25. Jahrgang | Nummer 8 | 11. April 2022

Pyrrhussiege im Weltwirtschaftskrieg

von Jürgen Leibiger

Egal wie der Krieg Russlands gegen die Ukraine ausgeht, Putin wird wohl von einem Sieg sprechen. Die Krim bleibt russisch und die beiden Separatistengebiete im Donbass – in welcher konkreten Konstellation auch immer – in seinem Einflussgebiet. Die Ukraine wird wohl nicht NATO-Mitglied und kurzfristig kaum der EU beitreten können.

Ein Pyrrhus-Sieg. Was immer Putin behaupten wird und wie immer die Verhandlungsergebnisse mit der ukrainischen Regierung aussehen werden, eigentlich hat Russland verloren. Es hat im Krieg nicht nur viele Söhne und viel Kriegsgerät verloren, auch seine Reputation als Rohstofflieferant und Wirtschaftsstandort ist auf lange Zeit futsch. Selbst wenn Westeuropa noch eine Zeit lang auf Lieferungen von dort angewiesen ist und andere Länder wie China und Indien als Absatzgebiete mehr als aufnahmefähig sind, wird Russland dafür einen Preis zu zahlen haben. Es hat sich als unsicherer Wirtschaftspartner erwiesen und in eine wirtschaftliche und politische Isolation manövriert. Die Welt verurteilt überwiegend die russische Aggression und selbst Freunde des russischen Volkes sind in einen Zwiespalt gestürzt. Die Freundschaftsbekundungen aus China, Indien und einigen anderen Ländern erfolgen nicht ohne Hintergedanken. „Staaten haben keine Freunde, sondern nur Interessen“ soll Charles de Gaulle einmal gesagt haben. Den Preis für Putins verbrecherische Invasionspolitik wird nicht nur die ukrainische, sondern auch die russische Bevölkerung bitter, bitter zu bezahlen haben. Ob der jetzige Kreml-Chef diese Folgen seines „Sieges“ überstehen wird, steht in den Sternen.

Einmal mehr erweist sich der Westen, allen voran die USA, als siegreich. Nach 1989/1990 hat er einen neuerlichen Sieg errungen. Russische Großmachtambitionen sind in die Schranken verwiesen. Die Ukraine wird von nun an und für immer dem „Westen“ zugewandt sein. Auch viele jener Ukrainer und Ukrainerinnen, die sich emotional noch bis vor kurzem Russland verbunden fühlten, hat Putin verloren. Das Land, schon vor dem Krieg eines der ärmsten in Europa, ist für Jahre demografisch, sozial und ökonomisch am Boden zerstört und wird den Einmarsch von Euro, Dollar und den westlichen Konzernen begeistert begrüßen. Die gegen russische Sicherheitsinteressen gerichtete NATO-Präsenz im Osten ist zementiert, die jahrelange Hochrüstung und der erneute Aufrüstungsschub vor aller Welt legitimiert. Die Befürworter eines sicherheitspolitischen Interessenausgleichs mit Russland und die Gegner von NATO-Erweiterung und Rüstungspolitik sind zum Schweigen gebracht oder zumindest in die Defensive gedrängt. Die auf regime change oder – wie in Jugoslawien – auf Separation gerichteten, auch völkerrechtswidrigen Invasionen des Westens und der NATO sind dem Vergessen anheim gegeben. Die Exponenten des militärisch-industriellen Komplexes jubilieren; Umsatz- und Gewinnzuwächse sind auf Jahre im Voraus gewiss.

US-Präsident Joe Biden kann seine innenpolitische Schwäche mit seinem außenpolitischen Triumph gegenüber Russland – übrigens auch gegenüber Deutschland und der EU – überdecken und zudem neue Absatzmärkte für US-Fracking-Gas und Kriegsgerät erschließen. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz wird mit seinem 100-Milliarden-Aufrüstungsprogramm, seinem Einknicken gegenüber der Zwei-Prozent-Forderung von USA und NATO und der Genehmigung von Waffenexporten in ein Kriegsgebiet selbst von der größten Oppositionspartei im Bundestag mit stehenden Ovationen gefeiert. Der Kurs der Rheinmetall-Aktien hat sich auf einen Schlag mehr als verdoppelt. „Wahrlich, wir leben in finsteren Zeiten“ schrieb Bertolt Brecht 1939 in „Die neue Weltbühne“.

Trotzdem, auch dies ein Pyrrhus-Sieg. Nicht nur, dass auch dem Westen mit den Lieferengpässen und Preisschüben im Energiebereich eine Stagflation, eine Wirtschaftsrezession bei steigenden Preisen droht, ja ziemlich sicher ist, auch andere, nicht zum „Westen“ gehörende Länder werden in Mitleidenschaft gezogen. Fehlende Getreide- und Energielieferungen treffen weit härter die Bevölkerung ärmerer Länder, die deren steigende Preise gar nicht bezahlen können. Für Ostafrika wird eine neuerliche Hungerkatastrophe zur Gewissheit. Aber nicht nur diese sofort spürbaren Wirkungen sind beunruhigend. Die Mittel für die Aufstockung der Rüstungshaushalte stehen für Sozialpolitik und eine umweltgerechte Transformation der Wirtschaft nicht zur Verfügung. Die grüne Außenministerin Deutschlands redet zwar davon, als wie richtig sich die Kritik an der Verwendung fossiler Brennstoffe aus Russland erwiesen habe, aber es wird nicht etwa ein 100-Milliarden-Programm für erneuerbare Energie, sondern ein umweltzerstörerisches Rüstungsprogramm aufgelegt. Schon wird die Bevölkerung auf ein „Gürtel-enger-schnallen“ eingeschworen und die Arbeitgeberseite appelliert an die Gewerkschaften, sie könnten jetzt doch unmöglich verteilungsneutrale Tarifabschlüsse in der Höhe von Produktivitätswachstum plus Inflationsrate fordern.

