24. Jahrgang | Nummer 26 | 20. Dezember 2021

Bemerkungen

Zukunftssehnsucht und Zukunftsfurcht

Wie sieht die Welt von morgen aus? Was ist technisch mach- und wünschbar, um sie für den Menschen erträglicher zu gestalten? Oder muss gar der Mensch an den wissenschaftlich-technischen Fortschritt „angepasst“ werden? Ist er letztendlich ein Irrweg der Evolution und die Maschinen sollten die Herrschaft über die Erde antreten? Gilt es Entwicklungen bewusst zu stoppen oder sind sie zu beschleunigen? Was könnten die Katalysatoren dafür sein?

Seit Jahrhunderten stellen sich Menschen diese Fragen. Ergebnis ist eine überquellende Fülle von Utopien, Dystopien, Science-Fiction, Fantasy und allen möglichen anderen Spielarten utopischen Denkens in Wissenschaft und Künsten aller Gattungen. Manches vor Kurzem noch Undenkbare ist inzwischen Realität, anderes scheiterte – oft ist man geneigt zu sagen „Gott sei Dank!“ – an der Macht der Naturgesetze.

Dennoch tragen klug dargelegte Visionen immer irgendwo zumindest ein Gran künftiger Realisierung in sich. Es führt schon eine Linie von Jules Verne über Konstantin Ziolkowski und Hermann Oberth zur sowjetischen Raumfahrt, der ISS und den Projekten der NASA. In letzter Konsequenz auch zu den noch abenteuerlich erscheinenden Plänen dauerhafter Mondstationen und der Besiedelung des Mars. Die militärische Komponente wurde übrigens auch von den kühnsten Träumern selten verschwiegen. Ob es allerdings wünschenswert ist, dass nach der Verwüstung der Erde die Menschheit gleichsam in die „Alien-Haut“ schlüpft und plündernd über andere Welten herfällt, steht auf einem anderen Blatt.

Das Berliner Museum für Kommunikation widmet sich in einer bemerkenswerten – leider viel zu wenig Beachtung findenden Sonderausstellung dem Thema „Technikvisionen zwischen Fiktion und Realität“. Vom Thema „Optimierung des Menschen“ – immer noch grandios der dichterische Wurf Mary Shelleys – über Fluch und Segen grenzenloser Kommunikation führt der Ausstellungsparcours zu diversen Versuchen der „Überwindung von Raum und Zeit“ bis hin zur bereits angedeuteten Suche nach neuen Welten. Auch auf diesem Planeten … Den Ausstellungsmachern gelang der schwierige Spagat zwischen optischer – auch hinsichtlich der aufgespürten Objekte – Attraktivität und intellektuellem Anspruch. Damit bietet sich die Schau zum Beispiel Familien förmlich an. Die Weihnachtsferien stehen vor der Tür …

Mir fiel übrigens auf, dass – lässt man die ideologische Tünche einmal beiseite – sich Visionäre in West wie Ost mit durchaus ähnlichen Fragen befassten und mitunter zu verblüffend ähnlichen Antworten gelangten. Auch die dabei zutage getretenen Konfliktlinien ignorierten den „Eisernen Vorhang“. Hier werden Menschheitsfragen verhandelt. Es ist bitter nötig, dass dies in einer noch breiteren Öffentlichkeit geschieht. Die Ausstellung des Museums für Kommunikation ist ein wertvoller Beitrag dazu.

Wolfgang Brauer

Back to Future. Technikvisionen zwischen Fiktion und Realität, Museum für Kommunikation Berlin, Leipziger Straße 16, 10117 Berlin, Dienstag 9–20 Uhr, Mittwoch bis Freitag 9–17 Uhr, Samstag, Sonntag und Feiertage 11–19 Uhr (24., 25., 31.12. und 1.1. geschlossen); bis 28. August 2022.

