23. Jahrgang | Nummer 10 | 11. Mai 2020

Krieg als deutsche Fehlkalkulation

von Erhard Crome

Manche Reiche blieben über Jahrhunderte großmächtig, wie China, das Römische Reich, das russische Zarenreich, das britische Empire. Das waren solche, die über Generationen, gleichsam Stein auf Stein errichtet wurden. Andere waren kurzzeitig militärisch den zeitgenössischen Mächten überlegen, scheiterten aber bald. Dazu gehörten die Hyksos, die im 16. und 17. Jahrhundert v. Chr. Ägypten beherrschten, das Hellenistische Reich Alexanders des Großen, das Frankreich Napoleons.

Genau betrachtet gehört auch Deutschland im 20. Jahrhundert in diese Reihung. So resümierte der Historiker John Lukacs seine Analyse des „Zweikampfes“ zwischen Churchill und Hitler im Frühling und Sommer 1940: Es habe „schließlich der vereinten Kräfte der in vieler Hinsicht ungewöhnlichen und kurzlebigen Allianz Großbritanniens, der Vereinigten Staaten von Amerika und Sowjetrusslands bedurft, um Deutschland zu besiegen. Keinem dieser Staaten allein […] wäre der Sieg gelungen“. Auch deshalb sind die heutigen Versuche im Westen, die Sowjetunion aus dem Sieg über die Nazi-Herrschaft 1945 heraus zu eskamotieren, ein durchsichtiges Lügengeschäft.

Tatsächlich hatten die deutschen Streitkräfte von 1938 bis 1941 viele Länder Europas annektiert und erobert, darunter Polen und Frankreich. Den Krieg gegen Großbritannien hatte Deutschland aber wegen des „Churchill-Faktors“ (Boris Johnson) (Das Blättchen, No. 26/2019) nicht für sich entscheiden können, der Krieg im Westen blieb. Dessen ungeachtet beschlossen Hitler und seine Gehilfen, 1941 die Sowjetunion zu überfallen. Sie hielten das Land für „einen Koloss auf tönernen Füßen“, der unter starken militärischen Schlägen rasch zusammenbrechen werde. Das hatte schon der Stabschef des Ersten Weltkrieges an der Ostfront, General Hoffmann, in den 1920er Jahren aufgeschrieben (Das Blättchen, No. 14/2019). Die deutschen Truppen hatten nur Sommeruniformen mit, weil man meinte, bis zum Kälteeinbruch in Moskau zu sein und dort überwintern zu können. Dass daran bereits Napoleon gescheitert war, hatten die deutschen Herrenmenschen verdrängt. Während der Zweifrontenkrieg im Ersten Weltkrieg aus der Unfähigkeit der Reichsführung 1914 entsprungen war, mit den politisch-diplomatischen Gegebenheiten in Europa umzugehen, hatte sich die von 1941 für den Zweifrontenkrieg bewusst entschieden. Dass der nicht zu gewinnen war, hätte man wissen müssen.

Die völlige Fehleinschätzung in Bezug auf die Sowjetunion ist vielfach untersucht und rekonstruiert worden. Über die politischen Auseinandersetzungen in London 1940, ob man sich nun auf einen Verständigungsfrieden mit Hitler-Deutschland einlässt, unter der Voraussetzung, dass die Deutschen Kontinentaleuropa beherrschen und die Briten ihr Empire behalten, hat John Lukacs detailliert geforscht und geschrieben.

Interessant ist jedoch auch, wie von deutscher Seite damals Großbritannien betrachtet wurde. 1936 bis 1938 war Joachim von Ribbentrop, der danach Außenminister des NS-Staates war und im Nürnberger Prozess zum Tode verurteilt wurde, Botschafter in London. Zu jener Zeit war Carl-Erdmann Graf von Pückler, Jahrgang 1906, ein junger Diplomat, der sich intensiv mit den britischen Angelegenheiten befasste. Ein Berliner Verlag publizierte 1938 sein Buch „Einflussreiche Engländer. Porträtskizzen englischer Politiker“. Die Auflage muss hoch gewesen sein, jedenfalls wird der Band heute preiswert bei ZVAB feilgeboten.

