Nachdem die Taliban, ohne ein ernsthaftes Gefecht zu führen, in Kabul eingerückt waren, bestimmten tagelang Bilder vom Flughafen die Nachrichtensendungen. Tausende Menschen drängten sich dort, um noch ausgeflogen zu werden. Propagandatechnisch zielte das darauf, mit herzzerreißenden Bildern das Scheitern der Idee zu bemänteln, wonach man mit Waffengewalt und mittels Besatzungsregime „Demokratie“ nach westlichem Muster in einem Land einführen könne, das weder politisch noch kulturell dafür prädestiniert war.
Genaueres erfuhr auch der interessierte Zuschauer nicht. Über angebliche oder tatsächliche Gräueltaten der Taliban wurde nach Hörensagen berichtet. Dementis der Taliban-Führung wurden als Propaganda abgetan, obwohl es Belege weder für das eine noch das andere gab. Russische Quellen bestätigten die Taliban-Aussagen, wonach Verbrechen an der afghanischen Zivilbevölkerung von kriminellen Banden verübt wurden, die sich als Taliban ausgaben. Die neuen Herren hätten tatsächlich Entschlossenheit erklärt, das zu verfolgen. Russland hatte zudem seine Botschaft in Kabul nicht evakuiert und vorher bereits, wie auch China, mit Vertretern der Taliban-Führung verhandelt. Dass in Zeiten der Wirren im Gefolge von Kriegen, wenn die alte Macht nicht mehr da ist und eine neue noch nicht, allenthalben Verbrechen wie Mord, Raub, Vergewaltigung und Diebstahl begangen werden, ist auch für Europa im Sommer 1945 aus vielen Ländern belegt.
Der von Präsident Joe Biden befohlene Abzug der USA-Truppen – alle Hilfstruppen, darunter die Bundeswehreinheiten, hatten das Land schon vorher verlassen – zum 31. August 2021 beendete einen zwanzigjährigen Krieg. Es war der längste, den die USA je geführt hatten – das Patt in Korea und die Niederlage in Vietnam gingen schneller, der Eintritt in die beiden Weltkriege erfolgte in Europa jeweils in der Schlussphase der Kriege. Der pazifische Krieg gegen Japan kostete große Opfer, dauerte jedoch weniger als vier Jahre, von dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 bis zur Kapitulation Japans am 2. September 1945.
Der nicht enden wollende Krieg in Afghanistan stellte vor allem eine Belastung für die Bevölkerung der USA dar. Barack Obama hatte in seinem Wahlkampf bereits 2008 versprochen, die von George W. Bush angezettelten Kriege in Afghanistan und Irak zu beenden. Den Abzug aus Irak vollzog er, den aus Afghanistan nicht. Donald Trump hatte 2016 erklärt, diesen Krieg zu beenden. Er ließ mit den Taliban verhandeln und legte fest, spätestens im Mai 2021 die Truppen nach Hause zu holen. Angesichts der militärischen Planlosigkeiten beim Abzug ist es eine Ausrede der Biden-Regierung, dass sie die Dispositionen der Trump-Administration bereits vorgefunden habe und nicht mehr viel ändern konnte. Zugleich wurden damit die Vorwürfe republikanischer Hardliner abgewiesen, Biden sei für die desaströsen Bilder verantwortlich.
Die USA haben nach eigenen Angaben zusammen mit ihren Verbündeten in der Schlussphase des Abzugs 123.000 Menschen ausgeflogen. Biden erklärte, er habe die Wahl gehabt, sich an die Absprachen der Trump-Administration mit den Taliban zu halten oder nochmals Zehntausende Soldaten in den Krieg zu schicken. Er habe den Krieg nicht ewig verlängern wollen und auch den Abzug nicht. Der „Kampf gegen den Terror“ gehe jedoch weiter, auch ohne Bodentruppen in Afghanistan.
Der Sprecher der Taliban, Sabiullah Mudschahid, gratulierte den Afghanen zum Abzug der USA. „Dieser Sieg gehört uns allen“, sagte er, „amerikanische Truppen haben den Flughafen von Kabul verlassen und unser Land hat seine volle Unabhängigkeit erlangt.“ Das Fazit nationalistisch: Es ging um Afghanistan und die Vertreibung fremder Truppen, wie im 19. Jahrhundert gegen die Briten und im 20. Jahrhundert gegen die Sowjetunion. Insofern ist undifferenziertes Medien-Reden, „islamistische Extremisten“ hätten die Macht übernommen, eine irreführende Verkürzung. Die Taliban sind zwar Islamisten, aber auf Afghanistan bezogen und ohne internationale Ambitionen. Die Kämpfer für einen „Islamischen Staat“ dagegen sind Feinde solcher Nationalisten, weil ihr letztliches Ziel ein global ausgreifendes „Kalifat“ ist, wie sie es in Teilen Iraks und Syriens bereits einmal zu errichten begonnen hatten.
