Es gab 1990 einen kurzen historischen Augenblick, in dem der gesamte europäische Kontinent zum Gegenstand der politischen Strategie wurde. Was Gorbatschow das gemeinsame Europäische Haus nannte, inspirierte die politischen Vorstellungen jener Zeit. Es beeinflusste damals auch die ost- und westdeutsche Außenpolitik und führte letztendlich zur Charta von Paris 1990, die ein friedliches, geordnetes Zusammenleben aller auf dem europäischen Kontinent als Ziel anstrebte.
Rückblickend gesehen, hätte man spätestens misstrauisch werden müssen, ob das gelingen würde, als die These vom „Ende der Geschichte“ aufkam. Denn dieser These lag ein Geschichtsverständnis zugrunde, das in heißen und kalten Kriegen geschrieben wurde. Mit Siegern, Besiegten und jeder Menge unschuldiger Opfer.
Demgegenüber nimmt sich die friedensstiftende Rolle der Europäischen Union sehr viel unscheinbarer aus. Zumal sie seit ihrer Gründung auch eine Geschichte nicht enden wollender Krisen, Konflikte und auch von zunehmend abgehobenem bürokratischem Regelungstrieb ist. Das aber wird zu einem Luxusgut von Besorgnis und Kritik, wenn ein Krieg ein europäisches Land übermannt, wenn Menschen sterben oder massenhaft vor der Gewalt der Waffen fliehen, so wie es in der Ukraine geschah und geschieht. Dann wird klar, wie gut es uns vergleichsweise dadurch geht, dass wir seit so vielen Jahren versuchen, den integrativen Weg zum verlässlichen Frieden zu gehen. In solchen extremen Momenten wird sichtbar, wie viel zu verlieren ist.
Aber angesichts der aktuellen russischen Aggression gegen die Ukraine muss man auch resümieren: Wir sind den europäischen Weg nicht konsequent genug gegangen.
Schon der Europabegriff der EU war auf sich selbst reduziert: „Wir sind Europa“ war und ist der eigentliche Politikhorizont. Die Notwendigkeit einer kontinentalen Integrationsstrategie wurde zwar immer wieder thematisiert, so wie im Partnerschaftsversuch 2002, einen „Ring von Freunden“ zu schaffen, ein Netzwerk aufzubauen, das von Lissabon nach Wladiwostok reichen sollte. Aber alles verlief im Sand. 2011 wurde die Entwicklung der Strategischen Partnerschaft mit Russland auf Eis gelegt. Die EU entwickelte seither niemals wieder irgendeine Form von Plan, wie man den Kontinent zum gemeinsamen Heim aller europäischen Völker machen und die Zukunft gestalten könnte. Von der Türkei muss man an dieser Stelle gar nicht reden. Aufgrund ihrer geopolitischen Lage wird sie in der NATO gebraucht. In der EU wurde ab 2005 erkennbar, dass dieses Land politisch nicht gewollt ist.
Die wichtige Erweiterung der EU um die neuen unabhängigen Staaten aus Mittel- und Osteuropa, auch sie geriet sehr schnell zu einem Spaltprozess, der von den alten EU-Staaten ausging. Gehörten die „Neuen“ überhaupt dazu, mit ihren unvollkommenen Demokratisierungsprozessen und ihren nationalistischen Reflexen?
Nicht die Freude überwog, dass Menschen dieser Länder ihr Schicksal seit 1989 in die eigenen Hände genommen hatten, sich den Opfern der Transformation stellten und nunmehr als Gleiche unter Gleichen am EU-Tisch Platz nehmen wollten. Nein, in penibelstem Klein-Klein wurde alles, was dort irgendwie nicht westlicher Norm entsprach, seziert, dramatisch überhöht. Bis gestern waren Ungarn und Polen, die beiden Kernländer, von denen der Fall des Eisernen Vorhangs ausging, noch die Lieblingsziele der sich empörenden, selbstermächtigten besseren Demokraten.
Schlimmer war nur das Schicksal der meisten Völker des Balkans, aber auch der Ukrainer, der Georgier, der Moldauer. Denn das echte Interesse der EU hat sie nie auch nur gestreift. Formal sind die Balkan-Staaten EU-Mitgliedschaftskandidaten, aber wie sie ihren Weg in die EU finden werden, steht buchstäblich in den Sternen. Die Ukraine, Moldau und Georgien wurden assoziiert, aber auch daraus erwuchs keine echte politische Verantwortungsübernahme.
Wenn man Länder politisch an sich bindet oder binden will, braucht es Kümmerer, „Versteher“, was nicht mit der finanziellen Alimentierung dieser Staaten verwechselt werden sollte. Ansonsten verkommt alles zu halbherziger Geopolitik, mit einseitigem wirtschaftlichem Nutzen zugunsten der EU und der Abgabe der politischen Verantwortung für das Schicksal Europas an die USA.