Der Text beginnt mit einer Darstellung des politischen Systems in Großbritannien, das Pückler auf den Typus des Gentleman fokussiert, danach folgen Porträts einzelner Politiker, zunächst unter anderen Neville Chamberlain, Lord Halifax, Sir Samuel Hoare, und dann, in der Abteilung „Männer der Opposition“, Clement Atlee, Anthony Eden und andere, die Reihe beschließt Winston Churchill. Neville Chamberlain war seit 1937 britischer Premierminister und sollte 1938 im Münchner Abkommen mit dem französischen Ministerpräsidenten Daladier sowie Hitler und Mussolini an der Demontage der Tschechoslowakei mitwirken, in der Hoffnung, dass diese Politik Hitlers Expansionsdrang befriedigen werde. In dem Chamberlain-Kapitel – wie gesagt, vor dem Münchner Abkommen verfasst – schreibt Pückler über Großbritannien: „Es war reich, hatte eine starke Flotte und brauchte daher nur die jeweils zweitstärkste Macht auf dem Kontinent zu unterstützen, um durch die Jahrhunderte ohne große Anstrengungen seine Sicherheit und seinen ausschlaggebenden Einfluss zu wahren.“ Mit dem Emporkommen des Deutschen Reiches sei dieses Gleichgewicht erschüttert worden, die Folge war der Erste Weltkrieg, in dem Deutschland unterlag „und vierzehn Jahre lang schien es, als sei es gelungen, das Gleichgewicht und damit so etwas wie die alte Pax Britannica zu retten“. Das Wiedererstarken Deutschlands unter Hitler und der Anschluss Österreichs hätten jedoch „diese Hoffnung zerstört“. Vielen „klugen Engländern“ sei daher klar, „sich nach einer neuen Politik umsehen [zu] müssen“. Mit anderen Worten: sich mit Deutschlands Machtstreben zu arrangieren. Chamberlain sei „ein nüchterner, praktischer Geschäftsmann“. Er werde „den Vorteil Englands mit Energie wahrnehmen, wo er ihn sieht“. Darauf, dass er München macht, hatte man im Auswärtigen Amt gesetzt; dass er Deutschland wegen des Einmarsches in Polen 1939 den Krieg erklärt, damit hatte man nicht gerechnet.

Besonders gut kommen bei Pückler jene Politiker weg, auf die die deutsche Regierung dann 1940 hoffte. Der Text über Lord Halifax beginnt mit einem Verweis darauf, dass er 1937 auf einer Jagdausstellung in Berlin war. Dann heißt es, in England sei es stets üblich zu diskutieren, wer wohl der nächste Premierminister werde. In Zeiten, wo die Innenpolitik im Vordergrund stehe, sei das in der Regel der Finanzminister, in Zeiten, da es vor allem um die Außenpolitik gehe, eher der Außenminister. Halifax war im Februar 1938 britischer Außenminister geworden, nachdem Anthony Eden wegen der Politik, den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich zu akzeptieren, von diesem Amt zurückgetreten war. Pückler plaudert darüber, dass Halifax nach Besprechungen mit der französischen Regierung in London im Frühjahr 1938 bereits nach sieben Minuten den deutschen Geschäftsträger zu sich gebeten habe, um ihn über diese Gespräche zu unterrichten. Das lobt er besonders. Ob er Halifax damit einen Gefallen getan hat, dürfte zu bezweifeln sein. Zu denen, auf die Pückler besonders freundlich blickt, gehörten auch die reiche Lady Astor, die 1919 die erste weibliche Parlamentsabgeordnete in Großbritannien wurde, sowie Sir Samuel Hoare, der als britischer Außenminister 1935 Mussolinis Kolonialkrieg in Äthiopien gebilligt hatte – was ihm massiven Unmut in London einbrachte und seinen Rücktritt zur Folge hatte. Ihn jedoch sah Pückler als den kommenden Premierminister, wenn Chamberlain „sein Amt abgibt“.

