23. Jahrgang | Nummer 20 | 28. September 2020

Bemerkungen

Offener Brief für UN-Atomwaffenverbot

„Es gibt keine Heilung für den Atomkrieg. Prävention ist unsere einzige Chance.“ Mit diesem Fazit sind 56 ehemalige hohe westliche politische Verantwortungsträger jetzt in die Öffentlichkeit gegangen. In ihrem Offenen Brief heißt es unter anderem: „Als frühere Staatenlenker, Außenminister und Verteidigungsminister von Albanien, Belgien, Kanada, Kroatien, der Tschechischen Republik, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Ungarn, Island, Italien, Japan, Lettland, den Niederlanden, Norwegen, Polen, Portugal, der Slowakei, Slowenien, Südkorea, Spanien und der Türkei – alles Länder, die den Schutz der Atomwaffen eines Verbündeten in Anspruch nehmen – appellieren wir an die derzeitigen Staats- und Regierungschefs, die nukleare Abrüstung voranzutreiben, bevor es zu spät ist.“ Und: „Es ist Zeit, die Ära unserer Abhängigkeit von Atomwaffen endgültig zu beenden. Im Jahr 2017 haben 122 Länder einen mutigen, aber längst überfälligen Schritt in diese Richtung getan, indem sie den Vertrag über das Verbot von Kernwaffen verabschiedet haben –ein wegweisendes globales Abkommen, das Atomwaffen auf die gleiche rechtliche Grundlage stellt wie chemische und biologische Massenvernichtungswaffen und einen Rahmen dafür schafft, sie nachweislich und irreversibel abzurüsten. Mit seinem baldigen Inkrafttreten wird es rechtsverbindliches Völkerrecht.“

am

Zum Wortlaut des Offenen Briefes hier klicken.

Die Hände der Gréco

von Peter Will

Ihr Hände –
Sich bewegende Zweige
Emporsteigen der Pappel
Windbewegt
Die Trauerweide
Schmerz bis in die Wurzeln

Sprache der Hände
Das Formen der Blume,
Wachsen des Lichts
Groß und herrlich
Die geöffneten
Weißen Rosen –
In ihnen Raum
Für die ganze Kugel
Erde,
Raum für den
Widerspruch Mensch

(19.3.1968)

*

Juliette Gréco, die Grande Dame des französischen Chansons gründete mit anderen 1947 den Nachtclub „Le Tabou“ in der Rue Dauphine im Pariser Künstlerviertel Saint-Germain des Prés. 1949 gab sie ihr Konzertdebüt im „Le Bœuf sur le Toit“, einem weiteren legendären Treffpunkt der Existenzialisten in Paris. Entdeckt wurde sie von Jean Paul Sartre, was sie selbst folgendermaßen geschildert hat: „Er sagte: Sie müssen singen, Sie haben eine schöne Stimme! Gleich für den nächsten Morgen bestellte er mich zu sich und suchte Texte für mich heraus. Er war es, der mich auf die Welt brachte.“

Zu ihren Gesprächspartnern in jungen Jahren zählten Picasso, Cocteau, Camus sowie weitere Künstler und Intellektuelle. Sie galt als „Muse der Existenzialisten“. Vor allem aber die dunkle Stimme der Gréco, ihr strenges Outfit – blasser Teint, pechschwarze Haare und schwarze Kleidung – sowie ihre Aura machten sie zu einem Weltstar. Der Melancholie ihrer Chansons erlagen Generationen, darunter in beiden Teilen Deutschlands.

Auch als Schauspielerin reüssierte sie. Insbesondere der Mystery-Mehrteiler „Belphégor oder das Geheimnis des Louvre“ sorgte Mitte der 1960er Jahre für zusätzliche internationale Popularität.

Über ihr Berliner Konzert im Rahmen ihrer Abschiedstournee im Jahre 2015 schrieb Christina Bylow in der Berliner Zeitung: „Das Publikum erhebt sich in Respekt vor einer Frau, die nie nur ein populärer Star war, sondern immer auch Unabhängigkeit und Intellektualität ausstrahlte, eine Diva mit Eigenschaften.“

Jetzt ist Juliette Gréco, 93-jährig und nach Édith Piaf und Barbara Brodi die letzte große Chansonnette Frankreichs, endgültig von der Bühne abgetreten. Der Schöpfer, vor dem sie nun steht, ist zu beneiden.

