25. Jahrgang | Nummer 5 | 28. Februar 2022

Rückruf in die Geschichte

von Erhard Crome

Meine Großmutter mütterlicherseits stammte aus einer Mennonitenfamilie, die nach dem Gründerkrach 1873 nach Russland ausgewandert war. Sie wurde in der Ukraine in einer wohlhabenden Unternehmerfamilie geboren. Die dort lebenden Deutschen trugen dazu bei, die Modernisierung und Industrialisierung Russlands voranzubringen. Am 2. August 1914, einen Tag nach der Kriegserklärung Deutschlands gegen Russland, wurden sie – wie alle mit „reichsdeutschem“ Pass – enteignet, mussten innerhalb von zwei Stunden ihr Haus verlassen und durften nur maximal 20 Kilogramm Gepäck mitnehmen; die Enteignungen hatten die Bolschewiki nicht erfunden, sondern nur gegenüber „eigenen“ russischen Privateigentümern fortgesetzt, was der vorherige Staat begonnen hatte. Die Familie war dann in Baschkirien interniert. Dort flohen sie nach der Revolution und kamen 1920 in Deutschland an.

Daran musste ich denken, als die Nachrichten immer weitere „Sanktionen“ des Westens gegen Russland vermeldeten. Der britisch-amerikanische Historiker Adam Tooze hatte bereits im Januar betont, Russland habe nicht nur militärisch Gewicht in der Welt, sondern sei als „strategischer Petrostaat“ ein viel zu großer Teil der globalen Energiemärkte, als dass Sanktionen „nach iranischem Vorbild möglich wären“. Russland verfüge über die viertgrößten Devisenreserven der Welt, was Putin „strategische Handlungsfreiheit“ gebe.

In einem militärischen Krieg ist in der Regel Bewegung. Im Sanktionskrieg dagegen kann jedes Mittel nur einmal eingesetzt werden, dann ist es verbraucht: „Nordstream 2“ kann nur einmal abgesagt werden, dann nie wieder. Zudem hatte Russland daran bisher nichts verdient, kein Gas ist dort durchgeflossen; Russlands Devisenpolster ist ohne diese Leitung angelegt worden, trifft das Land also nicht aktuell.

Hinzu kommt: Russland ist Meister in der „Retorsion“, wie es im Völkerrecht heißt: Weist du zwei meiner Diplomaten aus, weise ich zwei deiner Diplomaten aus. Wenn der Westen lange genug an der Sanktionsschraube dreht, gar Eigentum russischer Bürger im Westen konfisziert, fällt der russische Blick auf das westliche Eigentum in Russland. Dann sind wir wieder im August 1914. Allerdings hatte nach Angaben der Deutschen Bundesbank der Bestand russischer Investionen in Deutschland 2021 einen Wert von 2,6 Milliarden Euro, der der deutschen Investionen in Russland 23,7 Milliarden Euro. Vielleicht ist aber die Reduzierung deutscher Auslandsinvestionen hinterhältiger Zweck US-amerikanischer Sanktionspolitik. Nur scheint das in Deutschland außer dem Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft niemand zu begreifen.

Der Westen will aus der Geschichte nichts lernen, Wladimir Putin dagegen übt sich im Beschwören des Rückrufs in die Geschichte. Seine Rede an die Nation am 21. Februar zielte weiter, als „nur“ auf die Anerkennung der beiden „Volksrepubliken“ im Donbass. Das Ende der Sowjetunion hatte er 2005 „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ genannt. Im Westen wurde gerätselt, was er meinte. Bereits Anfang der 1990er Jahre verwiesen russische Nationalisten darauf, unter den Zaren sei das Reich in Gouvernements eingeteilt gewesen. Die waren nicht nach nationalen, ethnischen oder religiösen Gesichtspunkten organisiert, sondern Verwaltungseinheiten, auch wenn in den einen stärker diese und in anderen stärker jene Nationalität lebte. Verwaltungseinheiten können aus dem Gesamtstaat nicht austreten. Hauptfehler der Kommunisten sei es gewesen, dass sie das ganze Land in national definierte Sowjetrepubliken umgewandelt hatten. Nur so konnten deren Anführer 1990 auf die Idee kommen, aus der Union auszutreten.

Diesen Gedanken griff Putin später auf. Am 21. Januar 2016 sagte er auf einer Sitzung des Rates für Forschung und Bildung der Russischen Föderation, mit dem Denken im Sinne einer Autonomisierung legten die Bolschewiki „eine Atombombe unter das Gebäude, das Russland heißt, und die zerriss es dann auch“, und setzte hinzu: „Und die Weltrevolution haben wir auch nicht gebraucht.“ In diesem Sinne hatte er zum Beginn des ersten Weltkrieges erklärt, Russland sei der Sieg durch diejenigen gestohlen worden, die politische Zwietracht gesät und aus Machtgier die nationalen Interessen verraten hätten. Gerade in Krisen- und Kriegszeiten bedürfe Russland einer starken und geeinten Führung, der das Volk uneingeschränktes Vertrauen entgegenzubringen habe. In diesem Sinne deuteten Putin und sein Gefolge drei Jahre später die beiden russischen Revolutionen von 1917: sie wurden mit Erschütterung, Kontrollverlust und Chaos negativ konnotiert. Die Februarrevolution galt als „erste Farbenrevolution“, um „unrussische“ liberale Gesellschaftsentwürfe ins Land zu bringen.

