von Erhard Crome
Die Wahlen zum britischen Unterhaus am 12. Dezember 2019 haben die Tories deutlich gewonnen. Mit einer klaren Mehrheit von 365 Sitzen (von 650) kann Boris Johnson fünf Jahre lang „durchregieren“ und den Brexit realisieren.
Dabei hatten die deutschen Medien doch immerfort berichtet, die Bevölkerung in Großbritannien habe das Brexit-Gezerre satt. Gar zu deutlich klang daraus der Wunsch hervor, dass die Briten den EU-Austritt „abwählen“, weil er unvernünftig und wirtschaftlich von Schaden sei. Diesbezüglich stimmten die Interessen der deutschen Wirtschaft, die Sichtweise der deutschen politischen Klasse und die Medien „zufällig“ in aller Regel überein. Da diese nach eigenem Bekunden nicht absichtlich lügen, lag es offenbar daran, dass die Korrespondenten und Mietschreiber in London und einigen größeren Städten immer nur mit Personen geredet hatten, die mit ihnen auf einer EU-orientierten gleichen Wellenlänge lagen und gegen den Brexit waren und sind.
Johnson bezeichneten sie gern und immer wieder als Lügner, Betrüger oder als „Clown“. Auch als im August 2019 der G7-Gipfel im Hotel du Palais in Biarritz, an der französischen Atlantikküste stattgefunden hatte, mokierten sich deutsche Medien darüber, dass sich Boris Johnson Zeit genommen hatte, dort im Meer zu baden. Niemand hatte sich die Mühe gemacht zu recherchieren, dass in diesem Hotel der britische König Edward VII. regelmäßig zu logieren pflegte und ebenso Winston Churchill, der dort ebenfalls schon im Atlantik geschwommen war. Johnsons Bad war daher weniger Ignoranz gegenüber dem Gipfelprogramm als britische Symbolpolitik im Geiste des Vorwahlkampfes.
Den Vogel schoss jetzt die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot ab, seit Jahren eine besonders eifrige Verfechterin der EU-Integration. In der Nacht, da die ersten Prognosen des britischen Wahlergebnisses bekannt wurden, verglich sie dies mit der Machtergreifung der Nazis in Deutschland 1933. Der Cicero kommentierte: „Mehr Geschichtsvergessenheit passt in keinen Satz. Mehr deutscher Dünkel auch nicht.“
Die Geschichtsvergessenheit ist eklatant. Dass die Position der britischen Regierung halsstarrig und realpolitisch nicht vernünftig sei, meinte die Berliner Regierung im Frühjahr 1940 ebenfalls, als Winston Churchill Hitlers Angebot eines Verständigungsfriedens ausschlug: Die Kampfhandlungen werden eingestellt, die Deutschen beherrschen den europäischen Kontinent und Großbritannien verfügt weiter über sein Empire. Und das zu einer Zeit, da die USA Winston Churchill noch keine definitive Unterstützung zugesagt hatten und die Sowjetunion faktisch Hitlers Kooperationspartner war.
Vor diesem Hintergrund hatte Guérot völlig danebengegriffen und sich selbst als ernstzunehmende Wissenschaftlerin nachhaltig verunmöglicht. Hinzu kommt: Mit diesem Thema hatte sich Boris Johnson intensiv befasst, als er an seiner politischen Karriere arbeitete. Das Buch trägt den Titel: „Der Churchill-Faktor“, erschien 2014 im Original, die deutsche Übersetzung ein Jahr später bei Klett-Cotta. Für Leser, die sich mit Churchills Biographie bereits zuvor intensiver befasst hatten, enthält es fachhistorisch nicht viel Neues, die Darstellung der historisch entscheidenden Tage im Nervenkrieg zwischen Churchill und Hitler im Mai 1940 fußt auf den einschlägigen Arbeiten von John Lukacs. Gleichzeitig hat es den Vorteil, dass Johnson als geübter Journalist es geschickt versteht, Anekdoten und Begegnungen einzufügen, zum Teil aus Erzählungen von Zeitzeugen, mit denen er selbst gesprochen hatte, darunter dem Enkel Churchills.
