigung des Reichs von 1871, die Janusköpfigkeit seiner Sozialpolitik, der missglückte Kulturkampf gegen die Ultramontanen, die Erdrosselung des Parlamentarismus durch das Parlament – alles wurde bereits von Historikern durchleuchtet. Es wird auch nicht vergessen darauf hinzuweisen, dass Bismarcks Entlassung im Jahre 1890 nicht nur der Arroganz eines imperial versessenen schneidigen Kaisers Wilhelm II. geschuldet war. Dennoch: Bismarck bleibt in so manchen politischen Grundfragen ein zeitloses Phänomen
Merkwürdig unausgeglichen werden die außenpolitischen Akzente bewertet. Bismarck selbst hat bis an die Grenzen des Möglichen politisch polarisiert. Daran hat sich auch angesichts grundlegender Darstellungen wie etwa von Ernst Engelberg oder aus der Bismarck-Stiftung nichts geändert.
Angesichts des derzeitigen russischen Krieges und der immanenten west-östlichen Schlacht um die Ukraine muss Bismarck zur Legitimierung unterschiedlicher Machtansprüche herhalten. Bismarck-Zitate zur Bedeutung Russlands für Europa flirren zwischen den konträren Lagern hin und her, ungeachtet dessen, dass der Konflikt für die ganze Menschheit schädliche Folgen nach sich zieht, deren Dimensionen für die Generation Bismarck noch außerhalb des Denkvermögens lagen.
Gleichwohl ist Bismarcks Russlandpolitik eine Erinnerung wert. Selbstverständlich nur, wenn seine Handlungen im Kontext des europäischen 19. Jahrhunderts verstanden werden. Russlands Krieg ist ebenfalls primär ein Resultat und eine moderne Variante der politischen Ambitionen des Russischen Reichs und der Großmächte Europas seit dem 16. Jahrhundert an dieser Grenzlinie.
Die politischen Ströme in West- und Osteuropa bewegten sich stets wellenförmig zu- und gegeneinander. Als Europas Leid den Namen Napoleons trug, priesen die Metternich & Co. den Zaren Alexander I. als „rettenden und heiligen Engel“; der mit seinen Heerscharen über dem befreit aufatmenden Kontinent schwebte. Doch bereits auf dem Wiener Kongress 1814/15, dessen großes Verdienst darin bestand, Frankreich nicht aus der europäischen Friedensordnung zu verbannen, während Napoleon auf die Insel St. Helena verbracht wurde, speisten Europas Majestäten den russischen Engel mit der nichtssagenden „Heiligen Allianz“ ab. Sie überzogen den „Gendarmen Europas“ mit einem nicht gekannten russophoben Feldzug, der den sibirischen Bären außerhalb der zivilisierten Gesellschaft stellte. Bismarck als Preußens Gesandter in Petersburg erlebte das praktisch mit und schüttelte über so viel Dummheit den Kopf. Er wunderte sich ebenso darüber, mit welcher Arroganz die Romanows den deutschen Fürsten begegneten. Als sich Preußen und Russen 1835 zum gemeinsamen Heerlager in Kalisch trafen, um an die Siege über Napoleon zu erinnern, begegneten sie einander bereits mit Abscheu und Misstrauen.
Aus dem umfangreichen Bismarck-Zitate-Angebot werden bis heute alle möglichen Schlagzeilen herausgelöst und als absolute Wahrheit verkauft. Da kann man mit Behagen lesen: „Unsere Freundschaft mit Russland hat in der Zeit unserer Kriege gar keine Unterbrechung erlitten und ist auch heute über jeden Zweifel erhaben. Wir erwarten von Russland durchaus weder einen Angriff noch eine feindselige Politik …“
Damit verband Bismarck ein Höchstmaß an taktisch kalkulierter Toleranz gegenüber dem autokratischen und als aggressiv erkannten Zarismus: „Eine verständige deutsche Politik muss von dem Grundsatze ausgehen, dass die anderen Nationen so regiert werden, wie es ihrem Bedürfnis entspricht und in ihrem Interesse liegt. Bisher habe ich nicht den Eindruck, dass das russische Volk in seiner Gesamtheit von beinahe hundert Millionen eine andere als die absolute Regierung des Zaren verlangt. Die russische Regierungsform kann also für Deutschland unmöglich einen Grund abgeben, den Russen die Segnungen des Liberalismus aufzudrängen […] Auch glaube ich, dass […] der Friede mit Russland trotz der russischen Zustände von dem größten Teil der deutschen Nation lebhaft gewünscht wird und dass die Förderung einer Verstimmung zwischen beiden Völkern in der Richtung eines russischen Absolutismus im deutschen Volk wenig Anklang findet.“ Für einen preußischen Junker erstaunliche Erkenntnisse.
Aber heutigentags klabastern auch ganz andere als original verkaufte Wortmeldungen Bismarcks durchs weltweite Netz: „Die Macht Russlands kann nur durch die Abtrennung der Ukraine untergraben werden. Man muss die zwei Teile dieses einigen Volkes gegeneinander aufbringen und zuschauen, wie Brüder ihre Brüder töten werden, “ – soll Bismarck laut einer Nachricht direkt aus Moskau gesagt haben.
