22. Jahrgang | Nummer 14 | 8. Juli 2019

Zum Hitler-Stalin-Pakt

von Erhard Crome

In der Nacht vom 23. zum 24. August 1939 wurde in Moskau der sogenannte Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet. Es war tatsächlich ein Vertrag, den die beiden Außenminister Wjatscheslaw M. Molotow und Joachim von Ribbentrop unterschrieben. Stalin steht auf den Bildern mit einem Lächeln dabei. Hitler hat es nie bis Moskau geschafft.
Aus deutscher Sicht war die Sache klar: Die Sowjetunion sollte für andere die Kastanien aus dem Feuer holen  und beim Überfall Deutschlands auf Polen nicht stören. Die Rolle der Sowjetunion bei diesem Vertrag ist jedoch umstritten. Die eine Position lautet, Stalin habe Hitler das Tor zum Überfall auf Polen überhaupt erst geöffnet, die andere, er habe der Sowjetunion eine Atempause verschafft – der deutsche Überfall auf die Sowjetunion begann am 22. Juni 1941, fast zwei Jahre später.
Hauptbestimmungen des Vertrages waren die Nichtangriffsverpflichung, Neutralität im Falle „kriegerischer Handlungen seitens einer dritten Macht“ – ungeachtet dessen, wer für den Krieg verantwortlich war – sowie eine Konsultationsverpflichtung im Streitfall. Ein geheimes Zusatzprotokoll legte die Interessensphären Deutschlands und der Sowjetunion auf dem Territorium Polens sowie im Baltikum fest. Am 1. September 1939 erfolgte der deutsche Überfall auf Polen, am 17. September war das Land geschlagen und sowjetische Truppen besetzten Ostpolen. In Ergänzung dazu schlossen Deutschland und die Sowjetunion am 28. September 1939 einen „Grenz- und Freundschaftsvertrag“. Darin konstatierten sie voller Hohn „das Auseinanderfallen des bisherigen polnischen Staates“ und erklärten es „ausschließlich als ihre Aufgabe, in diesen Gebieten die Ruhe und Ordnung wiederherzustellen“. Angefügt waren wieder Geheimprotokolle, die unter anderem eine Veränderung der Demarkationslinie zwischen beiden Seiten zugunsten der Sowjetunion vorsah. Hitler schien, was die Territorialfragen anbetraf, großzügig – für ihn wurden die Vereinbarungen mit dem Überfall auf die Sowjetunion ohnehin gegenstandslos.
Die sowjetische Führung dagegen ging davon aus, dass eine Verschnaufpause von längerer Dauer gewonnen sei, weil Deutschland noch längere Zeit mit dem Krieg gegen Frankreich und Großbritannien beschäftigt sein werde, sich die Fronten in Frankreich festfressen würden wie im Ersten Weltkrieg, und die Deutschen nicht so dumm sein könnten, erneut einen Zweifrontenkrieg zu führen. Das rasche militärische Vorgehen der deutschen Truppen in Frankreich und ganz Westeuropa 1940 ließ Hitler jedoch glauben, dass „Blitzkrieg“ funktioniere und auch gegen die Sowjetunion möglich sei.
Gleichwohl bleibt es eine wichtige Frage auch heute, von welchen Voraussetzungen beide Seiten ausgingen. Zunächst sah die sowjetische Führung die Auseinandersetzungen zwischen den faschistischen Achsenmächten und den Westmächten als Ausdruck zwischenimperialistischer Widersprüche. Die Sowjetunion sei nicht bereit, für andere die Kastanien aus dem Feuer zu holen, wie Stalin in seiner Rede vor den Delegierten des XVIII. Parteitages der KPdSU am 10. März 1939 sagte. Das Fehlen der Bereitschaft Großbritanniens und Frankreichs im Sommer 1939, rasch ein verbindliches Bündnis gegen das faschistische Deutschland zu schließen, sah Moskau als Zeichen dafür, dass der Westen die deutsche Kriegsmaschine gegen die Sowjetunion leiten wolle. Das zu verhindern, gab aus sowjetischer Sicht der Nichtangriffsvertrag die Möglichkeit.
