23. Jahrgang | Nummer 17 | 17. August 2020

Erlesenes – Anna Seghers in Mexiko und über den Wert von DEFA-Filmen

von Wolfgang Brauer

Zu den wenigen Ländern, die von den Nazis verfolgte Flüchtlinge großherzig aufnahmen und ihnen Schutz gewährten, gehörten die Vereinigten Staaten von Mexiko. Etwa 1500 bis 2000 Menschen deutschsprachiger Herkunft, darunter viele jüdische Intellektuelle, fanden hier Zuflucht. Zu ihnen gehörte auch Anna Seghers mit ihrer Familie. In Vichy-Frankreich selbst hochgradig gefährdet vermag sie noch im März 1941 ihren Mann Laszlo Radvanyi aus dem Internierungslager Les Milles herauszuholen. Am 24. März 1941 kann die Familie – auch im letzten Moment – auf der „Capitain Paul Lemerle“ den Hafen von Marseille verlassen und tatsächlich unbeschadet den Atlantik überqueren. Dass dies nicht selbstverständlich war, beschreibt die Seghers in „Transit“: „Die Montreal soll untergegangen sein, zwischen Dakar und Martinique …“ Ihre eigene Irrfahrt ist damit noch nicht zu Ende, eigentlich wollten die Radvanyis in die USA, den „camouflaged Communists“ wird aber die Einreise verweigert. Die Rettung sind die Visa, die der mexikanische Generalkonsul Gilberto Bosques ihnen noch in Marseille ausgestellt hatte – wie übrigens 40.000 (!) anderen Flüchtlingen; warum nur werden diesem Manne nicht die Heldenlieder laut gesungen, die er verdient hat … Am 30. Juni 1941 betreten die Radvanyis in Veracruz mexikanischen Boden. Anna Seghers verlässt ihn erst wieder am 7. Januar 1947, als sie bei Laredo (Texas) den Rio Grande überquert, um sich nach New York zu begeben. Dort wird sie nach vierzehnjährigem Exil an Bord der schwedischen „Gripsholm“ zurück nach Europa reisen. Über diese Heimkehr in ein fremdes Land hat Monika Melchert vor einigen Jahren ein berührendes Buch geschrieben.

Anna Seghers und ihre Familie „sind noch einmal davongekommen – aber um welchen Preis!“ So Melchert über die Exil-Bilanz der Seghers in ihrem jüngsten Buch „Im Schutz von Adler und Schlange“. Die Autorin legt damit einen großen biographischen Essay über die mexikanischen Exiljahre der Schriftstellerin vor. Es gibt derzeit wohl nur wenige Literaturwissenschaftlerinnen, die in Sachen Anna Seghers über dermaßen profunde Werk- und Quellenkenntnisse verfügen wie Monika Melchert. Die Frau kann aber auch verdammt gut schreiben! Und sie geht nicht in die üblich gewordene allwissende Distanz. Diese starke Empathie in das Handeln und Fühlen ihrer Heldin macht die erzählerische Stärke des Buches aus, beispielsweise in den Passagen über die Entstehungsgeschichten des Romans „Transit“ und der in der deutschen Literatur absolut singulär stehenden Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“.

In einem Punkt scheint mir allerdings diese Schreibhaltung nicht nur förderlich gewesen zu sein. Mexico war nicht in allen Fragen das gelobte Land für alle Exilanten. Die Risse zwischen den moskauhörigen KP-Leuten – zu denen neben Egon Erwin Kisch und Ludwig Renn eben auch Anna Seghers gehörte – und denen, die dem stalinistischen Führungsanspruch kritisch oder gar mit Ablehnung begegneten – Gustav Regler, Otto Rühle und dessen Frau Alice seien hier nur als Beispiele genannt – gingen zu tief. Dass dies von einem extremen Mißtrauen auch untereinander begleitet war, erzählt Melchert am Beispiel der zeitweisen Ächtung Georg Stibis auf Verlangen Paul Merkers. Merker ist sich nicht zu schade, seine Genossen persönlich selbst vor deren Wohnungen zu bespitzeln. Auch wenn Seghers solche Vorfälle gerne wegwischt – lustig ist das mitnichten. Monika Melchert deutet das an. Hier hätte ich mir tieferes Schürfen gewünscht. Merker geriet 1950 in die Mühlen der stalinistischen „Säuberungen“ in der DDR und wurde so gründlich gebrochen, dass er im Juli 1957 Walter Janka in dessen Prozess belastete. Stibi brachte es später bis zum stellvertretenden Außenminister der DDR. Aber das wäre ein anderes Buch.

