von Wolfgang Brauer
Am 22. April 1947 kommt Anna Seghers aus dem Exil zurück nach Berlin. Aus Berlin musste sie 1933 fliehen. Über diese „Heimkehr in ein kaltes Land“ hat Monika Melchert ein Buch geschrieben. Die Literaturwissenschaftlerin ist Mitarbeiterin der Anna-Seghers-Gedenkstätte in Berlin-Adlershof und sicher eine der profundesten Kennerinnen von Leben und Werk dieser wohl bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts. Eine Biographie im hergebrachten Sinne, das sei gleich gesagt, erwartet aber den Leser mitnichten. Melchert legt dafür einen überaus lesenswerten Essay vor, der uns Rückschlüsse ermöglicht über die Entstehungsbedingungen des Spätwerkes der Seghers, der uns auf behutsame Weise an deren Bemühungen teilnehmen lässt, in diesem Lande, das sie vierzehn Jahre zuvor verjagt hatte, das fast die gesamte Familie ermordet hatte, nicht nur wieder anzukommen, sondern wirklichkeitsgestaltend Fuß zu fassen. „Ich wusste, dass Anna Seghers tief in ihrem Innern unter Bergen von Schweigen Worte und Schreie barg, die niemals laut wurden“, zitiert die Autorin Stephan Hermlin.
„Fuß gefasst“ – so überschreibt Monika Melchert das vorletzte Kapitel ihres Buches. Nach der Lektüre überkommen mich aber Zweifel, ob dem wirklich so war. „Die Arbeit verankert Anna Seghers fest im Alltag.“ Das stimmt zweifellos. Dennoch blieb da wohl immer ein „Rest“. Die wenigen – von der Autorin mit sicherem Gespür für die Sprache der Bilder – beigefügten Fotografien, sprechen eine beredte Sprache. Da findet sich ganz am Anfang eine Aufnahme Abraham Pisareks von der Ansprache Anna Seghers’ zum „Tag des freien Buches“ am 10. Mai 1947 vor der Berliner Universität. Gestus und Mimik der Rednerin hinter dem aus Trümmersteinen aufgemauerten Pult scheinen in Richtung der Zuhörerschaft zu sagen: „Ich weiß, wer ihr seid! Ich weiß, was Ihr getan habt…“ Das hatte sie aber erwartet. Dennoch, Monika Melchert beschreibt dies auf anrührende Weise, zog es Anna Seghers „heim mit allen Fasern“. Sie gehörte zu den wenigen kommunistischen Exilanten, die die Begriffe „Heimat“, ja „Vaterlandsliebe“ positiv besetzt sahen, sie nicht den Faschisten überlassen wollten. Mit aller Deutlichkeit sprach sie dies auf dem Pariser Kongress zur Verteidigung der Kultur 1935 aus. Ohne dieses tiefe Gefühl hätte wohl auch das „Siebte Kreuz“ nicht jene Qualität erreicht, die das Buch zu einem der bleibenden Romane der deutschen Literaturgeschichte gemacht haben.
Natürlich die Sprache, auch in Mexiko blieb sie die deutsche Autorin – wiewohl eine deutsche Autorin, die die Kultur des Gastlandes auf eine Art und Weise aufnahm wie kaum eine andere und dadurch im wahrsten Sinne des Wortes Weltliteratur schaffen konnte: „Ich habe mich in der Emigration nach der deutschen Sprache gesehnt.“ Welche Stiche muss sie im Herzen gefühlt haben, als sie merken musste, dass auch die Sprache, ihr geliebtes Deutsch, in Trümmern lag. Aus der Sicht von uns Nachgeborenen ist es schwer verständlich, weshalb ausgerechnet einstige Avantgardisten – die Kleist-Preisträgerin Anna Seghers gehörte mit dem „Aufstand der Fischer von St. Barbara“ durchaus zur Riege dieser Neuerer – beim kommunistischen Re-Education-Programm so stark auf die Werke der Klassik setzten. Hier liegt eine der Antworten. Auch die Seghers unterwarf sich eine Zeitlang scheinbar dem auf einer verballhornten Klassik-Rezeption basierenden Regelkanon der Formalismus-Doktrinen. Dass dies nur oberflächlich geschah und sie statt dessen in jenen Jahren zu einer Art des Erzählens fand, die diesen platten Regeln grundsätzlich zuwiderlief, lässt sich in der Studie Monika Melcherts auf zum Wieder (?)-Lesen dieser Kostbarkeiten der Erzählkunst verführende Weise nachvollziehen.
