24. Jahrgang | Nummer 6 | 15. März 2021

Zeitenwende – „Letzte Chance“?

von Herbert Bertsch

„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“

Friedrich Hölderlin

Das Zitat könnte hier als Vor-Vorwort dem jüngsten Buch der Autoren Gerhard Schröder/Gregor Schöllgen „Letzte Chance“ sowohl vorangestellt werden als auch dessen Schlusswort sein. Dazwischen dieser Hauptbefund: „Die Welt liegt im Koma. Paralysiert und apathisch verfolgen wir die epidemische Zunahme von Krisen, Kriegen und Konflikten aller Art. Und der Westen, den es so gar nicht mehr gibt, sitzt in seinen überlebten Strukturen fest. Wir fragen, wie es dahin kommen konnte. Und wir sagen, wie es weitergehen muss. Mit Europa und der NATO, mit Russland und mit China, mit den Staaten der südlichen Halbkugel und nicht zuletzt mit Deutschland und seiner Rolle in der Welt.“ (Vorwort) Das ist gewiss ein hoher Anspruch, und das Fehlen der USA in dieser Ankündigung der Tour d’Horizon ist schon Teil ihres scharfsinnigen Diktums: „Der Westen hatte seine Zeit. Sie war politisch erfolgreich. Aber sie ist vorbei.“

Bei der Münchener Sicherheitskonferenz, wurde Gegenteiliges als aktuelles Konzept für eine erneuerte Welt-Außenpolitik nach Trump so definiert: Zurück zur Normalität der alten Ordnung, auch mit der Einordnung in die Pyramide der Weltherrschaft. Die USA werden weiter Agieren und die übrige Welt ist zur Reaktion verpflichtet. Wer das gern und im Schulterschluss tut, wird belobigt und bekommt bei Beteiligung auch einen Anteil gemäß Ausgang der Selektion und Beihilfe bei der Aktion. Der Generalplan laut FAZ Online vom 19. 02. 2021: „Biden sucht Partner gegen China und Russland. Amerikas Präsident sieht die Welt am Scheideweg: Mit den Europäern will er verhindern, dass sich das autoritäre Modell gegen die Demokratie durchsetzt. ‚Wir müssen beweisen, dass unser Modell kein historisches Relikt ist.‘ […] Der Präsident lobte, dass die Europäer immer mehr Geld für ihre Verteidigung ausgäben. Sein Vorgänger Donald Trump hatte darauf gepocht. Merkel bekräftigte, dass dieser Weg richtig sei. Denn es reiche nicht, über Werte zu reden, man müsse ‚zu Ergebnissen kommen‘. Sie fügte hinzu: ‚Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.‘“

Der Weg zu den in Aussicht gestellten Wohltaten ist also die erneute Formierung aller Gefolgsleute gegen den unerlösten oder neu zu bewertenden Rest der Welt mit allen Mitteln – in der irrigen Hoffnung, was seinerzeit mit dem Zusammenbruch des politischen Ostens als Muster erreicht wurde, könnte wiederholt werden. Wenige Wochen zuvor geben die Autoren ihren Kommentar zur außenpolitischen Lage in der Welt, im Untertitel ihrerseits als Aufgabe: „Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen“. Zentrales Anliegen der neuen Weltordnung wäre eine Ordnung ohne Anspruch von Führungszentren der USA und deren Einfluss auf die politischen Organismen anderswo, jeweils mit allen angemessenen Mitteln durchgesetzt.

Zu den Beispielen, die nicht voll ausgeführt werden, mag dieser Zusatz beitragen. Ein Element dieser Skala ist die Praxis, die sich bereits als Beitrag zum Sieg im Zweiten Weltkrieg bewährt hatte und als Teil von Herrschaft weitergeführt wurde: „Den ganzen Kalten Krieg über hatte die Agency heimlich Politiker in Westeuropa mit finanziellen Zuwendungen unterstützt. Auf der Liste fanden sich der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt, der französische Premierminister Guy Mollet und jeder italienische Christdemokrat, der aus einer Landeswahl siegreich hervorgegangen war.“ (Tim Weiner: „CIA – Die ganze Geschichte“). Diese Indiskretion steht unter dem Abschnittstitel: „Dass sich nur auf die bewährte Weise etwas machen ließ.“ Warum ohne Beweisnot gerade die Zusammenarbeit mit Brandt offengelegt wurde, ist ein früheres delikates Beispiel für Interessenpolitik „unter Freunden“. Ähnlich mit Mollet laut Die Zeit vom 1. November 1956. „Ich bin ein Mann der Partei“ betonte er. Und seine Partei war, Brandt vergleichbar, die französische Sozialistische Partei.