Der Krieg und die Sanktionen gegen Russland und seine Oligarchen, aber auch deren Gegenreaktionen zeigen vor allem auch, auf welch dünnem Eis sich die Weltwirtschaft bewegt. Nicht nur Westeuropa orientiert sich in seiner Rohstoff- und Energiepolitik neu, das wird auch bei vielen anderen Ländern der Welt so sein. Lieferketten werden überprüft und reorganisiert werden. Die Bezugsquellen von Rohstoffen, Energie und Vorprodukten werden diversifiziert, um einseitige Abhängigkeiten zu vermeiden. Die Sanktionen, der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Zahlungsverkehr und die Blockierung russischer Auslandsvermögen selbst von Privatpersonen wird in nicht wenigen Ländern dazu führen, über mögliche Alternativen nachzudenken und sich die Frage zu stellen, wo man Lücken in der Dollar-Dominanz finden könnte. Jene Länder, die sich das leisten können, werden ihre Binnenorientierung stärken, um die Abhängigkeiten aus dem Ausland, aus welchem auch immer, wenigstens etwas zu verringern. Die seit etwa einem Jahrzehnt zu beobachtende Verlangsamung der Globalisierung wird nicht überwunden, auch wenn vielleicht keine weltwirtschaftliche Eiszeit oder ein ähnlich starker Einbruch der Welthandelsintensität wie in der Zwischenkriegszeit des vorigen Jahrhunderts droht. Die Orientierung auf die eigene Wirtschaftskraft und regionale, nachbarschaftliche Wirtschaftsverbünde wird sich verstärken. Die Hoffnung, die pandemie- und lieferbedingte Stockung der Wirtschaft rasch überwinden zu können, dürfte für dieses Jahr wohl zu begraben sein.

Angesichts der Zuspitzung des Weltwirtschaftskrieges – vom Westen gegenüber China und Russland unter dem Label einer „neuen Systemauseinandersetzung“ schon vor längerer Zeit propagiert und praktiziert – rückt wirtschaftliche Sicherheitspolitik noch mehr in den Vordergrund. Mit der weiteren Aufrüstung der NATO und ihrem Anspruch, „westliche Werte“ weltweit „verteidigen“ zu wollen, erhält diese Art von wirtschaftlicher Sicherheitspolitik kräftig Nahrung. Man hat nun gesehen, welche Waffen der Westen im Ernstfall bereit ist zu zücken und wie diese wirken. Und die Bestimmung dessen, was ein Ernstfall ist, behält sich der Westen vor. Die Währungsreserven lauten weltweit zu 60 Prozent auf Dollar und zu 20 Prozent auf Euro und liegen zu größeren Teilen bei westlichen Banken; sie könnten von einem auf den anderen Tag eingefroren werden. Nur ein Gedanke am Rande: Man stelle sich vor, der Westen würde seine finanzpolitische Macht auch einmal gegen seine eigenen steuerflüchtigen Oligarchen und Steueroasen in Anwendung bringen!

Nicht nur die Rüstungsbosse feixen angesichts ihrer himmlischen Perspektiven hinter vorgehaltener Hand. Auch in China kennt man das Sprichwort „Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte“. Zwar schließen sich China und Russland enger zusammen, gelten sie dem Westen doch beide gleichermaßen als die Hauptgegner in der weltpolitischen Auseinandersetzung, aber gegenüber Russland liegen wohl mehr Trümpfe in chinesischer Hand. Es wird jetzt seine Bemühungen, sich wirtschaftlich und währungspolitisch noch rascher vom Westen und dem Dollar-Raum unabhängig zu machen, verstärken. China hatte 2014 ein eigenes Zahlungssystem, das Cross-Border Interbank Payment System (CIPS) eingeführt, das aufgrund seiner Einschränkung auf den Verkehr mit der chinesischen Währung international zwar mit dem SWIFT-System kooperieren muss, das aber nichtsdestotrotz darauf ausgerichtet ist, gegenüber der westlichen Dominanz an Boden zu gewinnen. Mindestens das jetzt vom SWIFT-System ausgeschlossene russische, über Russland durchaus hinausreichende Finanzsystem wird sich notgedrungen stärker an CIPS anschließen. Der Westen scheint in der heutigen Situation zwar enger zusammenzurücken, aber zweifelsohne gewinnt China in dieser Krise ihm gegenüber an Stärke. Wie militärische Auseinandersetzungen führen Weltwirtschaftskriege gleichermaßen zu Verlusten, aber bekanntlich sind manche gleicher.