Anthony Eden dagegen versucht er zu denunzieren, indem er ihn für die Zeit als Minister ohne Portefeuille, bevor er 1935 Außenminister wurde, als „Völkerbundsminister“ bezeichnet – Deutschland war mit Mühe 1926 Mitglied des Völkerbundes geworden, um nach Versailles den anderen europäischen Mächten gleichrangig zu sein, und unter Hitler 1933 ausgetreten, um freie Hand für seine Machtpolitik zu erlangen. So war „Völkerbundsminister“ 1938 in Deutschland eher ein Schimpfwort. Pückler betrachtet Eden nicht als Kandidaten für das Amt des Premiers, er sei „sehr fleißig, zuverlässig und bescheiden“, doch mangele es ihm an Humor, Originalität und „Führereigenschaften“. Tatsächlich war Eden von 1940 bis 1945 Churchills kongenialer Außenminister und 1955 sein Nachfolger als Premierminister.

Winston Churchill führt Pückler ein als einen jener wenigen Männer, die im Ersten Weltkrieg eine große Rolle spielten und noch lebten. Im Churchill-Kapitel liefert der Graf einen kurzen Parcours durch die bekannten Fakten von Churchills Leben und konzediert ihm hohe Sachkenntnis, gründliche parlamentarische Arbeit und gute Rhetorik mit viel Humor. In einem Anflug von Realitätssinn zitiert Pückler aus einer Parlamentsdebatte im März 1938, in der Premier Chamberlain aufgefordert wird, sich der Dienste Churchills zu vergewissern, „der klaren Blick, Voraussicht, Energie, Entschlossenheit und Schwung, wie auch große Kenntnis und Erfahrung in allen Fragen der Kriegsvorbereitung und -führung besitzt“. Seine Erfahrung und Kenntnis seien „unvergleichlich. Wenn er seine Hand für die große Aufrüstung liehe, mit der wir befasst sind, so würde eine Welle der Erleichterung über das Land dahingehen“. Pückler hatte damit eine Warnung vor Churchill platziert, aber am Ende Beruhigung zu verbreiten versucht: man misstraue Churchill, Premier werde er jedenfalls nicht.

Die „Welle der Erleichterung“ ging durch das Land, als Churchill 1940 Premierminister wurde und das Land zum Sieg führte. Graf Pückler fiel am 9. Juli 1941, als die Deutschen noch auf dem Vormarsch waren. Er starb an der Beresina, die schon für Napoleon von schicksalhafter Bedeutung war. Allerdings hatte Pückler den Deutschen noch zwei wichtige Punkte aufgeschrieben: „Das Englischste an den Engländern ist fast erschöpfend damit erklärt, dass sie vorsichtig und misstrauisch sind. Sie wollen sicher gehen; sie wollen immer einen Ausweg als Alternative in jeder Situation haben. Sie wollen nie eingekreist sein, sie hassen es, gezwungen zu werden.“ Da waren die Nazis nicht die letzten Deutschen, die das ignoriert haben. Und weiter, nochmals Pückler: die Engländer hätten „eine Art von verborgener Antenne tief in ihrem Herzen, die bei allen auf eine bestimmte, gleiche Wellenlänge abgestimmt sei; wenn nun in einer Krise auf dieser Wellenlänge gesendet würde, so hörten alle das SOS, und wie durch ein Wunder erwache ein einmütiges Volk aus seiner Alltagsgleichgültigkeit.“ Die Nazis versuchten das in Deutschland durch Propaganda und Terror künstlich zu schaffen. In Großbritannien kam es aus dem Geist der Freiheit und der Tradition.