Russland stellt die ernsthafteste Bedrohung dar, die man sich
für die Vereinigten Staaten vorstellen kann […]. Wir stellen
natürlich eine ähnliche Bedrohung für die Russen dar.
Jerry Brown,
David Holloway,
William J. Perry
William Perry wurde 1994 vom damaligen Präsidenten Bill Clinton zum Verteidigungsminister der USA berufen. Als Pentagon-Chef machte er seinen eigenen Worten zufolge „die Verringerung der nuklearen Gefahren“ zu seiner „höchsten Priorität“. Damals war das Cooperative Threat Reduction Program (CTR) in Kraft, das 1991 zum Abbau ehemals sowjetischer Kernwaffen auf den Territorien Kasachstans, der Ukraine und Belarus‘ vereinbart worden war. Nach den beiden Senatoren, die es initiiert hatten, wird es auch als Nunn-Lugar-Program bezeichnet. In der dreijährigen Amtszeit Perrys gelang es, 8000 Atomwaffen abzubauen, je zur Hälfte in den USA und Russland, respektive in den genannten postsowjetischen Staaten. Doch dies – so Perry – sei nur ein Teil seines Ziels gewesen; der „wichtigere […] war der Aufbau einer freundschaftlichen, kooperativen Beziehung zu Russland“.
Angesichts der heutigen Konfrontation zwischen Washington und Moskau geradezu unglaubhaft erscheint, was Perry über seine Pentagon-Jahre konkret berichtet: „Ich traf vier oder fünf Mal mit allen wichtigen russischen Regierungsbeamten zusammen und mehr als ein Dutzend Mal mit dem russischen Verteidigungsminister. Wir trafen uns in Washington, Moskau, Brüssel, Genf, auf dem Luftwaffenstützpunkt Whiteman, in Fort Riley, auf dem Luftwaffenstützpunkt Saratow, in Kiew und in Perwomajsk. Wir […] handelten eine Vereinbarung aus, wonach Russland hochangereichertes Uran (HEU) aus ehemaligen sowjetischen Sprengköpfen mischen würde, damit es als Brennstoff für amerikanische Kernkraftwerksreaktoren verwendet werden konnte; wir erzielten ein Agreement, wonach Russland eine Brigade in eine amerikanische Division für den Friedensicherungseinsatz in Bosnien entsandte; wir hatten eine Hotline auf unseren Schreibtischen, über die wir dringende Fragen besprechen konnten, sobald sie aufkamen. Ich hatte den russischen Verteidigungsminister bei Treffen der NATO-Verteidigungsminister zu Gast; ich stellte ihn Präsident Clinton und seinen Kabinettsmitgliedern vor.“ Alles in dem Bestreben, „unsere beiden Länder generell einander näher zu bringen, als Partner, wenn nicht sogar als Verbündete“.
Als Perry den Chefsessel im Pentagon verließ, war er überzeugt davon, „dass die Feindseligkeit, die während des Kalten Krieges zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion bestand, mit all ihren Gefahren nun hinter uns läge“. Doch die Hoffnung trog, und Perry nennt Gründe: „Eine Reihe von politischen Entscheidungen der USA […] führte zu immer erbitterteren Reaktionen aus Russland. Dazu gehörten: die Erweiterung der NATO nach Osten in Richtung Russland, der Rückzug aus dem ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) und der Krieg in Irak.“
Infolgedessen seien die Beziehungen zwischen den USA und Russland bis zur zweiten Amtszeit der Regierung George W. Bush zunehmend unfreundlich geworden, und nukleare Gefahren hätten erneut Anlass zur Sorge gegeben. Das habe ihn veranlasst, sich im Januar 2007 zusammen mit den ehemaligen Außenministern George Shultz und Henry Kissinger sowie Ex-Senator Sam Nunn über das Wall Street Journal an die USA-Regierung zu wenden – mit einem Appell zur „weltweiten Abkehr von der Abhängigkeit von Atomwaffen als entscheidendem Beitrag zur Verhinderung ihrer Weitergabe in potenziell gefährliche Hände und schließlich zu ihrer Beseitigung als Bedrohung für die Welt“.