Wasser, das fließt …

Das verdienstvolle Label „Nordic Notes“ hat, wie es der Name andeutet, den Fokus auf Nordeuropa gelegt. Mit dem Trio AySay gelingt der Brückenschlag zwischen Skandinavien und der Türkei. Die dänische Folk-Band besteht aus dem Perkussionisten Aske Dossing Bendixen, dem Gitarristen Carl West Hosbond und der Sängerin Luna Ersahin. Die selbstbewusste Frontfrau sieht sich selbst als Grenzgängerin, denn ihre Mutter ist Dänin, ihr Vater ein aus der Türkei stammender Kurde. Und auf ihrem Debütalbum finden sich folgerichtig Lieder in dänischer, türkischer und kurdischer Sprache. Dessen Titel bezieht sich auf ein türkisches Sprichwort: „Su akar, yolunu bulur.“ („Wasser, das fließt, wird immer seinen Weg finden.“)

AySay präsentiert moderne Folkmusik, durchwebt mit orientalischen Klängen. Dabei findet etwa die Baglama Verwendung, ein in der Türkei häufig genutztes Saiteninstrument, auch unter dem Namen Saz bekannt. Die Band versucht mit ihren multikulturellen Liedern, basierend auf verschiedenen Sprachen und Kulturen, einen gemeinsamen Haltepunkt in einer Welt zu finden, die immer noch viel zu oft auf den bornierten Vorstellungen von nationaler Identität beharrt. Ihre Musik erweist sich erfreulicherweise nicht als artifizielles Kunstprodukt, sondern als eine bereichernde Kulturmischung. AySay selbst formuliert die musikalische Botschaft folgendermaßen: „Diese Songs ziehen dich von den nebligen nordischen Ebenen in die warme, trockene Luft der Berge Anatoliens. Sie suchen die Verschmelzung zwischen dem, was man weiß, und dem, was man nicht weiß.“

Thomas Rüger

AySay: „Su Akar“, CD, Label Nordic Notes, 2021, etwa 15,00 Euro.

Blätter aktuell

Als Joe Biden sein Amt als Präsident der USA antrat, verband er dies mit dem Versprechen, das gespaltene Land zu versöhnen. Ein Jahr später fällt die Bilanz ernüchternd aus, schreibt der Politikwissenschaftler Thomas Greven. Niedrige Zustimmungswerte, eine zerstrittene Partei, Mobilisierungsprobleme, aber vor allem das demokratiegefährdende Agieren der Republikaner lassen einen Sieg der Demokraten bei den Midterm-Wahlen im November 2022 in weite Ferne rücken – und drohen Biden zu blockieren.

Seit dem Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021 ist klar: Die Demokratie in den USA gerät zunehmend ins Wanken. Wer verstehen will, wie es so weit kommen konnte, muss den Einfluss der religiösen Rechten begreifen, argumentiert die Journalistin Annika Brockschmidt. Befeuert von Donald Trumps Lüge vom Wahlbetrug bestimmt sie längst den Kurs der Republikanischen Partei. Ihr Ziel: die Errichtung einer durch und durch christlichen Nation.

Spätestens seit dem unrühmlichen Ende des Afghanistan-Einsatzes ist klar: Die Sicherheitspolitik des Westens steckt in einer tiefen Krise. Doch wie kann eine deutsch-europäische Sicherheitspolitik aussehen, die der globalen Mächteverschiebung und dem Bedeutungszuwachs von Klimawandel und Pandemien Rechnung trägt und den Frieden in der Welt befördert? Der Friedens- und Konfliktforscher Michael Brzoska plädiert für mehr Zurückhaltung und mehr Kooperation – auch mit illiberalen Staaten.

Dazu weitere Beiträge, unter anderem: „Bürgergeld statt Hartz IV: Die übertünchte Großbaustelle“, „Erdoğans Endspiel“ und „Leere unterm Tannenbaum: Die Krise der Lieferketten“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Dezember 2021, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

Nach dem Video-Gipfel der Präsidenten Putin und Biden sowie aus allem, was darüber bisher bekannt geworden ist, gelangt Rainer Rupp zu der „Schlussfolgerung […], dass in dieser heutigen, umgekehrten ‚Kuba-Krise‘ die Russen die stärkeren ‚Argumente‘ haben und sich die Machthaber in Kiew wohl ihre Träume von einer NATO-Mitgliedschaft ein für alle Mal abschminken können. Denn bevor es soweit kommen könnte, hätte Russland bereits eingegriffen und die Ukraine hätte aufgehört, in ihrer gegenwärtigen politischen Form zu existieren. Und auf militärische Hilfe von den USA samt NATO würde Kiew vergeblich warten.“

Rainer Rupp: Gespräch zwischen Biden und Putin hat gordischen Knoten der Ukraine-Krise durchtrennt, de.rt.com, 10.12.2021. Zum Volltext hier klicken.