Nicht zuletzt waren es die engen Kontakte zu den Freunden, die es Anna Seghers ermöglichten, in dem kalten Lande ihrer Wiederkehr physisch und psychisch nicht nur zu überleben: „Ich habe das Gefühl, ich bin in die Eiszeit geraten., so kalt kommt mir alles vor…“, schrieb sie 1948 in einem Brief an den Freund Georg Lukácz. Die Freunde halfen ihr auch, zu neuer schöpferischer Kraft zu finden: Jeanne und Kurt Stern, Jürgen Kuczynski, Berta Waterstradt, Helene Weigel und Bertolt Brecht … Lenka Reinerová und F.C. Weiskopf – und angesichts dieser beiden wird augenscheinlich, womit Seghers offenbar überhaupt nicht rechnete: Die Heimkehr in ein Land, in dem die Kälte auch von den eigenen Genossen ausging. Dabei hätte sie es wissen müssen. Auch sie gehörte zu denen, die dem „Renegaten“ Gustav Regler beim Sterben seiner Frau Mieke – einer Tochter des Malers Heinrich Vogeler, der selbst auf elende Weise in der Sowjetunion zugrunde ging – ein Wort des Mitgefühls verweigerten. F.C. Weiskopf und dessen Frau Alex Wedding konnte sie dagegen helfen, den Fängen des tschechoslowakischen Geheimdienstes zu entgehen. Auch Weiskopf stand offenbar auf der Todesliste des als Slánsky-Prozeß berüchtigt gewordenen blutigen Spektakels. Die Ermordung des Freundes Otto Katz (André Simone) 1952 in Prag muss für Anna Seghers ein Schock gewesen sein. Monika Melchert geht darauf ein, Regler spielt hingegen kaum eine Rolle. Zumindest wird er als einer von denen benannt, die Anna Seghers und ihrer Familie 1942 die Flucht nach Mexiko ermöglichten. Dass kein einziges Wort über Ludwig Renn fällt, gehört zu den Mankos des Buches. Auch hinsichtlich des Verhaltens der Seghers zum Prozess gegen Walter Janka, auch wenn der erst 1957 stattfand, wären einige Zeilen mehr zu wünschen gewesen. Janka warf noch 1990 seiner Autorin Anna Seghers – er war seinerzeit Chef des Aufbau-Verlages – vor, dass „gerade sie sich der Mitverantwortung nicht hätte entziehen dürfen“. Er tat ihr Unrecht, aber das konnte er damals noch nicht wissen. Allerdings erschwert auch Walter Jankas Verdikt noch heute die Rezeption des Seghers’schen Werkes im wiedervereinigten Deutschland.
Anrührend und aufschlussreich zugleich die Mitteilungen Monika Melcherts über die große Liebe zwischen Anna Seghers und ihrem Mann Laszlo Radvanyi. Auch hier lohnt es sich, ein Foto genauer zu betrachten, das die beiden im Jahre 1965 in der Adlershofer Wohnung zeigt: Tiefste Vertrautheit und Nähe zeigt dieses Bild. Auch eine gewisse Distanz ist nicht zu verbergen – aber doch ein unbedingtes Aufeinanderangewiesensein… Es schimmert im Werk durch.
Fuß gefasst? Sicher, aber doch nicht ganz. Anna Seghers, künstlerisch immer auf der Suche nach dem „wirklichen Blau“ war auch als Mensch offenbar nie vollständig irgendwo „angekommen“. In Jason aus dem „Argonautenschiff“ (1948) und Melchior aus „Sagen von Unirdischen“ (1970) steckt ein gutes Stück vom alter ego der Anna Seghers. Monika Melcherts Buch hilft uns, diesem etwas näher zu kommen.
Monika Melchert, Heimkehr in ein kaltes Land. Anna Seghers in Berlin 1947 bis 1952, verlag für berlin-brandenburg, Berlin 2011, 176 Seiten, 19,95 Euro
Schlagwörter: Anna Seghers, Bertolt Brecht Georg Lukácz, Monika Melchert, Walter Janka, Wolfgang Brauer