cf

Die „Bilderkirche“ von Speyer

In Speyer – als römische Gründung namens Civitas Nemetum eine der ältesten Städte Deutschlands – ist manches etwas anders. Der katholische Kaiser- und Mariendom romanischer Provenienz, für den die Stadt weithin berühmt ist und der Anfang des 19. Jahrhunderts von französischen Invasoren so weitgehend zerstört worden war, dass auch ein Abriss zur Debatte stand, ist heute in seinem Inneren von einer derartigen Schmucklosigkeit, ja Kargheit, wie sie üblicherweise für protestantische Gotteshäuser charakteristisch ist. Demgegenüber weist die nur einen Katzensprung entfernte barocke evangelische Dreifaltigkeitskirche eine nachgerade „katholische“ Bilderpracht auf: Beide Emporen an den Längsfronten des Kirchenschiffs sind mit insgesamt 74 farbigen hölzernen Bildtafeln geschmückt, die hölzernen Kreuzgewölbe mit weiteren 21 Deckengemälden – alle nach biblischen Erzählungen. Ein Fest auch für unchristliche Augen – siehe hier.

Allerdings war diese Bilderwelt vor wenigen Jahren nur noch ein Schatten ihrer selbst – weitgehend verdreckt durch Kerzenruß und andere Luftverschmutzungen aus Jahrhunderten. Erst eine aufwändige mehrjährige, im Jahre 2018 abgeschlossene Restauration – die Kosten beliefen sich auf 1,6 Millionen Euro, zum Teil finanziert aus privaten Spenden – hat die ursprünglichen Bilder für das Auge des Betrachters wieder sichtbar gemacht.

In die Sanierung waren auch die Bestuhlung der Kirche und die technischen Installationen einbezogen worden. Nun harrt die große Orgel, die aus dem Jahre 1929 stammt und rein optisch zwar noch einen sehr passablen Eindruck macht, aber technisch praktisch nicht mehr spielbar ist, einer grundlegenden Erneuerung. Es wird mit Kosten von einer Million Euro gerechnet.

Hans-Peter Götz

Protestantische Dreifaltigkeitskirchengemeinde Speyer, Holzmarkt 1, 67346 Speyer; Öffnungszeiten für Besichtigungen im Internet.

Sprach-Torheiten

Pläne, Gesetze, Reformen, Preiserhöhungen … alles Mögliche wird heute „auf den Weg gebracht“. Die Wendung ist zur sprachlichen Allzweckwaffe geworden. Auch Solarparks und ganze Stadtentwicklungsgebiete sollen schon auf den Weg gebracht worden sein. Neulich las man bei zeit.online: „Vor dem Führungstreffer blieb M.G. bei seinem Versuch, ein Tor auf den Weg zu bringen, … erst mal hängen.“ Wozu soll so ein Tor auf dem Weg überhaupt nützlich sein? Da steht oder liegt es nur herum und unschuldige Spaziergänger oder Radfahrer verfangen sich womöglich im Netz. Aus dem Weg mit dem (Sprach)Müll!

ah

… da helfen keine Pillen!

Woran man merkt, dass jemand irreparabel bescheuert ist? Vielleicht daran, dass der Betreffende oder die Betreffenden dazu auffordern, das Wort „Ausländer“ wegen seines Diskriminierungsgehaltes nicht länger zu verwenden und stattdessen von „Einwohnenden ohne deutsche Staatsbürgerschaft“ zu sprechen. Oder daran, dass bei denjenigen selbst das Wort „schwarz“ in postkolonialen Verschiss geraten ist, weswegen Begriffe wie „schwarz fahren“ oder „anschwärzen“ nunmehr ebenfalls verpönt seien. Die Alternativen lauten in diesen Fällen „Fahren ohne gültigen Fahrausweis“, respektive „nachsagen/melden/denunzieren“.

Alles und noch viel mehr ist im neuen Sprachleitfaden für Berliner Beamte und Behördenangestellte zu finden, den sich die beim dortigen Verkehrssenator angesiedelte Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung hat einfallen lassen.

Was kommt als Nächstes? Eine amtliche Aufforderung an alle Deutschen mit Namen Schwarz (immerhin Rang 19 im Ranking der häufigsten Familiennamen), sich zeitnah umzutaufen?

Wie heißt es im Volksmund doch so schön? Doof bleibt doof …

Hannes Herbst

Aus anderen Quellen

Dass große internationale Pharmakonzerne für neue Medikamente, vor allem zur Krebsbekämpfung, regelmäßig Mondpreise – die einzelne Behandlung kostet schon mal über 300.000 Dollar – aufrufen, die mit den Kosten für Forschung und Entwicklung, Produktion und Vertrieb der betreffenden Präparate nicht mehr das Geringste zu tun haben, und damit Profitraten bis zu 55 Prozent realisieren, ist Gegenstand einer Dokumentation von Luc Herrmann und Claire Lasko.