An dieser Stelle ist an den sogenannten Hoffmann-Plan zu erinnern, der 1922 von General a. D. Max Hoffmann erarbeitet worden war und sowohl das sowjetische als auch das deutsche Denken beeinflusste. Diese Perspektiven sind in dem Buch „Feldzug gegen Moskau“ („Hitler over Russia“) von Ernst Henry deutlich umrissen, das 1936 in London und 1937 auf Deutsch in Paris erschien. Henry war das Pseudonym von Leonid A. Chentow, der 1904 in Russland als Sohn einer wohlhabenden Familie geboren worden war, bereits als Jugendlicher für die Kommunistische Jugendinternationale arbeitete, dann in Deutschland und ab 1933 in London lebte, bei den Nazis auf einer Sonderfahndungsliste stand und nach dem Zweiten Weltkrieg in die Sowjetunion zurückkehrte, wo er bis zu seinem Tod 1990 als marxistischer Theoretiker, Schriftsteller und Journalist lebte.
General Max Hoffmann spielte im Ersten Weltkrieg eine wichtige militärische und politische Rolle. Man kennt ihn von den Bildern der Verhandlungen über den Raubfrieden von Brest-Litowsk 1917/18. Zu jener Zeit war er Generalstabschef der deutschen Truppen an der Ostfront. Henry leuchtete zunächst den biographischen Hintergrund aus. Hoffmann, geboren in Nordhessen 1869, war aus bürgerlichem Hause, im Unterschied zur Mehrheit der Angehörigen des deutschen Generalstabs. Er hatte die Preußische Kriegsakademie absolviert, war 1898 als Militärattaché in St. Petersburg und ab 1899 in der Russland-Abteilung des Generalstabs eingesetzt. Während des russisch-japanischen Krieges war er 1904/05 Vertreter des deutschen Generalstabs bei der 1. Japanischen Armee in der Mandschurei. Was Hoffmann damals sah, beschreibt Henry so: „eine riesige, sich in Tausende von Kilometern streckende Front; eine gewaltige, Millionenreserven zählende, aber wie ein Holzklotz sich bewegende und wie ein Büffel kämpfende Armee, die sich verteidigt; und eine zweite, ganz kleine, aber wie aus einem Guss geformte, vollkommen durchtrainierte, mit Energie erfüllte, zweite Armee, die angreift und den Koloss wie ein Federkissen durchbohrt.“
Dieses Bild habe Hoffmann niemals losgelassen. Bei Kriegsausbruch 1914 war er Chef der Operationsabteilung der 8. deutschen Armee, die in Ostpreußen stand. Nach dem Schlieffen-Plan lag die maßgebliche Front im Westen, während im Osten nur die Stellung gehalten werden sollte. Tatsächlich blieb der Bewegungskrieg im Westen stecken, während die „Schlacht von Tannenberg“ Ende August 1914 mit einem deutschen Sieg über zahlenmäßig überlegene russische Truppen endete, der für die deutsche Kriegspropaganda die Niederlagen im Westen überdeckte. Offiziell galten die Generale Ludendorff und von Hindenburg als Schöpfer dieses Sieges, tatsächlich waren es wesentlich die Kriegspläne, die Hoffmann ausgearbeitet hatte. Nachdem Hindenburg und Ludendorff 1916 die Oberste Heeresleitung übernommen hatten und vor allem mit dem Krieg im Westen befasst waren, war Hoffmann Stabschef im Osten. Henry betont, dass Hoffmann die russischen Armeen nur als schwach gesehen hatte: „in Gestalt der verfaulten Divisionen“ von 1905, „in Gestalt der aufgelösten, panischen Korps“ des Jahres 1914 und „zum dritten Mal im November und Dezember 1917 in Gestalt der um Frieden bittenden und vor seinen brutalen Bedingungen nachgebenden ‚bolschewistischen Armee’“
Unter diesem Eindruck erarbeitete Hoffmann Anfang der 1920er Jahre seinen Plan zu einem konzentrierten Überfall britischer, französischer und anderer Truppen unter deutschem Kommando auf die Sowjetunion mit „blitzartigem Marsch“ auf Leningrad und Kiew, am der Ende Eroberung Moskaus und der „Säuberung des Landes bis zum Ural“. Zu jener Zeit war er Privatperson, hatte weder Truppen noch einen staatlichen Auftrag – die deutsche Reichswehrführung kooperierte mit Sowjetrussland. Gleichwohl wurde dieser „Hoffmann-Plan“ in besonders antisowjetischen Kreisen in Deutschland und Westeuropa diskutiert. Henrys Grundannahme von 1936 war, dass die deutsche Naziführung den Hoffmann-Plan zur Grundlage ihrer Kriegsplanungen gegen die Sowjetunion gemacht hatte. Das Stillhalten der Westmächte gegenüber der Wiederbesetzung des Rheinlandes 1936 war für ihn Zeichen, dass sie die Wendung des deutschen Faschismus gen Osten unterstützen; die Errichtung autoritärer beziehungsweise faschistischer Regimes im Baltikum und in Südosteuropa waren in diesem Sinne Teil der Vorbereitung des Aufmarsches gegen die Sowjetunion.
