Im Januar 2016 wurde das Mandat zur deutschen Beteiligung an der UN-Mission MINUSMA durch den Bundestag von 150 auf 650 Kräfte erhöht. Bereits im folgenden Jahr erfolgte eine weitere Aufstockung auf 1.000 – aktuell sind es 1100. Hinzu kommen aktuell bis zu 600 deutsche Kräfte im Rahmen der EU-Ausbildungsmission EUTM Mali (sowie – höchstwahrscheinlich – nicht mandatierte Einsätze von Spezialkräften). Es lohnt sich, die damaligen Debatten im Bundestag noch einmal nachzulesen. Nils Annen von der SPD etwa behauptete dort, es gehe bei diesem Engagement um den Versöhnungsprozess in Mali, aber ebenso um eine wirtschaftliche und eine politische Stabilisierung der gesamten Sahelregion. Zudem sprach er – wie viele andere Abgeordnete – vom „Schutz der Bevölkerung“. In der Debatte war zugleich viel von Solidarität die Rede, so von „Solidarität mit den Vereinten Nationen, mit Frankreich, mit den Niederlanden“. Zum Auftakt der Debatte hatte auch die damalige Verteidigungsministerin und heutige EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen zunächst wortgewaltig humanitäre Argumente ins Feld geführt und dann darauf hingewiesen, dass der Einsatz „auch unseren eigenen Sicherheitsinteressen [hilft], weil er den Terror eindämmt, aber auch deshalb, weil Mali ein entscheidendes Herkunfts- und Transitland bei Fluchtbewegungen ist“. Das populistische und zumindest in Teilen unwahre Argument der Migrationsbekämpfung spielte in der Argumentation der Befürworter insgesamt eine gewichtige Rolle – wie auch der Kampf gegen den Terrorismus. In ihrer „ethischen Begründung“ hat Elisabeth Motschmann, Unionsfraktion, später klargestellt, dass der Einsatz deutscher Streitkräfte dem Prinzip der „Ultima Ratio“ entspreche, dass er also das „letzte Mittel“ darstelle, das zur Erreichung der genannten Ziele zur Verfügung stünde.
Das Potpourri der angeführten Ziele ist für Auslandseinsätze so typisch, wie fragwürdig: Versöhnung und Schutz der Zivilbevölkerung, Terror- und Migrationsbekämpfung, Solidarität mit Frankreich und der UN – und implizit natürlich eine stärkere Stellung Deutschlands in der Welt. All das soll mit einem Mittel erreicht werden, das noch dazu das einzige, das letzte Mittel ist: Der Einsatz von Streitkräften. Dabei sind die bis zu 1700 deutschen Kräfte in Relation zu setzen zu den riesigen und teilweise schlecht erschlossenen Flächen Malis und der Region, zu den komplexen Problemen einschließlich Landkonflikten, Vertreibung, Hunger und den Folgen des Klimawandels, Religions- und Generationenkonflikten. Diese Relation verändert sich auch dann nicht qualitativ, wenn man die knapp 6000 für den Kampfeinsatz vorgesehenen Kräfte der französischen Operation Barkhane und der EU Task Force Takuba hinzuzählt oder die fast 15.000 Kräfte der UN-Truppe MINUSMA, welche die flächendeckende militärische Infrastruktur stellen. Dies gilt selbst unter der Annahme, dass sie alle dieselben Interessen und zwar die oben genannten verfolgen.
Welche Logik liegt also der Entsendung von 1700 Kräften nach Mali tatsächlich zu Grunde? Geht es darum, ein weiteres deutsches Fähnchen auf einer Karte des afrikanischen Kontinents abzubilden, dadurch die deutsche Führungsrolle innerhalb der EU zu untermauern und damit auch Ressourcen und Zugang zu Märkten zu sichern? Geht es für manche auch darum, angesichts einer humanitären Notlage Handlungsfähigkeit zu suggerieren und anderen darum, Geschäfte zu machen? Wahrscheinlich ist das alles wahr. Das all diesen genannten Zielen zugrunde liegende Prinzip, die Hebelwirkung einer Intervention mit einigen hundert oder tausend Kräften besteht darin, eine amtierende oder eingesetzte Regierung zu stabilisieren, indem man ihr die Souveränität verleiht, ihrer Stationierung zuzustimmen.