Darüber hinaus hat die Pharmaindustrie enormen Einfluss auf Regierungen sowie Behörden und kann so gesundheitspolitische Entscheidungen zu ihren Gunsten durchsetzen. Konzernen gelingt es überdies, Forschung, öffentliche Gelder und Krankenkassen für die Förderung ihrer teuersten Medikamente einzuspannen. Anderen wurde nachgewiesen, Nebenwirkungen vertuscht zu haben. Der Kampf gegen Covid-19 hat die Gier der Pharmakonzerne weiter angestachelt …

Luc Herrmann / Claire Lasko: Big Pharma – Die Allmacht der Konzerne, ARTE F, 2018 (aktualisiert in der Corona-Krise). Zum Volltext hier klicken.

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Das Fernsehmagazin Kontraste hat folgendes aufgedeckt: In den neuen Modellen des US-Autoherstellers Tesla – in der sogenannten Giga-Factory bei Berlin sollen demnächst 500.000 Fahrzeuge pro Jahr vom Band rollen – zeichnen insgesamt acht Kameras das Geschehen sowohl im Innenraum als auch außerhalb des Fahrzeugs auf. Neben dem Fahrer, der teilweise die gestochen scharfen Umgebungsbilder ansehen und abspeichern kann, hat der Konzern Zugriff auf die Bilder – via Fernabfrage aus den USA. Welche Daten dies betrifft, darüber hat der Fahrer keine Kontrolle. Für Datenschützer handelt es sich um einen eklatanten Rechtsbruch.

Verstößt Tesla systematisch gegen Datenschutzregeln?, Kontraste, 17.09.2020. Zum Volltext hier klicken.

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„Nach seriösen Schätzungen des Deutschen Kinderhilfswerks leben 14 Prozent der Kinder (in Deutschland – die Redaktion) in Armut“, schreibt Eva Corino. „Ein Drittel aller Eltern, die Kindergeld beziehen, haben kein existenzsicherndes Jahreseinkommen. Unter ihnen viele Alleinerziehende und Personen, die keinen Schul- und Berufsabschluss haben – und Familien, wo die Armut sozusagen von einer Familie zur nächsten weitergereicht wird.“ Und: „Keine Chance zu haben auf ‚gesellschaftliche Teilhabe’ – dieser Ausdruck ist […] der Schlüssel zu dem, was Kinderarmut in Deutschland heute bedeutet. Es ist weniger der materielle Mangel, unter dem sie leiden, als die fehlende Elternkompetenz oder das Know-how, wie man gut und günstig kocht, den Tag sinnvoll strukturiert und die Kinder freihält von den eigenen Launen.“

Eva Corino: „Ich will weg von zu Hause, weg von meinen Eltern“, berliner-zeitung.de, 21.08.2020. Zum Volltext hier klicken.

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„Alternative Fakten“ sind zwar heute möglicherweise stärker im Schwange als zu anderen Zeiten, doch eine Erfindung Donald Trumps und seiner Entourage sind sie keineswegs. Über einen der übelsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte, den Serienmörder Bruno Lüdke, berichten Hans Werner Kilz und Stephan Lebert. Mit folgendem Fazit: „In Wahrheit war Bruno Lüdke unschuldig. Seine Geschichte ist ein vielschichtiger Skandal, die Lügen über sein Leben reichen vom Grauen des Nationalsozialismus bis hinein in die Medienwelt unserer Tage.“

Hans Werner Kilz / Stephan Lebert: Bruno und Mario, zeit.de, 26.08.2020. Zum Volltext hier klicken.

Letzte Meldung

„DDR beliefert Bundeswehr mit 120.000 automatischen Sturmgewehren“. Eine solche Schlagzeile ist natürlich entweder Fake oder geht auf die Kollegen vom Eulenspiegel zurück.

Allerdings soll das Nachfolgemodell des Standardsturmgewehrs G36 der Bundeswehr vom Suhler Waffenhersteller C. G. Haenel GmbH geliefert werden, wie seitens des Bundesverteidigungsministeriums jetzt entschieden wurde. Die Firma war 1840 gegründet und als Produzent des Sturmgewehrs 44 der deutschen Wehrmacht nach Ende des Zweiten Weltkriegs enteignet und in den Volkseigenen Betrieb VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk „Ernst Thälmann“ integriert worden, aus dem sie nach dem Kollaps der DDR wieder hervorging.

Richtig müsste die Eingangsschlagzeile übrigens lauten: „Vereinigte Arabische Emirate beliefern Bundeswehr mit …“, denn die Suhler GmbH gehört einer staatlichen Holding vom Persischen Golf. Auch so kann Globalisierung gehen.

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