Janka hat übrigens die deutsche Erstausgabe des Romans „Das siebte Kreuz“ 1942 in seinem Verlag El Libro Libre in Mexiko herausgebracht. Vorher war das Buch auf Englisch in den USA erschienen, jenem Land, das der Seghers die Tür vor der Nase zuwarf. Monika Melchert berichtet über diesen Verlag und besonders ausführlich über den Heinrich-Heine-Klub in Mexico-Stadt, dem Anna Seghers präsidierte.

Ich habe den Band in einem Atemzuge mit großem Lesevergnügen förmlich verschlungen. Monika Melchert hat mir viele Fragen beantworten können. Sie hat aber auch einige aufgeworfen und andere vertieft. Das kann man nicht von jedem Buch behaupten. Ich wünsche ihm eine weite Verbreitung.

Monika Melchert: Im Schutz von Adler und Schlange. Anna Seghers im mexikanischen Exil, Quintus-Verlag, Berlin 2020, 200 Seiten, 20,00 Euro.

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Von Karl Marx stammt der Hinweis, dass man in der „Comédie Humaine“ Balzacs mehr über das Wesen seiner Epoche erfahren könne als in vielen gelehrten dickleibigen Abhandlungen. Klaus-Dieter Felsmann weist in seinem Buch „Inszenierte Realität“ Ähnliches für die Filme der DEFA nach, die man „mit größtem Gewinn als zeitgeschichtliche Quelle deuten“ könne. Selbstverständlich weiß er um die politischen Restriktionen, unter denen diese entstanden. Er weiß, dass die Babelsberger Filmemacher gerade beim Gegenwartsfilm eine Gratwanderung sondergleichen unternehmen mussten, wollten sie ihre Filme im Kino und nicht im Schredder enden sehen. Sowohl im klug geschriebenen Eingangsessay als auch in den aufgenommenen Gesprächsprokollen mit Filmemachern wird deutlich, dass vieles, was in der Handlung eben nicht gezeigt werden durfte, sich dennoch über das Szenenbild, die Kostüme, die Kameraführung, das Licht und natürlich die Musik – dazu hatte der Autor 2013 eine Untersuchung vorgelegt – vermittelt wurde. „Ja, so hat es in der DDR ausgesehen“, stellt die Dramaturgin Gabriele Herzog erstaunt „beim neuerlichen Ansehen dieser Filme“ fest. Sie meint damit Produktionen wie „Sieben Sommersprossen“ (1978), aber auch Kinderfilme wie „Philipp der Kleine“ (1976) oder „Moritz in der Litfaßsäule“ (1983).

Dass gerade die Kinderfilme der DEFA bei allem Märchenhaften, das den besten von ihnen immer irgendwie immanent ist – Felsmann charakterisiert dieses Phänomens mit dem von Detlef Kannapin 2000 für den DEFA-Film erstmals verwandten Begriff „poetischer Realismus“ –, überaus präzise Darstellungen von DDR-Wirklichkeit sind, überrascht nur oberflächliche Betrachter. Genau aus dieser Präzision kommt ihre Wirkung. Und das nicht nur beim Kinderfilm. Der Autor macht das an einem schönen Beispiel fest: Lars Kraume zeigte seinen jugendlichen Darstellern in Vorbereitung auf die Dreharbeiten zu „Das schweigende Klassenzimmer“ (2018) Hermann Zschoches Film „Karla“(1965), der seinerzeit wegen eben dieser Präzision mit fast der gesamten Produktion seines Jahrganges dem 11. Plenum zum Opfer fiel.

Dem Buch ist Lothar Warnekes „Eine sonderbare Liebe“ (1984) auf DVD beigelegt. Ja, so habe auch ich Bernburg seinerzeit erlebt. Ebenso wie Zschoches Berlin-Marzahn in „Insel der Schwäne“ (1983). Dass dieser Film bei jungen Leuten immer noch Wirkung erzielt, habe ich erleben dürfen. Klaus-Dieter Felsmann erklärt, warum das so ist. Und er weist auf eine Besonderheit der DEFA hin, die diese als Kontrapunkt zu Hollywood ausmache: „weil sie generell die Arbeitswelt im Auge behielt“.

Klaus-Dieter Felsmann: Inszenierte Realität. DEFA-Filme als Quelle zeitgeschichtlicher Deutung, Schriftenreihe der DEFA-Stiftung, Berlin 2020, 208 Seiten, 20,00 Euro.