Über die Grundprinzipen der US-amerikanischen Weltpolitik und die besonderen Beziehungen zwischen USA und BRD bis in Corona-Zeiten informiert das Eingangskapitel „Ohne Rücksicht auf Verluste: Die USA in der Welt“. Dem folgen die Kapitel: „Der wankende Riese: Russland am Scheideweg“; „Dynamik pur: China auf dem Weg in die Weltspitze“; „Ein Riese wird wach: Der asiatische Halbmond“; „Gefährliche Nachbarn: Das kurdische Viereck“; „Die Mutter aller Krisen: Der Nahostkonflikt“; „Tore zur Welt: Der Persische Golf und das Rote Meer“; „Das Herz der Finsternis: Zentralafrika“. Durchaus passend schließt sich ein Übersichtskapitel an: „Quellen des Lebens: Das Ringen um die Ressourcen“, um im Schlussteil in der Aufgabenstellung zu münden, „Was zu tun ist“.

Auf jeweils etwa zwanzig Druckseiten wird die geopolitische Lage der benannten Bereiche, deren geschichtliche Entwicklung und Wahrnehmung in der deutschen Außenpolitik aufgerollt; ohne missionarische Attitüde oder parteiische „Einmischung“. Was die Autoren von den Politikern fordern, üben sie durchgängig selbst. Das wird so auch am Prinzip des „moralischen Imperialismus“ abgehandelt, wobei sie sich eines der wenigen Fremdzitate bedienen. Hier von Paul Collier: „Es kann nicht sein, dass ein Land dem anderen sagt, was sie tun müssen.“ Und das lässt sich gern auch als ein angestrebtes Merkmal für die neue Weltordnung im Sinne der „Letzten Chance“ herausfiltern. Hier schließen sie sich überhaupt den Auffassungen des britischen Wirtschaftswissenschaftlers an, dessen Gesellschaftsvorstellung ein sozialer Kapitalismus ist, dessen Verwirklichung weniger durch Wandel in den entwickelten kapitalistischen Ländern erfolgen sollte als vielmehr in den sogenannten Entwicklungsländern.

Die Autoren benutzen Definitionen von „Kapitalismus“, „Sozialismus“ oder modernen Heilslehren fast nicht. Das ist raffiniert konstruiert und minimiert den Gehalt ihrer Darlegungen keineswegs. Ihr Text liest sich in Teilen wie „Geschichten zur Geschichte“, von Sachkundigen, die sagen was und wie es ist – und was sich daraus ergibt: Was getan werden muss, „wenn es gut werden“ soll, um Bundeskanzlerin Merkel inhaltlich erneut zu zitieren.

Mit der beiden Autoren eigenen Wertschätzung verweisen sie im Vorwort auf eine günstige Voraussetzung: „Das Buch verbindet den analytischen Blick des Historikers mit dem gestaltenden Zugriff des Politikers. Es ist das Ergebnis eines Gesprächs, das wir seit vielen Jahren führen.“ Zu dessen Substanz der Rückgriff von Schöllgen auf seine zahlreichen Werke gewiss beigetragen hat, in Sonderheit auf seine Biographie von Schröder, die im September 2015 von Angela Merkel vorgestellt und so kommentiert wurde: „Es lohnt sich, dieses Buch zu lesen, auch um ein großes Stück deutscher Geschichte besser zu verstehen und nachvollziehen zu können.“

Fünf Jahre später wird dem außenpolitischen Diskurs hier Wichtiges hinzugefügt, wie von Schröder im Autoren-Interview mit RT: „Die Arbeitsplätze in Deutschland hängen vom Export ab. Mit wem aber sollen wir Handel treiben? Ich lese und höre: Mit Russland nicht, mit China nicht, weil das nicht unser System ist. Ich frage mich: Mit wem denn dann? Wir müssen die Realitäten zur Kenntnis nehmen. Wer glaubt, man könne Länder wie Russland oder China mit Sanktionen zu einer veränderten Politik zwingen, der irrt.“

So war „Letzte Chance“ auch ein indirekter Vorab-Beitrag zur Sicherheitskonferenz und bleibt kritischer Kommentar zur offiziellen deutschen Position beim Angebot Präsident Bidens zur institutionellen Gegnerschaft gegenüber den Unbotmäßigen und der kaum verhüllten deutschen Zusage der Mitwirkung. Vielleicht wird aktuell wirklich Grundsätzliches entschieden. „Ist Geschichte jemals vorbei?“ wurde Schöllgen befragt. „Geschichte beginnt immer mit unserer Gegenwart“, war dessen Antwort: „Und da Gegenwart nie aufhört, ist Geschichte niemals vorbei.“ Die „Letzte Chance“ kann zur Entscheidungsfindung beitragen.

Gregor Schöllgen/Gerhard Schröder: Letzte Chance, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2021, 256 Seiten, 22,00 Euro.