Bismarck hat selbst vor Fälschungen zur Auslösung von Konflikten nicht zurückgeschreckt (siehe die „berühmte“ Emser Depesche von 1870), wenn es um die eigenen politischen Ziele ging. Beim gerade erwähnten Satz ist allerdings offenkundig der Wunsch heutiger Politiker der Vater des Gedankens. Das Zitat ist nicht authentisch nachweisbar. Zumal es mit einer Handlungsanweisung verbunden wird, die dem Wissen Bismarcks um die russisch-ukrainischen Beziehungen diametral gegenübersteht: „Dafür soll man nur die Verräter unter der nationalen Elite finden und erziehen und mit deren Hilfe das Selbstbewusstsein eines Teils des großen Volks so ändern, dass es alles Russische, seine Abstammung hassen wird, ohne das zu bemerken. Alles Andere ist nur eine Frage der Zeit.“
Bismarcks Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Politik der Großmächte, die den polnisch-ukrainischen Raum im Interesse einer gesamteuropäischen Kräftebalance zwischen 1770 und 1815 während der drei polnischen Teilungen unter sich aufgeteilt hatten. Abenteuerlich inszenierte oder interpretierte Konflikte zwischen nationalen Gruppen lagen außerhalb seiner Denkweise. Er wusste aus Erfahrung, dass die Träume von slawischer Solidarität und Wechselseitigkeit Schäume geblieben sind. Es passt deswegen gut, wenn Bismarck auch mit dem Spruch zitiert wird, dass der Balkan „nicht die Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert“ sei und die deutsche Regierung „nicht eines Richteramtes zu walten, sondern deutsche Politik zu treiben“ habe.
Wie er wirklich und grundsätzlich zu Russland stand, dokumentiert ein Schreiben vom Juli 1887 im Zusammenhang mit dem Abschluss des deutsch-russischen Rückversicherungsvertrags: „Der Hauptzweck unseres deutsch-russischen Vertrages bleibt für uns immer der, daß wir drei Jahre hindurch die Zusicherung haben, daß Russland neutral bleibt, wenn wir von Frankreich angegriffen werden.“
Noch präziser formulierte der Reichskanzler seine Position gegenüber Russland in einem Erlass an den deutschen Botschafter in Wien, Heinrich VII. Prinz zu Reuß, vom 3. Mai 1888. Darin erteilte er allen Phantasien und Planspielen deutscher Generalstabsoffiziere über die Möglichkeiten eines Krieges gegen Russland eine Absage. Bismarck schrieb: „Selbst der günstigste Ausgang des Krieges würde niemals die Zersetzung der Hauptmacht Russlands zur Folge haben, welche auf den Millionen eigentlicher Russen griechischer Konfession beruht.“
Der Grund für diese Kraft, die natürlich auch die slawischen Ukrainer orthodoxen Glaubens einschloss, schien Bismarck eindeutig: „Diese würden, auch wenn durch Verträge getrennt, immer sich ebenso schnell wieder zusammenfinden, wie die Teile eines zerschnittenen Quecksilberkörpers. Dieses unzerstörbare Reich russischer Nation, stark durch sein Klima, seine Wüsten und seine Bedürfnislosigkeit, wie durch den Vorteil, nur Eine schutzbedürftige Grenze zu haben, würde nach seiner Niederlage unser geborener und revanchebedürftiger Gegner bleiben, genau wie das heutige Frankreich es im Westen ist.“
Bismarck wollte in keinem Fall die Verantwortung dafür übernehmen, diese ungeheure Kraft herauszufordern. Er argumentierte, dass es in den letzten 100 Jahren selbst den vereinten Kräften Österreichs, Preußens und Russlands nicht gelungen sei, durch die Teilungen des viel kleineren Polens das polnische Nationalbewusstsein zu ersticken. Darum empfahl er die alte lateinische Weisheit, wer den Frieden will, rüstet zum Kriege: „…wir werden meines Erachtens immer am Besten thun, sie (die Russen) wie eine elementarisch vorhandene Gefahr zu behandeln, gegen die wir Schutzdeiche unterhalten, die wir aber nicht aus der Welt schaffen können.“
Ein inneres Bedürfnis nach Frieden und Eintracht mit Russland verbarg sich hinter diesen friedfreudigen Empfehlungen nicht, denn Bismarck fasste alle seine Gedanken in dem verräterischen Satz zusammen: „Durch einen Angriff auf das heutige Russland würden wir seinen Zusammenhang festigen; durch Abwarten seines Angriffs aber können wir seinen inneren Verfall und seine Zersetzung möglicher Weise früher erleben als seinen Angriff, und zwar umso früher, je weniger wir es durch Bedrohungen hindern, tiefer in die orientalische Sackgasse hineinzugehen.“
Das also war des Pudels Kern! Im Interesse einer europäischen Kräftebalance durch ein System von Bündnisverträgen zwischen den großen Reichen und Mächten könnten sich die Russen in Kriegen gegen das Osmanische Reich verausgaben. Bismarck selbst konnte im Ernstfall als „ehrlicher Makler“ und Friedensstifter die eigenen Wünsche geltend machen.
In diesem Sinne trat er beim Berliner Kongress 1878 auf, bei dem die europäischen Großmächte die Ergebnisse des vorausgegangenen russisch-türkischen Kriegs korrigierten. Unter diesen Gesichtspunkten wurde auch 1887 der deutsch-russische Rückversicherungsvertrag abgeschlossen.
Der Vertrag war für Bismarck der letzte Notnagel zu einem nur noch notdürftig bewahrten Frieden in Europa. Er hatte Glück, denn er musste den Ersten Weltkrieg nicht mehr erleben. Aber von der Mitverantwortung für dessen lange Vorbereitung kann ihn die Geschichte nicht freisprechen. Damals ging es bekanntlich um das Interesse am russisch-ukrainischen Getreide. Eine restriktive Zollpolitik zum Nachteil des für Russland so wichtigen Getreideexports und Sanktionen im Devisenhandel taten ein Übriges.
Natürlich: Bismarck kannte keine Charta der Vereinten Nationen. Die einzige Pflicht zur Erinnerung besteht darin, dass all die edlen Ziele der Menschlichkeit und der Menschenrechte auch heute noch weltweit von ihrer Verwirklichung entfernt sind.
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