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„Das ‚Great Game‘ um das postamerikanische Afghanistan hat bereits begonnen“, schreibt Jean-Luc Racine und fährt fort: „Nachbarn und Regionalmächte versuchen, die neuen geo­politischen Realitäten zu ihren Gunsten zu nutzen. Um die Taliban werben sie mehr oder weniger offensiv, sie alle eint die Angst vor einem Erstarken des Terrorismus.“

Jean-Luc Racine: Pokern um Afghanistan, monde-diplomatique.de, 09.12.2021. Zum Volltext hier klicken.

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Auf einer Veranstaltung des Schweizerischen Friedensrates hat der Theologe Theodor Ziegler aus Baiersbronn im Schwarzwald über das Thema „Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik: Ein Szenario bis zum Jahr 2040“ referiert. Ziegler stellte unter anderem fest: „Seit der konstantinischen Wende im Römischen Reich im Jahr 312 nach Christus haben die Kirchen sämtliche Kriege gerechtfertigt.“ Und: „Kriege sind in Kultur und Religion verankert […] Konflikte würden eine Wurzelbehandlung brauchen, das heißt, die Ursachen von Konflikten müssten behoben werden. Jetzt geht es darum, Weichen zu stellen für eine zivile Sicherheitspolitik […].“

Heinrich Frei: Sicherheit neu denken, rubikon.news, 08.12.2021. Zum Volltext hier klicken.

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Zur in den letzten Jahren stark intensivierten militärischen Manövertätigkeit der USA und der NATO in Ost- und Südosteuropa sowie Russlands in seinen westlichen Regionen vermerkt Lauren Sukin: „Übungen stellen echte Gefahren sowohl einer versehentlichen als auch einer absichtlichen Eskalation dar. Obwohl sie dazu gedacht sein können, defensive Fähigkeiten aufzubauen oder weitere Aggressionen zu stoppen, sollten ihre Risiken nicht unterschätzt werden. In Osteuropa bedeutet dies, dass Sorgen über die Absichten hinter Russlands jüngsten Aktivitäten ernst genommen werden sollten – und dass weitere NATO-Übungen möglicherweise nicht die beste Antwort sind. Glücklicherweise scheinen die Vereinigten Staaten auf Bedenken zu hören, dass ihre Übungen zu provokativ geworden sind. Die Vereinigten Staaten haben vor kurzem mit einer systematischen Überprüfung ihrer Übungstätigkeit in Europa begonnen.“

Lauren Sukin: Is Russia preparing for war?, thebulletin.org, 09.12.2021. Zum Volltext hier klicken.

Letzte Meldung

Vor der Deutschen Oper zu Berlin sollen Kinder beim Skandieren des folgenden Verses beobachtet worden sein: „Der Genderwahn, der Genderwahn / steckt immer noch mehr Leute an!“

Möglicher Hintergrund: Die Leitung des Staatsballetts hatte Tschaikowskis „Nussknacker“ dieses Jahr aus dem Programm genommen – wegen Rassismus und Sexismus. In der Kritik: zwei von fünf Protagonisten, nämlich die chinesische und die orientalische Puppe. Die erste tanze allzu sehr karikaturistisch, die zweite trete, umgeben von den Haremsdamen, mit unkorrekter brauner Körperschminke auf.

Und allen, die schwer von Begriff sind, wurde ergänzend erläutert, dass dies im Sinne der Zuschauer:innen geschehen sei, die sich aus eigener Kraft nicht darüber im Klaren sein könnten, welcher Sünde sie verfallen würden, während sie sich an der 1,5 Millionen Euro teuren „Nussknacker“-Inszenierung der russischen Choreografen Vasily Medvedev und Yuri Burlaka von 2013 erfreuten.

Befremdet von dem Vorgang zeigte sich auch Sergej Netschajew der russische Botschafter an der Spree. Zugleich gab er jedoch zu Protokoll: „Es ist beruhigend, dass die Cancel Culture, die in Deutschland an Fahrt gewinnt, nicht der mehrheitlich tatsächlichen Stimmung der Bevölkerung entspricht.“

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