23. Jahrgang | Nummer 11 | 25. Mai 2020

Ein unabgegoltenes Erbe

von Mario Keßler

Der anzuzeigende Sammelband ist ein Kompendium von Ergebnissen der Forschung zur vergleichenden deutschen Zeitgeschichte aus der Feder vornehmlich jüngerer und jedenfalls meist weniger etablierter Wissenschaftler (beiderlei Geschlechts, wie positiv anzumerken sei). Das „Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der DDR-Zeitgeschichtsforschung“, so der Untertitel, bezieht sich zum einen auf die geforderte Perspektiverweiterung, die DDR auch als Gesellschaft „nach Auschwitz“ zu begreifen, zum anderen darauf, sie in Beziehung zur Bundesrepublik zu setzen. Auf eine andere Perspektiverweiterung hingegen, nämlich die Erblast des europäischen Faschismus zu diskutieren, wird, mit der Ausnahme des Beitrages von Günter Morsch, verzichtet. Dies zeigt sich auch in der durchgängigen, nicht kritisch befragten Verwendung des Begriffs „Nationalsozialismus“, ohne diesen als spezifischen Teil des Faschismus zu begreifen, wie es in England, Frankreich und den USA heute gängig ist.

Naturgemäß sind die insgesamt zwanzig Beiträge, davon sieben unter dem Rubrum „Bundesrepublik Deutschland“ gefasst, in Anlage, Methodik, Duktus und auch Qualität unterschiedlich. Sie reichen von jüdischen Generationserfahrungen in der DDR (Annette Leo und Anetta Kahane), dem Antifaschismus als moralischem Auftrag, doch auch als Legitimationsideologie (Christoph Classen), dem Antizionismus (Jeffrey Herf) bis hin zur Situation Homosexueller (Christiane Leidinger, Heike Radvan) und der Roma (Ingrid Bettwieser, Tobias von Borcke), von der Gedenkstättenpolitik (Carola Rudnick) bis zu Patrice Poutros’ Weg vom FDJ-Funktionär zum kritischen Historiker. Weiteres wäre zu nennen.

Die Aufsätze nähern sich durchweg kritisch, mit nüchterner Distanz, aber gebotenem Respekt den Personen oder Gegenständen ihrer Untersuchung. Eine Ausnahme bildet der Beitrag von Agnes C. Mueller von der University of South Carolina über Christa Wolf und Fred Wander. Darin wird Christa Wolf (so bezüglich ihrer „Kindheitsmuster“) eine Verdrängung des Holocaust unterstellt. Nur wer ihn überlebt habe, so Wolf, sei befugt, darüber zu sprechen. Dies aber erlaube Generationen von Tätern zu schweigen – jedenfalls liest das die Germanistin aus Christa Wolfs Werk heraus. Fred Wanders „Der siebte Brunnen“ laufe „Gefahr“, als „Holocaust-Kitsch“ rezipiert zu werden. In einem „selbstgefälligen Brief“ an Primo Levi habe Wander „(ge)prahlt“, in der DDR sei, anders als der Bundesrepublik, „das Problem des Antisemitismus zunächst gelöst“ worden. Dass es auf das „zunächst“ ankommt, gerät der Autorin nicht in den Sinn.

Dass der (zum Glück verordnete) Antifaschismus in der DDR mehr war als nur die Rechtfertigung des autoritären Pseudo-Sozialismus, zeigt Klaus Bästlein in seinem Beitrag über den DDR-Prozess gegen den – natürlich abwesenden – Hans Globke (seit 1953 Chef des Bundeskanzleramtes und einer der engsten Vertrauten Adenauers) aus dem Jahr 1963. Bästlein betont, das Gericht habe überzeugend Globkes Rolle als Mittäter des Holocaust nachgewiesen. Über die entscheidende Mitwirkung an den Nürnberger „Rassengesetzen“ hinaus sei Globke in die bürokratische Planung und Durchführung des Judenmordes eingebunden gewesen. Dabei habe, so Bästlein, das DDR-Gericht sorgfältig auf das formaljuristische Procedere geachtet. Gerade das Gericht sei nicht für die propagandistische Begleitung, an der es die DDR-Medien nicht fehlen ließen, verantwortlich gewesen. Dass Adenauer derart lange an einem solchen faschistischen Mittäter festhielt, war, so Bästlein, die personell schwerste, keineswegs einzige Hypothek seiner restaurativen Kanzler-Demokratie. Im Zusammenhang damit verdient die abwehrende Haltung gegenüber antifaschistischer Gedenkpolitik im immerhin von der SPD (unter anderem unter Willy Brandt) regierten West-Berlin, genannt zu werden, worüber Gerd Kühling berichtet.