Dies hat eine lange Geschichte. Jüngere Beispiele reichen von der Stationierung von zunächst knapp 5.000 Kräften im Rahmen der ISAF zur Sicherung der zuvor auf dem Bonner Petersberg eingesetzten Interimsregierung für Afghanistan über Somalia und Libyen. Hier erfolgte die Stützung der jeweils äußerst prekären und nicht demokratisch gewählten Regierungen sogar zunächst ohne „Boots on the Ground“ dadurch, dass man sich von ihnen Marinemissionen in ihren Küstengewässern erlauben ließ. Zu dieser Geschichte gehören auch viele westafrikanischen Staaten, darunter Mali. Die französische Intervention („Serval“) Anfang 2013, welche die Kaskade internationaler, westlich dominierter Truppenstationierungen einleitete, erfolgte auf Einladung einer aus einem Putsch hervorgegangenen Regierung. Es folgten Wahlen, die nicht wirklich demokratisch waren, aber Regierungen hervorbrachten, welche einerseits die westliche Truppenpräsenz legitimierten und zugleich (Überraschung?) als korrupt wahrgenommen wurden. Es folgten Putsche in Mali selbst und im Tschad (beziehungsweise die Übernahme durch den Generalstab und die Einsetzung des Sohnes des verstorbenen Präsidenten), welche die EU und Deutschland kaum bis mäßig kritisierten und sanktionierten – weil beide die westliche Stationierung und militärische Unterstützung weiterhin begrüßten. Die Bundeswehr bildete weiter die malische Armee aus, lieferte ihr im Rahmen der Ertüchtigungsinitiative Ausrüstung und baute die militärische Infrastruktur aus. Auch die EU hielt an ihren Ausbildungsmissionen für die malische Armee (EUTM) und robuste Polizeikräfte (EUCAP Sahel Mali) fest.
Entgleiste Souveränität
Der Ton zwischen Berlin, Brüssel, Paris und Bamako wurde jedoch in dem Moment deutlich schärfer, als die malische Putschregierung Ende 2021 ihre so gewonnene Souveränität auch nutzte, um russische Kräfte einzuladen, sie zu schützen („stabilisieren“), auszubilden und im Land den Terror zu bekämpfen. Vor allem Frankreich zeigte sich erbost, drohte mit dem Abzug seiner Truppen und leitete tatsächlich deren Reduzierung ein. Kurz darauf gab die malische Putschregierung bekannt, dass sie die international geforderten, aber äußerst unrealistisch auf Februar 2022 terminierten Wahlen um bis zu fünf Jahre verschieben würde. Daraufhin erließ die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS mit Unterstützung aus der EU scharfe Sanktionen gegen Mali. Auch die deutsche Außenpolitik zeigte sich deutlich konfrontativer. Viel mehr, als ihrerseits über den Abzug oder die Reduzierung der deutschen Truppen in Mali zu diskutieren, blieb ihr aber nicht übrig. Hier zeigt sich die Kehrseite davon, bei der Einflussnahme bzw. Stabilisierung primär auf die militärische Karte zu setzen: Mehr als den Abzug dieses „letzten Mittels“ und die Einstellung ihrer militärischen Unterstützung haben EU und Bundesregierung schlicht nicht anzubieten. Selbst diese Drohung erweist sich jedoch dadurch als hohl, dass mit Russland ein globaler Rivale bereitsteht, der nur zu gerne die Rolle übernimmt, die zuvor Frankreich, Deutschland und die EU gespielt hatten. In jenen Teilen der malischen Bevölkerung, die gelegentlich auch hierzulande wahrgenommen werden, kommt das sogar ganz gut an. Diese hatten zunächst, nach 2013, große Erwartungen in die französisch-europäische Truppenpräsenz gelegt, die sich durchaus mit den einführend zitierten Versprechungen im Bundestag deckten – aber grandios enttäuscht wurden. Die Unsicherheit und auch ökonomische Misere im Land hat seit dem kontinuierlich und dramatisch zugenommen. Die enttäuschten Erwartungen schlugen zunehmend in Wut auf die ehemalige Kolonialmacht Frankreich um, was sicherlich von entsprechenden Informationskampagnen aus Russland unterstützt wurde.