Das Besondere an Johnsons Buch ist etwas anderes. Bekannt ist, dass deutsche Geschichtsschreibung sich gern mit Strukturen und Institutionen befasst, während sich angelsächsische Historiographie stärker auf die handelnden Personen konzentriert. Diese Fokussierung spitzt Johnson nochmals zu. Im Zentrum steht daher der „Churchill-Faktor“: Es war in den entscheidenden Tagen 1940 auf diesen einen Mann angekommen. Wenn es nach dem vorherigen Premierminister Neville Chamberlain, dem Außenminister Lord Halifax und einem beträchtlichen Teil der britischen Oberschicht gegangen wäre, hätte Großbritannien im Mai 1940 in den angebotenen Friedensschluss eingewilligt. Dabei ging es nicht in erster Linie um Feigheit oder fehlenden Patriotismus, wie in Bezug auf Chamberlain und Halifax später oft behauptet wurde, sondern um die Möglichkeit, Großbritannien zu schützen, das Empire abzusichern und die vielen Menschenleben zu retten, die ein ernsthafter zweiter Weltkrieg kosten musste. Hinzu kam, dass „der Durchschnittsaristokrat“ in den 1930er Jahren mehr Angst vor dem Bolschewismus als vor Hitler hatte.
Johnson merkt an, es falle schwer, „sich vorzustellen, dass ein heutiger britischer Politiker den Schneid hätte, Churchills Kurs zu wählen“. Dann dekliniert er die politischen Konstellationen durch: „Wenn die Briten im Jahr 1940 ihren Widerstand aufgegeben hätten, dann hätte dies die Voraussetzungen für eine unumkehrbare Katastrophe in ganz Europa geschaffen.“ Hitler hätte „so gut wie sicher den Krieg gewonnen“, der Überfall auf die Sowjetunion wäre bereits früher erfolgt, die Briten hätten Hitler weder im Mittelmeer noch in Nordafrika Schwierigkeiten gemacht, in den USA hätten sich die Isolationisten durchgesetzt. Churchill war es, der klar sagte, Europa und die übrige Welt müsse „in den Abgrund eines neuen Mittelalters“ versinken, wenn Großbritannien sich dem nicht entgegenstellt. Außerdem war Hitler nicht zu trauen, es gab keine Garantie, dass dieser den Deal eines Friedensschlusses später einhalten würde. Dann aber wäre Großbritannien noch schwächer und weniger kampfbereit gewesen, als es im Mai 1940 war.
Das Fazit von Johnsons Darstellung lautet so: „Seit Jahrzehnten ist es Mode zu behaupten, diese sogenannten großen Männer und Frauen seien nur Begleiterscheinungen, trügerische Blasen auf dem gewaltigen Gezeitenstrom der Geschichte. Die wahre Handlung dreht sich nach dieser Sichtweise um die zugrundeliegenden wirtschaftlichen Kräfte, um technologische Fortschritte, Preisschwankungen von Sorghumhirse und die überwältigende Bedeutung einer unendlichen Zahl von alltäglichen menschlichen Handlungen. Und ich bin der Ansicht, dass die Geschichte von Winston Churchill eine ziemlich vernichtende Erwiderung auf diesen ganzen Unsinn ist. Er, und er ganz allein, hat den Unterschied ausgemacht.“
In all den hohntriefenden Kommentaren in Deutschland zu Boris Johnson ging es immer um diesen Punkt. Und die Unterstellung, er identifiziere sich mit Churchill. Das stimmt nicht. Er schreibt: „als Politiker bin ich es nicht wert, ihm die Schuhe zu binden“. Auch wenn dies gewiss britisches Understatement ist, so sollte man es dennoch ernst nehmen. Johnsons Analyse des Mai 1940 ergibt, dass der „Churchill-Faktor“ damals den Ausschlag gab. Und nach dem Brexit-Entscheid und dem Scheitern von Theresa May war er selbstbewusst genug, davon auszugehen, dass jetzt er selbst „den Unterschied macht“. Das hat er seit Juli 2019 politisch umgesetzt. Das Wahlergebnis vom 12. Dezember bestätigt: Der Johnson-Faktor war entscheidend. Vielleicht hätten die Politikerinnen und Politiker und ihre Wasserträger in den Medien in Berlin und Brüssel beizeiten dieses Buch lesen sollen, dessen Originalausgabe den Untertitel trug „Wie ein Mann Geschichte machte“.
Schlagwörter: Boris Johnson, Brexit, Erhard Crome, Großbritannien, Winston Churchill