Das ist der Punkt, dem sich die EU stellen muss: Ihre fehlende Verantwortungsübernahme für den Frieden auf dem Kontinent. Es ist leicht zu predigen, dass Frieden in Europa nur dort sicher ist, wo es sich eint. Politisch danach zu handeln, ist eine ganz andere Sache. Denn am Ende war die Misere, in der wir heute stecken, seit Jahren vorhersehbar. Es ist auch nicht so, dass niemand gewarnt hätte. Die Ukraine war immer eine Sollbruchstelle im europäischen Frieden. Ihre Grenzlage machte sie interessant für die geopolitische Konfrontation. Wer über die Ukraine verfügte, verfügte über einen strategischen Vorteil. Um die Ukrainer ging es dabei nie. Die EU hat sich an diesem Spiel beteiligt, nicht als Hauptakteur, sondern als Kulissenschieber. Heute läuft sie Gefahr, dass sie mindestens dauerhaft strategisch geschwächt wird.
Russland hat nun den Krieg vom Zaun gebrochen, unter Verletzung der UN-Charta, und das muss man verdammen und Solidarität durch Taten beweisen. Der Verweis auf die Vorgeschichte, an der wir nicht unbeteiligt sind, mindert nicht die russische Schuld, stellt aber die unbequeme Frage, ob die EU alles getan hat, um die Aggression zu vermeiden, und die noch unbequemere Frage, ob die EU jetzt alles tut, um sie zu stoppen. Nicht zu vergessen: Der Krieg findet auf einem Territorium statt, wo Kernkraftwerke stehen, die auch ohne Krieg gefährlich genug sind. Zudem gibt es dort Biowaffenvorräte, offenbar aus Sowjetzeiten, die nicht komplett vernichtet wurden, aber auch andere gefährliche Stoffe. In beiden Fällen kann selbst ein unbeabsichtigter Treffer eine europäische Tragödie entfesseln.
Derzeit zeigt die EU erstaunliche Zurückhaltung, was die Beendigung des realen Blutvergießens betrifft, aber sehr große Kreativität, was auf eine Verlängerung dieses Blutvergießens hinausläuft: Es werden Waffen geliefert. „Freiwillige“ werden nicht wirkungsvoll gehindert, in den Krieg zu ziehen. Parallel wurde ein Sanktionsregime etabliert, dass nicht der Kriegsabschreckung dient, sondern auf die massive Destabilisierung Russlands zielt, um den Preis der Destabilisierung der EU. Denn die tiefen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen der EU und Russland machen nicht nur Russland verletzbar. Zumal inzwischen mit US-amerikanischer Nachhilfe auch die Energieversorgung ins Visier kommt, die über Jahrzehnte außerhalb der Konfrontation stand. Auch in Hochzeiten des Kalten Krieges war die Energieversorgung kein Kampfinstrument. Heute ist das nicht mehr sicher. Nichts ist mehr sicher.
Wenn wir über den Horror des Krieges hinausblicken, die geopolitische Lage betrachten, dann läuft alles auch auf eine massive Beschädigung der europäischen Integrationsidee hinaus. Dadurch wird der Friedenschluss einstiger Erbfeinde (Frankreich und Deutschland) entwertet und zur Ausnahme von der Regel erklärt. Dadurch erscheint Frieden mit Russland zukünftig nicht länger gewollt. Mit einem Paria verständigt man sich nicht. Das ist, was kommunikativ jeden Tag über uns hereinbricht, aber das ist auch, was wir fürchten sollten: die endgültige Abnabelung Russlands von Europa.
Die Strategie der USA liegt auf dem Tisch: Die Ukraine wird geopfert, um im Gegenzug den russischen Kontrahenten substantiell zu schwächen, wenn nicht sogar zu vernichten. Es gehört nicht viel politischer Weitblick dazu, um zu erkennen, dass die Destabilisierung einer nuklearen Supermacht ein Spiel mit dem Feuer ist. Zumal nach wie vor möglich ist, dass dieser Krieg völlig außer Kontrolle gerät. Die Gefahr wächst, dass dieser Krieg sich ausweitet. Es gibt genug Stimmen in westlichen Staaten, die ein militärisches Eingreifen verlangen. Noch stehen der US-amerikanische Präsident und das Pentagon dagegen, weil dort klar ist, dass dieser Schritt alle in den Abgrund reißt. Aber wie lange noch?
Unter diesen Umständen muss man fragen: Was ist die Strategie der EU? Welches Interesse haben wir an der Fortsetzung des Schlachtens in der Ukraine, anschwellenden Flüchtlingsströmen und Sanktionen, die die deutsche und europäische Wirtschaft in die Depression reißen werden. Wo bleibt die autonom agierende EU, die mit einer Friedensinitiative das Heft des Handelns an sich reißt und den nach Krieg Dürstenden entschlossen entgegentritt. Sonst verlieren wir Europa.