Wie wenig Drohpotential ein europäischer Rückzug birgt, wurde deutlich, als kaum die ersten russischen Kräfte eingetroffen waren. Die bislang vom Westen unterstützte malische Putschregierung nutzte ihre Souveränitätsrechte, um die Flugbewegungen der MINUSMA einzuschränken und EU-Spezialkräfte auszuweisen: Ein deutscher Militärtransporter A400M aus Wunstorf mit 75 Soldat:innen an Bord erhielt keine Überfluggenehmigung nach Niger und musste auf den Kanaren landen, dänische Spezialkräfte der Task Force Takuba wurden zur Ausreise aufgefordert, weil kein Vertrag über ihre Rechte und Pflichten als bewaffnete ausländische Kräfte (Status of Forces Agreement) vorliegt. So ein Abkommen macht durchaus Sinn, wenn quasi täglich bewaffnete Kräfte aus anderen Staaten mit Waffen und Munition ein- und ausreisen, Menschen erschießen, festnehmen und „verhören“ dürfen – ohne nach lokal geltendem Recht dafür strafbar zu sein. Dass nun aber eine afrikanische Regierung gegenüber europäischen Staaten darauf beharrt und keine schnelle, unbürokratische Lösung anbietet, ist Ausdruck eines Souveränitätsverständnisses, das der vermeintlich um „Stabilität“ besorgten EU nicht schmeckt.
Grandioses Dilemma
Es ist ein spektakuläres Dilemma, in dem EU, Frankreich und die Bundesregierung nun stecken. Sie haben die Wahl, entweder weiter eine Putschregierung zu unterstützen, die sie jedoch nicht kontrollieren können und die sich stärker an Russland orientiert – oder abzuziehen und Russland völlig das Feld zu überlassen. Letzteres wäre an Dramatik kaum zu überbieten. Dass Frankreich seine über Jahrzehnte aufrechterhaltene Vormachtstellung in der Region von heute auf morgen einbüßt, war bis vor kurzem kaum denkbar. Auch für die um Weltgeltung bemühte EU wäre der Rückschlag enorm, hatte sie den Sahel doch als natürlichen Hinterhof wahrgenommen und nirgendwo sonst so umfangreiche Strategien zur Stabilisierung konzipiert und exekutiert. Wie es aktuell aussieht, könnte eben das dazu führen, dass Russland geradezu handstreichartig mit einigen hundert bewaffneten Kräften und begleitenden Informationskampagnen im vermeintlichen Hinterhof Europas die Vorherrschaft übernehmen kann. Geschehen ist das bereits in der Zentralafrikanischen Republik (ZAR), ebenfalls traditionelles Einflussgebiet Frankreichs und Schauplatz bereits mehrerer EU-Militäreinsätze. Seit 2017 sichern dort russische Beratung, Rüstungslieferungen und Söldner der Wagner-Gruppe das überleben der Regierung – die in diesem Falle gewählt wurde (allerdings unter prekären Bedingungen – wie viele anderen, vom Westen unterstützte und vermeintlich „demokratische legitimierte“ Regierungen). In der IMI-Studie 2021/8 („Der Wettstreit um Zentralafrika“) hieß es bereits: „Russland demonstriert in der ZAR, wie auch in Libyen und Syrien, dass es in der Lage ist, autoritäre Präsidenten gegen innenpolitischen Druck zu unterstützen, womit es nahe an den Interessen lokaler Potentaten ist. Russland macht für sich als Alternative zu westlichen Unterstützern in der ZAR Werbung und könnte so das Interesse anderer autoritärer Regierungen wecken, um so weiteren Einfluss in der Region zu erlangen und ggf. Frankreich den Rang abzulaufen“. Eben dies deutet sich nun nach Mali in Burkina Faso an: Hier soll unmittelbar nach dem Putsch vom 24. Januar 2022 – der auch sonst einige Ähnlichkeiten zu Mali aufweist – ein Angebot aus dem Umfeld der Wagner-Gruppe zur Unterstützung/Stabilisierung der dortigen Putsch-Regierung erfolgt sein.
Anderer Akteur, ähnliche Strategie
Das Dilemma der EU verschärft sich dadurch, dass Russland in ihrem vermeintlichen Hinterhof letztlich sehr ähnlich vorgeht wie zuvor die EU und man dieses Vorgehen deshalb gar nicht so leicht anprangern kann. Auch die EU hat auf Einladung von Putschregierungen Truppen stationiert und militärische Ausrüstung geliefert oder diese zumindest nach Machtübernahmen des Militärs nicht beendet. Auch Frankreich und die EU haben in den betreffenden Ländern eine militärische Bekämpfung des Terrorismus propagiert und durchgeführt und damit den Autoritarismus befördert. Sie beschrieben sich dabei als Teil einer internationalen Gemeinschaft, eines internationalen Krisenmanagements, und tatsächlich basierte die Legitimierung ihrer Einsätze wesentlich auf den Mandaten der UN-Truppe MINUSMA – die von Russland mitgetragen wurden. Wenn nun Russland mit ähnlichen Mitteln wie die EU beim internationalen Krisenmanagement die Führung übernimmt, kann man dies kaum als Aggression darstellen.