Nachdem also der Westen den Krieg verloren hat, sollte er nicht darauf setzen, wieder verschiedene Gruppierungen anzustacheln, die willens und in der Lage sind, den Bürgerkrieg, nun gegen die Taliban, weiterzuführen. Das würde nur das Leid der afghanischen Bevölkerung fortsetzen und vergrößern. Ja, es gibt ein Interesse der umliegenden Mächte China, Russland, Iran und Indien, dass endlich Ruhe und Frieden in Afghanistan herrschen. Ob es zugleich gelingt, auch Pakistan ruhigzustellen, dessen Geheimdienste einst die Taliban erschaffen hatten, um Afghanistan als strategisches Hinterland in seinem Kampf gegen Indien zu benutzen, muss sich noch erweisen. Es wäre jedoch ruchlos, wenn der Westen den Krieg mithilfe von Stellvertretern mutwillig fortsetzte, nur um nach der eigenen Niederlage nun China „eins auszuwischen“ und dessen Seidenstraßenprojekt zu sabotieren sowie Russland und Iran zu schaden.
Der bereits zitierte Mudschahid erklärte: „Wir wollen starke und offizielle diplomatische Beziehungen zu Deutschland.“ Afghanistan, jahrzehntelang Objekt imperialistischer Konkurrenz zwischen Großbritannien und Russland („Great Game“), erlangte nach einem dritten britischen Afghanistankrieg 1919 die Anerkennung seiner Unabhängigkeit durch Großbritannien. Die russische Sowjetregierung hatte sie bereits zuvor ausgesprochen. Deutschland war seit den 1920er Jahren ein wichtiger Partner Afghanistans, nach den 1950er Jahren auch die BRD. Es wäre töricht, wenn die deutsche Außenpolitik aus „Feigheit vor dem Freund“ USA das Angebot der kommenden afghanischen Regierung ausschlagen würde.
Von General Alexander Suworow, der im 18. Jahrhundert etliche Schlachten für Russland entschied, ist der Satz überliefert: „Der Sieg hat viele Väter, die Niederlage ist Vollwaise.“ Dies wird jetzt wieder gespielt. Carlo Masala, Professor an der Bundeswehr-Universität München, wirft der USA-Regierung vor, den Abzug aus Afghanistan „ohne Information und Koordination mit den Europäern vorgenommen [zu] haben“. Das werfe „Fragen mit Blick auf die transatlantische Zusammenarbeit auf“ und werde „Konsequenzen haben, was das Vertrauen in die USA als Garant für eine liberale Weltordnung“ anbetrifft. Der in Deutschland gern interviewte frühere US-amerikanische Botschafter John Kornblum betonte, es habe seit 2002 zwei Afghanistan-Strategien des Westens nebeneinander gegeben: Al-Kaida auszurotten und Nation Building. Letzteres sei eine deutsche Idee gewesen, die seit der Petersberg-Konferenz zu Afghanistan 2001 forciert und schließlich durchgesetzt wurde. Aus der Sicht von Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer habe dies die Möglichkeit gegeben, „das Wort Krieg aus dem Wortschatz [zu] nehmen“. Die Regierung Bush habe „gerne diese deutsche Strategie angenommen, weil es zeigte, dass wir Ziele und Strategien haben“. Während mit Masala mal wieder ein deutscher Stratege bedauert, nicht mit US-amerikanischen Soldaten Weltordnungskriege führen zu können, macht der amerikanische Beobachter die Deutschen für das Fiasko dieses Krieges verantwortlich.
Präsident Biden erklärte: „Bei dieser Entscheidung über Afghanistan geht es nicht nur um Afghanistan. Es geht darum, eine Ära großer Militäroperationen zur Umgestaltung anderer Länder zu beenden.“ Künftige Militäreinsätze müssten klare, erreichbare Ziele haben und „auf das grundlegende nationale Sicherheitsinteresse“ der USA gerichtet sein. Die „Internationalisten“ auch in Deutschland hatten sich auf Biden gefreut in der Hoffnung, er würde die interventionistische Politik seines Vor-Vorgängers Obama fortsetzen. Tatsächlich setzt er jetzt die strategische Grundlinie Trumps „America First“ fort, nur verbindlicher verpackt. Das hatte ich wiederum nicht so erwartet und freue mich an dieser Stelle, dass ich mich geirrt hatte.
Schlagwörter: Afghanistan, Deutschland, Erhard Crome, Joe Biden, Russland, Taliban, USA