Nur zwei Jahre später, kurz nach seinem Amtsantritt als Präsident, hielt Barack Obama seine denkwürdige Rede in Prag, in der er „klar und mit Überzeugung die Verpflichtung Amerikas, den Frieden und die Sicherheit einer Welt ohne Atomwaffen anzustreben“; aussprach. Doch noch in seiner ersten Amtszeit geriet Obama in die Sackgasse: Für die Ratifizierung des 2010 mit Moskau vereinbarten New START-Vertrages durch einen von den Republikanern dominierten Senat ließ er sich ein umfassendes nukleares Modernisierungsprogramm abhandeln. Dazu Perry: „Dieser Preis war meines Erachtens zu hoch; jetzt sind die Vereinigten Staaten auf dem Weg, über einen Zeitraum von 30 Jahren mehr als 1 Billion Dollar für die Modernisierung von Waffen auszugeben, die wir im Gegenteil zu verringern suchen sollten.“ Und: „Zu diesem Zeitpunkt hörte Obama auf, seine ‚Prager Agenda‘ zu verfolgen, und auch die vier Staatsmänner, die sich für die Abschaffung der Atomwaffen eingesetzt hatten, stellten ihre gemeinsamen Bemühungen ein.“
Trotz persönlicher Enttäuschung über die Inkonsequenz Obamas gab Perry allerdings nicht auf. „Wenn wir zu diesem Zeitpunkt die Atomwaffen nicht abschaffen konnten, so konnten wir doch zumindest Maßnahmen ergreifen, um ihre Gefahren zu verringern.“ Er gründete das William J. Perry-Projekt, um die Öffentlichkeit über die atomaren Gefahren aufzuklären und für deren Reduzierung einzutreten – durch Presseveröffentlichungen, Seminare, Vorträge, Konferenzen, Online-Kurse und mittlerweile zwei Bücher. Das jüngste, zusammen mit Tom Collina verfasst und 2020 erschienen, heißt „The Button: The New Nuclear Arms Race and Presidential Power from Truman to Trump“ (Der Knopf: Das neue atomare Wettrüsten und die Macht der Präsidenten von Truman bis Trump). Darin befasst sich Perry – vor dem Hintergrund des erratischen Verhältnisses Donald Trumps zu Kernwaffen („Wenn wir Atomwaffen haben, warum setzen wir sie nicht ein?“) unter anderem mit der alleinigen Verfügungsgewalt des Präsidenten über die Atomwaffen der USA. Die besteht seit den Zeiten Harry Trumans, der das seinerzeit neue Massenvernichtungsmittel dem direkten Zugriff der Militärs entziehen wollte.* Dadurch aber könnte der Präsident innerhalb von Minuten „das Äquivalent von mehr als 10.000 Hiroshima-Bomben einsetzen. Er braucht keine zweite Meinung. Der Verteidigungsminister hat kein Mitspracherecht. Der Kongress spielt keine Rolle.“
Dieses Konzept beruhe jedoch „auf der falschen Annahme, Russland könnte einen überraschenden Erstschlag ausführen. Der Kalte Krieg endete vor 30 Jahren, und wir wissen heute, dass Russland nie ernsthaft einen Erstschlag gegen die Vereinigten Staaten in Erwägung gezogen hat, aus dem gleichen Grund, aus dem wir nie ernsthaft einen Erstschlag gegen Russland in Erwägung gezogen haben: Es wäre nationaler Selbstmord. […] Mit dieser erschütternden Realität vor Augen erklärten Präsident Ronald Reagan und Michail Gorbatschow, der Führer der Sowjetunion […], 1985, dass ‚ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals gekämpft werden darf‘. Sie hatten Recht.“ Darüber hinaus bestehe „immer ein gewisses Risiko, dass ein Präsident in dem Moment, in dem es darauf ankommt, uninformiert und impulsiv ist (wie Herr Trump), zu viel trinkt (Richard Nixon) oder etwas anderes tut, was sein Urteilsvermögen trüben könnte. Präsidenten machen, wie wir alle, Fehler. Sie sind auch nur Menschen.“
Perry hält es daher als von größter Dringlichkeit für die Sicherheit der USA, deren Präsidenten die alleinige atomare Verfügungsgewalt dadurch zu entziehen, dass in den Freigabeprozess zum Einsatz von Nuklearwaffen eine ausgewählte Gruppe von weiteren Persönlichkeiten der Exekutive und des Kongresses einbezogen wird: „In einer Krisensituation ist es das Letzte, was wir wollen, dass sich der Präsident unter Druck gesetzt fühlt, eine schnelle Entscheidung zu treffen. Die Aufrechterhaltung einer wirksamen Abschreckung erfordert nicht, dass wir uns in einen Atomkrieg stürzen, sondern wir müssen die Entscheidungszeit von Minuten auf Stunden erhöhen.“
Das erscheint umso dringlicher, als Admiral Charles Richard, Chef des Strategischen Kommandos, gerade gefordert hat, dass Militär der USA müsse „seine Hauptannahme von ‚der Einsatz von Atomwaffen ist nicht möglich‘ zu ‚der Einsatz von Atomwaffen ist eine sehr reale Möglichkeit‘ ändern“.
Berichtigung: Im Teil I dieses Beitrages ist die Schlacht um Okinawa (1. April bis 30. Juni 1945) als die letzte des Zweiten Weltkrieges bezeichnet worden. Tatsächlich war sie zwar die letzte von US-Amerikanern geschlagene, die insgesamt letzte allerdings fochten sowjetische Streitkräfte aus – mit der Großoffensive gegen die japanische Kwantung-Armee in China und Korea (8. bis 15. August 1945), womit die militärische Niederlage Japans endgültig besiegelt war.
Der Autor dankt Reiner Böhme, Dresden, für den entsprechenden Hinweis.
* – Seinerzeit eine weitsichtige Entscheidung – angesichts der Nuklearkriegsplanungen, mit denen sich das Strategic Air Command unter seinem damaligen Befehlshaber Curtis LeMay trug; siehe ausführlicher: „Die Bombe und die Renitenz des SAC – oder: Make the rubble bounce!“, Das Blättchen, 6/2020.
Schlagwörter: Atomwaffen, Barack Obama, Donald Trump, Krieg, Russland, Sarcasticus, USA, William J. Perry