Aktuell behilft sich die europäische Politik damit, insbesondere mit Verweis auf die ZAR auf die dort vermeintlich von den Wagner-Einheiten begangenen Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen und deren Charakter als „Söldner“ zu unterstreichen. Beides hat eine gewisse Berechtigung. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass auch die französischen Truppen in Mali keineswegs zimperlich vorgingen und zum Beispiel Anfang 2021 eine Hochzeitsgesellschaft bombardiert hatten. Auch von der malischen Armee wurden in all den Jahren, in denen sie Unterstützung von der EU erhielt, immer wieder Massaker begangen. Der Unterschied in der hiesigen Berichterstattung scheint allerdings darin zu bestehen, dass die lokalen Kräfte in dem einen Fall trotz der europäischen Unterstützung und im anderen Falle wegen der russischen Unterstützung Menschenrechtsverletzungen begehen. Dass es sich bei den bewaffneten russischen Kräften in Mali um Söldner handelt, dementiert die dortige Putschregierung, scheint jedoch glaubwürdig. Bemerkenswert ist aber die Betonung des spezifischen Begriffs „Söldner“ in diesem Zusammenhang – während bei westlichen Interventionen meist eher von „Beratern“, „Ortskräften“ oder „Contractors“ die Rede ist.
All dies soll das russische Vorgehen nicht verharmlosen. Es ist ebenso zu kritisieren, wie das vorangegangene, auf militärische Mittel setzende und vor Ort den Autoritarismus stärkende „Engagement“ Deutschlands und der EU. Und ebenso wie dieses zielt es nicht primär auf „den Schutz von Menschen“ oder andere humanitäre Ziele ab, sondern auf schnöde Geopolitik. Dies wird in den kommenden Wochen umso deutlicher werden, wenn europäische Politik die Fortsetzung ihrer Truppenpräsenz damit begründet, dass man Russland nicht das Feld überlassen dürfe.
Das gefährlichste am russischen Vorgehen ist dessen kurzfristiger Erfolg. Mit einigen hundert Söldnern und Soldaten und einigen Informationskampagnen droht es Frankreich und der EU in deren klassischem Einflussbereich den Rang abzulaufen. Dies ist auch eine grandiose Demütigung der nach Geltung strebenden EU – nachdem die westliche Wertegemeinschaft schon in Syrien eine schwere Schlappe einstecken musste, weil Russland intervenierte. Eine Retourkutsche zur Zurückdrängung des russischen Einflusses wird immer wahrscheinlicher und womöglich hat die Eskalation rund um die Ukraine auch tatsächlich mehr mit Syrien, Mali und der Zentralfrikanischen Republik zu tun, als bislang diskutiert wird. Aber auch davon abgesehen könnte sich Russlands aktuell hochgradig effektiv wirkender Einflussgewinn auf dem afrikanischen Kontinent auch selbst als Pyrrhussieg entpuppen. Denn auch Russland wird es nicht mit ein paar hundert Soldaten schaffen, die Probleme und Konflikte in der Region zu lösen, selbst wenn entsprechende Hoffnungen vor Ort nun geweckt sind. Auch in der ZAR zeigt sich zunehmend, dass Russland zwar eine autoritäre Regierung in der Hauptstadt stabilisieren kann, mehr aber auch nicht. Enttäuschte Hoffnungen führen dort zu einer wachsenden Ablehnung der russischen Präsenz. Es ist durchaus realistisch, dass auch in Mali und der ganzen Sahel-Region die Stimmung wieder kippt und das russische „Engagement“ auf Dauer zu teuer wird. Wünschenswert wäre, dass bis dahin andere Mittel gefunden und entwickelt werden, um die Probleme zu lösen – sowohl in der EU als auch vor Ort. Militärisch ist dort nichts zu gewinnen.
Leicht gekürzt: IMI-Standpunkt 2022/03. Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Mehr Informationen über die Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. hier.
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