24. Jahrgang | Nummer 26 | 20. Dezember 2021

Wertegeleitet?

von Erhard Crome

Was ist eigentlich eine „wertegeleitete Außenpolitik“? Wer vertritt zu welchem Behufe welche Politik? Für Joseph Goebbels ging es bei der Eroberung Russlands ganz offen ausgesprochen um Kohle, Erz und Getreide; da war eindeutig, um welche „Werte“ es ging. Bei George W. Bush war klar, dass es bei den Kriegen in „Greater Middle East“ nicht um „Freedom and Democracy“ ging, sondern um Geopolitik und Öl. Als Donald Trump 2016 seine Präsidentschaftskandidatur ankündigte, machte er zur Außenpolitik geltend, dass diese Politik die gesamte Region des Nahen Ostens ins Chaos gestürzt hatte und es Zeit sei, mit der jahrzehntelangen Interventionspolitik zu brechen. Das „alles begann“, sagte er, „mit der gefährlichen Idee, wir könnten aus Ländern westliche Demokratien machen, die weder Erfahrungen damit hatten noch daran interessiert waren, westliche Demokratien zu werden“. Die USA müssten „aus dem Geschäft des nation-building“ in anderen Ländern „aussteigen“ und auf „Stabilität in der Welt“ zielen.

Präsident Joseph Biden, der seinen Wahlkampf als Anti-Trump inszeniert hatte, erklärte im Sommer 2021 zum Abzug aus Afghanistan: Bei dieser Entscheidung „geht es nicht nur um Afghanistan. Es geht darum, eine Ära großer Militäroperationen zur Umgestaltung anderer Länder zu beenden.“ Damit setzte er die strategische Grundlinie Trumps fort. Das aber bedeutete nicht, auch die Politik zur „Umgestaltung anderer Länder“ zu beenden. Bereits Trump verstärkte die verschiedenen Druckmittel unterhalb der Schwelle des „heißen“ Krieges: Aufrüstung, Strafzölle, Sanktionen, politischer Druck, diplomatische Erpressungsmaßnahmen. Alles im Namen von Demokratie und Menschenrechten.

So hatte Biden Anfang Dezember 2021 zu einem weltweiten „Demokratie-Gipfel“ eingeladen, der angesichts von Corona per Video stattfand. Geladen waren an die 110 Staaten, die „autoritären“ Regierungen Russlands und Chinas selbstredend nicht, Ungarn ebenfalls nicht, dafür jedoch Polen, Bolsonaros Brasilien sowie die „demokratischen“ Staaten Pakistan und Philippinen. Die philippinische Journalistin Maria Ressa hatte gerade den Friedensnobelpreis erhalten für ihre Enthüllungen über das Duterte-Regime. Rodrigo Duterte aber war als „Demokrat“ bei Biden geladen. So ist völlig klar, „Demokratie“ ist hier nur eine Chiffre für Geopolitik und Einflusszonen. Saudi-Arabien und Ägypten waren nicht eingeladen – unter geopolitischen Gesichtspunkten brauchten sie das nicht, sie gehören ohnehin zum Dunstkreis der USA.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat an diesem virtuellen Gipfel ebenfalls teilgenommen. Das entsprach dem Bekenntnis „zur Stärkung des transatlantischen Bündnisses“ im Koalitionsvertrag. Von einem Treffen mit Duterte wurde nicht berichtet. Im Koalitionsvertrag heißt es auch: „Unsere Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik werden wir wertebasiert“ aufstellen.“ Und weiter: „Der Einsatz für Frieden, Freiheit, Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Nachhaltigkeit ist für uns ein unverzichtbarer Teil einer erfolgreichen und glaubwürdigen Außenpolitik für Deutschland und Europa.“ Hier ist eine spannende Frage, ob die Aufzählung auch eine Aufschlüsselung zum Thema „wertebasierter Außenpolitik“ ist.

Wenn die „Demokratie“-Kampagne der Washingtoner Regierung nur ideologische Verhüllung jener Politik ist, deren Ziel die Erhaltung des Supermacht-Status’ der USA im Kampf gegen China und Russland ist, dann gibt es eine Spannung zwischen dem Beschwören von „Freiheit, Menschenrechten und Demokratie“ und dem Erfordernis, den Frieden zu sichern. Das bedeutet, ein Deutschland, das sich vor den derzeitigen „Demokratie“-Karren der US-amerikanischen Globalpolitik spannen lässt, erweist dem Frieden einen Bärendienst. Transatlantische Nibelungentreue führt in der Friedensfrage auf die falsche Seite. Immerhin waren sich in Zeiten der Stationierung der Mittelstreckenraketen von NATO und Warschauer Vertrag auf deutschem Boden mal Erich Honecker und Hans-Dietrich Genscher einig, dass es eine deutsche „Verantwortungsgemeinschaft“ gibt und „das Teufelszeug“ weg muss. Verantwortung der Deutschen ist es heute, einer weiteren Zunahme der Spannungen der NATO und der EU gegenüber Russland und China, wie sie die USA, deren neu-alte Geopolitikerin Victoria Nuland und ein Jens Stoltenberg gerade betreiben, gegenzusteuern.