Insbesondere kritisierte er „die Rolle der bolschewistischen Partei bei der Zersetzung der russischen Front im ersten Weltkrieg. Und was haben wir davon gehabt? Wir haben gegen ein Land verloren, das ein paar Monate später selbst kapituliert hat. Und wir waren die Unterlegenen der Verlierer – eine in der Geschichte einmalige Situation. Und wofür das alles? Um des Kampfes um die Macht willen.“ Was hieß, Russland hätte den Krieg damals fortsetzen sollen, um ihn nicht gegen die Deutschen zu verlieren, die dann die Verlierer waren. Es hätte in Versailles mit am Tisch der Sieger gesessen. Die Kommunisten kamen nur an die Macht um den Preis der herbeigeführten Niederlage Russlands.

Insbesondere die Entscheidung der Bolschewiki in Sachen Autonomierechte sei falsch gewesen: kulturelle Autonomie wäre gut gewesen, das Recht auf Austritt aus der Sowjetunion dagegen war die „Sprengladung“, die die Sowjetunion zerstört habe. Hinzu kam – so weiter Putin bereits 2016 – die willkürliche Festlegung der Grenzen, wodurch zum Beispiel der Donbass zur Ukraine gekommen sei. Eine solche Aussage ist richtig und zugleich unhistorisch. Die „nationale Frage“ hätte Russland nach 1917 genauso zerstört, wie sie die Habsburger Monarchie und das Osmanische Reich zerlegt hat. Insofern war der von den Bolschewiki vertretene Internationalismus, der die Schaffung national definierter Staatlichkeiten in der Sowjetunion einschloss, die Möglichkeit, die „russische Erde“ nach Krieg und Bürgerkrieg wieder einzusammeln. Bedingung dafür war die Macht der Kommunistischen Partei. Deren Fall brachte nationale Egoismen wieder zum Vorschein. An der Spitze allerdings stand der Egoismus von Boris Jelzin, Michail Gorbatschow zu entmachten, indem er die Union zerstörte.

Die Grenzen der Sowjetrepublik Ukraine waren in der Tat willkürlich. Nachdem Stalin 1945 die Westausdehnung der Sowjetunion erreicht hatte, wurden jene Gebiete um Lwiw / Lemberg, die nie russisch waren, sondern polnisch oder österreichisch, mit der historischen russischen Ukraine um Kiew und dem Donbass zusammengelegt, um eine russisch und sowjetisch zuverlässige Bevölkerungsmehrheit zu sichern. (Das war keine russische Erfindung: Preußen hatte das nach der Einverleibung zuvor sächsischer Gebiete 1815 auch so gemacht.) Hinzu kam, dass der ukrainisch-stämmige Parteichef Nikita Chruschtschow 1954 die russische Krim der Ukraine „schenkte“.

Die Ukraine, die 1991 unabhängig wurde, war in sich gespalten. Der früher nicht-russische Westteil des Landes schielte nach Westen und der zuvor russische Osten wollte die Bindungen an Russland nicht verlieren. Die faschistischen Kampfgruppen, die 2014 auf dem Kiewer Maidan die Polizeikräfte der rechtmäßigen ukrainischen Regierung unter Präsident Wiktor Janukowytsch schlugen, waren, wie unabhängige Journalisten bereits damals recherchiert hatten, seit den 1990er Jahren in der Westukraine illegal mit US-amerikanischer Finanzierung ausgebildet worden. Die geopolitische Not-Reaktion Russlands, die Krim in die Russische Föderation einzugliedern und die „Volksrepubliken“ der russischen Nationalisten im Donbass zu unterstützen, veränderte das politische Kräfteverhältnis innerhalb der real verbliebenen Ukraine nachhaltig. Der Wegfall der pro-russischen Wähler von der Krim und im Osten ermöglicht den pro-westlichen Parteien seit 2014 eine dauerhafte strukturelle Mehrheit, was durch die Unterdrückung russischsprachiger Medien sowie das Verbot der Kommunistischen Partei und weiterer, als „separatistisch“ eingestufter politischer Parteien 2015 noch verstärkt wurde.

Vieles in Putins Rede am 21. Februar war nicht neu, aber auf den Anlass bezogen neu zusammengeführt. Er unterstrich, dass die Leninschen Prinzipien des Staatsaufbaus nicht einfach ein Fehler, sondern schlimmer als ein Fehler waren, wie sich beim Zerfall der Sowjetunion zeigte. Wenn man in Sachen Ukraine die „Dekommunisierung“ vorantreiben wolle, gehe es nicht nur um Lenindenkmäler, sondern um die falschen Entscheidungen im Staatsaufbau. Das war ein Alarmzeichen. Die Signale wurden auf Krieg gestellt.

Der Rückruf hat, nachdem der Westen alle Forderungen Russlands seit Ende 2021 abgelehnt hatte, noch eine andere Dimension. Ivan Krastev und Stephen Holmes hatten in ihrem Buch: „Das Licht, das erlosch“ (2019) geschrieben, dass Russland nach 2011 dazu übergegangen war, die westliche Außenpolitik selektiv und brutal zu spiegeln. So hätte sich Russland offen und zugleich abgestritten in die Wahlen 2016 in den USA eingemischt, nicht um einen bestimmten Kandidaten durchzubringen, sondern um den US-Amerikanern vorzuführen, wie sich ein Volk fühlt, wenn sich äußere Mächte frech und ungeniert in seine politischen Verhältnisse einmischen, wie es in Russland in den 1990er Jahren geschah. In diesem Sinne verlief der Aufmarsch russischer Truppen gegen die Ukraine und dann der Militärschlag genau nach dem Drehbuch, dem die USA und ihre Kriegswilligen in den Kriegen gegen Jugoslawien, Irak und Libyen gefolgt waren. Ebenfalls gegen das Völkerrecht und gegen die Warnungen anderer Staaten. Damals musste sich Russland mit Protesterklärungen zufrieden geben. Jetzt der Westen. Der wird jedoch am Ende nicht darum herumkommen, mit Russland ernsthaft über ein tragfähiges System kollektiver Sicherheit in Europa zu verhandeln.