Hoffmann starb 1927. Henry betonte, der habe nur das Ende der Macht des Zarentums gesehen, nicht die Geburt der neuen bolschewistischen Armee. Sein Vorwort endet mit den Worten: „Hitler marschiert. Dass die andere Armee vorbereitet ist, ihn zu empfangen, mag dieses Buch zeigen.“ Zeitgenossen lasen das Buch als Voraussage eines „großen Krieges“ gegen die Sowjetunion.
Nach 1945 leugnete die sowjetische Führung beständig die Existenz der Geheimprotokolle zum Hitler-Stalin-Pakt, obwohl sie im Westen aus den deutschen Archiven bekannt waren. Erst in der zerfallenden Sowjetunion änderte sich das. Der Kongress der Volksdeputierten erklärte am 24. Dezember 1989 den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag und die Zusatzprotokolle für nichtig, „ex tunc“: von Anfang an, rückwirkend.
Die Interpretation, der Pakt habe der Sowjetunion eine Atempause verschafft, wurde bis zum Schluss beibehalten. Es gab jedoch ein Nachspiel. 1965 schrieb Ernst Henry einen Brief an den Schriftsteller Ilja Ehrenburg, in dem er diese Interpretation bestritt. Stalin habe die Rote Armee am Vorabend des Krieges ihrer Verteidigungskraft beraubt, insbesondere durch die Zerschlagung ihres Kommandeursbestandes. Auf eine „ernsthafte Stärkung der sowjetischen Verteidigung in den voraussichtlichen Richtungen des bevorstehenden Vormarsches der Wehrmacht“ wurde verzichtet. Die Sozialfaschismus-These habe die Spaltung der Arbeiterklasse vertieft und mit dem Hitler-Stalin-Pakt und Stalins Befehl an die kommunistischen Parteien in aller Welt, „jede antifaschistische Propaganda sofort einzustellen und sich für ein friedliches Übereinkommen mit Hitler einzusetzen“, habe Stalin die Verteidigung gegen Hitler-Deutschland nicht gestärkt, sondern geschwächt. Er räumte „Hitler die Chance ein, vor dem Überfall auf die Sowjet-Union Frankreich und Großbritannien auszuschalten und die USA zu neutralisieren“. Dass das am Ende nicht funktionierte, war nicht Stalins Verdienst. Stalin hätte spätestens 1941 „wegen völliger Unfähigkeit mit Schimpf und Schande“ davongejagt werden müssen.
Soweit die Tragödie. Die Farce folgte 1988. Die sowjetische Zeitschrift „Sputnik“ publizierte neben anderen kritischen Texten zu Stalin und zum Hitler-Stalin-Pakt diesen Brief von Henry an Ehrenburg. Deshalb verbot die SED-Führung im November 1988 die weitere Verbreitung der Zeitschrift in der DDR. Erich Honecker sprach vom „Gequake wildgewordener Spießer“.