Der Koalitionsvertrag ist hier ambivalent und lässt unterschiedliche Deutungen zu. Annalena Baerbock, der von dem Meinungsforschungsinstitut Forsa im Auftrage von RTL und ntv gerade attestiert wurde, sie sei die am wenigsten für ihr Amt geeignete Ministerin der Ampel-Regierung, hat angesichts des lauten Geschreis im Westen gegen Russland gegenüber NATO-Generalsekretär Stoltenberg betont, Deutschland sei dafür, den NATO-Russland-Rat wiederzubeleben. Er war unter Verweis auf gewachsene Spannungen suspendiert worden, obwohl er doch zur Spannungsreduzierung einst geschaffen worden war. Nachdem die Staaten der „Anglosphäre“, die USA, gefolgt von Australien, Kanada, Großbritannien und Neuseeland, beschlossen hatten, 2022 keine diplomatischen Vertreter zu den Olympischen Winterspielen nach China schicken, raunte Baerbock zunächst, dem folgen zu wollen, erklärte dann aber, Olympische Spiele seien „ein Fest des Sports, da bereiten sich Sportlerinnen und Sportler jahrelang, manchmal ihr halbes Leben lang drauf vor, und deswegen sollte das jetzt nicht für politische Dinge oder Zeremonien genutzt werden“. Das war freundlich formuliert, gleichwohl eine Absage an das Ansinnen der USA-Regierung.

Bundeskanzler Scholz gab am 15. Dezember seine erste Regierungserklärung ab. Auch hier kam die Außenpolitik wieder hinten. Aber angesichts von Corona und der Anforderungen an eine innenpolitische Reformpolitik scheint dies naheliegend. Er erwähnte die Differenzen in der Menschenrechtsthematik im Verhältnis zu China, sprach sich jedoch für einen fairen wirtschaftlichen Wettbewerb aus. „Die chinesische Führung vertritt ihre Interessen mit großem Selbstbewusstsein. Deutschland und Europa haben allen Grund, unsere Interessen ebenso selbstbewusst und engagiert zu vertreten“, betonte er und fügte hinzu: „Wir müssen unsere China-Politik an dem China ausrichten, das wir real vorfinden.“ Das meint das realexistierende China, nicht das in den Thinktanks der USA und unter den deutschen Transatlantikern ausgedachte Schreckgespenst.

Aus dem Koalitionsvertrag lässt sich auch eine Agenda der friedlichen Koexistenz ableiten. Entscheidend ist, was die agierenden Politiker daraus machen. „Die Außenpolitik der SPD gestaltet sich unverändert in der Tradition von Willy Brandts Friedenspolitik“, sagte kürzlich der SPD-Außenpolitiker Nils Schmid. Das gelte ebenso im Umgang mit Russland wie China heute und komme auch im Koalitionsvertrag zum Ausdruck. „Für die SPD gelten bis heute unveränderte Leitvorstellungen. Das ist erstens das stete Bemühen um Frieden und Abrüstung – ein Ziel, das aktueller ist denn je. Zweitens ist es das klare Bekenntnis zum Dialog, auch unter schwierigsten Bedingungen. Es ist geprägt von der Erkenntnis, dass auch kleine Schritte der Entspannung zum Ziel führen können. Drittens ist es die klare Einbettung der deutschen Außenpolitik in die Westbindung – der Schulterschluss mit der EU und der NATO, ohne Alleingänge. Viertens ist es der Gedanke der Konfliktprävention, eines umfassenden Ansatzes, der Entwicklung, Frieden und Sicherheit in der Einen Welt zusammendenkt. Diese Leitgedanken begleiten uns auch heute noch in der Regierung.“ Wertegeleitete Außenpolitik muss keine Chimäre imperialistischer Außenpolitik sein. Sie kann auch dem Frieden dienen. Wenn der Frieden auf der Liste ganz oben steht. Das wäre dann zugleich das höchste Interesse der hiesigen Bevölkerung und darüber hinaus. So fallen eine wertegeleitete und eine interessengeleitete Außenpolitik zusammen.