Einer der besten, doch auch unbequemsten Beiträge stammt vom Spiritus Rector des Bandes, Enrico Heitzer, der, so der Titel, die „DDR-Systemgegnerschaft von rechts“ zum Inhalt hat. Anknüpfend an seine Forschung zur „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“, einer von West-Berlin aus gegen die DDR operierenden Terror-Organisation, zeigt Heitzer, gestützt auf MfS-Akten, dass nicht nur in den Anfangsjahren des Kalten Krieges, sondern durchgängig in der DDR (wie im Westen) ein quantitativ nur schwer zu bestimmender, doch stets fruchtbarer Bodensatz an faschistischem Denken fortdauerte. Heitzer fordert, in künftige Forschungen zur DDR-Opposition nicht nur linkssozialistische, christliche oder bürgerlich-konservative Motive einzubeziehen, sondern auch den Altnazismus, der sich illegal zum Neonazismus transformierte. Ergänzend sei angemerkt, dass rechtsradikal Gesinnte in der DDR sich oft in der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) sammelten. Man fand sie auch unter niederen Chargen in der Nationalen Volksarmee oder in den Ordnungsgruppen der FDJ. Schließlich bezogen die in ostdeutschen Gefilden nachgewachsenen Serienmörder des (so die Selbstbezeichnung) „Nationalsozialistischen Untergrundes“ und ihre Komplizen in Thüringen ihre Motivation auch aus ungebrochenen „Heldenerzählungen“ der Großeltern-Generation, von der mehr Angehörige als lange Zeit angenommen dem „Führer“ nachtrauerten.

Eine gesamt-, doch vor allem osteuropäische Problemlage beleuchtet Günter Morsch in seinem hervorragenden Aufsatz zur Erinnerungskultur. Er setzt sich kritisch mit Initiativen baltischer, tschechischer und polnischer Europa-Parlamentarier auseinander, den Holocaust nicht nur als „Projekt“ des deutschen und europäischen Faschismus zu begreifen, sondern zunehmend auch in einer Geschichte des Totalitarismus einzuebnen. Der 23. August 1939 als Datum des Zusammenspiels der Diktatoren Hitler und Stalin ist aber nicht ohne das Versagen der westlichen Demokratien im Münchner Abkommen 1938 und die Verweigerung von Asylregelungen in Evian im gleichen Jahr zu begreifen. Entsprechende Erklärungen, so die des Europa-Parlaments vom April 2009 und nachfolgende Stellungnahmen, blenden solche Zusammenhänge aus. Damit geht auch eine sukzessive Aufwertung von Auffassungen einher, wie sie Historiker um Ernst Nolte – sogar der von Morsch zitierte Norman Davis? – vertraten und vertreten: Dieser behauptete, ab 1939 habe das stalinistische System der Besetzung Polens in der „Logistik des Terrors“ einen „Vorsprung gegenüber den Nazis“ gehabt. Doch hatten, bei aller Brutalität Stalins und seiner zahlreichen Erfüllungsgehilfen, Juden unter sowjetischer Herrschaft, nicht unter der Hitlers, eine Überlebenschance. Andere hatten diese nicht – weder unter Stalin die polnischen Offiziere in Katyn, noch unter Hitler die polnischen Professoren in Lemberg..

Der Begriff des Paradigmenwechsels könnte somit in doppelter Bedeutung stehen. Zum einen als Plädoyer für eine mehrdimensionale Zeitgeschichtsschreibung. Zum anderen aber, und dies ist eine Besorgnis erregende Botschaft, geht es mehr denn je darum, einen anderen, einen höchst gefährlichen Paradigmenwechsel nicht zuzulassen: hin zu einer Geschichtspolitik, die zur Entlastung deutscher Faschisten und ihrer europäischen Kollaborateure führt. Sind angesichts heutiger Vorgänge in Ungarn oder Polen, so ist in diesem Kontext zu fragen, Isaac Deutschers Worte von 1946 nur noch eine Mahnung aus einer fernen Vergangenheit? Deutscher warnte damals vor der Möglichkeit, dass statt der Roten Armee dereinst eine antikommunistische „Hyänen-Klasse“ wieder die Macht übernehmen könne. Die Kader dieser kleinbürgerlichen „Lumpen-Bourgeoisie“ stünden „als die brutalsten und entschiedensten Träger einer osteuropäischen Konterrevolution Gewehr bei Fuß“. Doch konnte wohl selbst Isaac Deutscher die Möglichkeit kaum voraussehen, dass diese Kräfte sich dereinst anschicken könnten, das Rad der Geschichte sogar unter starkem Beifall großer Teile ihrer Völker zurückzudrehen.

Enrico Heitzer / Martin Jander / Anetta Kahane / Patrice G. Poutros (Hg.): Nach Auschwitz: Schwieriges Erbe. Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der DDR-Zeitgeschichtsforschung, Wochenschau-Verlag, Frankfurt a. M. 2018, 330 Seiten, 33,60 Euro.