23. Jahrgang | Nummer 11 | 25. Mai 2020

„Nukleare Revanchisten“: Kernwaffeneinsatz zwecks Deeskalation*

von Wolfgang Kubiczek

Aleksej Arbatow bezeichnet die Anhänger der Deeskalationstheorie als „nukleare Revanchisten“, „die es darauf anlegen, Kernwaffen einsetzbarer zu machen“[1]. Diese Theorie besagt, dass die Nichtanwendbarkeit von Kernwaffen für einen Entwaffnungsschlag gegen eine feindliche Nuklearmacht auf strategischer Ebene nicht deren selektive Anwendung auf einem regionalen Kriegsschauplatz ausschließe – beispielsweise in einem konventionellen Krieg –, falls eine Niederlage droht.

Tatsächlich tauchte die Idee von der „Eskalation zur Deeskalation“ in der Öffentlichkeit erstmals 1999 auf. In der Militärzeitschrift Voennaja Mysl’ erschien ein Beitrag mit dem Titel „Über die Anwendung von Kernwaffen zur Deeskalation militärischer Handlungen“.[2] Der Autor, ein Generalmajor, beklagte, dass – angesichts der russischen Unterlegenheit bei konventionellen Waffen – die russische Nuklearstrategie einen Präventivschlag ausschließe. Kernwaffen würden nur als Mittel der Abschreckung einer Aggression betrachtet. Falls aber trotzdem eine stattfände, so der General, müsse man Kernwaffen nicht nur als Möglichkeit zur Vernichtung des Gegners, sondern auch als Mittel zur Deeskalation einsetzen können. Das erfordere im Konfliktfall die demonstrative (begrenzte) Anwendung von Kernwaffen zur Unterstreichung der eigenen Entschlossenheit. Dem Gegner bliebe dann als akzeptabelste Variante die Einstellung der Kriegshandlungen.

Diese Idee fand keine Aufnahme in die russische Militärdoktrin von 2000[3], wurde jedoch in der Diskussion um die neue Militärdoktrin von 2010 von prominenter Seite wieder ins Spiel gebracht. Äußerungen von Nikolai Patruschew[4] wurden von RT mit den Worten wiedergegeben: „Russlands neue Militärdoktrin wird eine größere Betonung auf Kernwaffen legen. Moskau wird in der Lage sein, Kernwaffen in kleineren Konflikten anzuwenden und präventive Nuklearschläge auszuführen.“[5] Und Patruschew im Originalton: „Wir haben die Bedingungen zur Anwendung von Kernwaffen korrigiert, um einer Aggression mit konventionellen Waffen nicht nur in großen Kriegen, sondern auch in regionalen und sogar lokalen Kriegen zu widerstehen.“[6] Hier ist wohlgemerkt von Kriegführung die Rede, nicht von einer existentiellen Bedrohung des russischen Staates. In der danach verabschiedeten Militärdoktrin von 2010 findet sich jedoch keine Textstelle, die dem entsprechen würde.

Dennoch häuften sich diesbezügliche westliche Vorwürfe gegen alle drei Varianten der Militärdoktrin (von 2000, 2010 und 2014). So warnte Nikolai Sokov[7] bereits im Hinblick auf die russische Militärdoktrin des Jahres 2000: „Die Doktrin führte die Auffassung von der Deeskalation ein – einer Strategie, die die Androhung eines begrenzten Nuklearschlages vorsieht und einen Gegner zwingen würde, eine Rückkehr zum status quo ante zu akzeptieren. Man stellt sich vor, dass eine solche Drohung die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten davor abschreckt, sich in für Russland wichtige Konflikte einzumischen. In diesem Sinne ist sie grundsätzlich defensiv.“[8] Ein konkreter Textbezug wurde von Sokov nicht nachgewiesen. [9]

Derlei unbewiesene Vorwürfe dienten gleichwohl der Trump-Administration in ihrem „Nuclear Posture Review“[10] von 2018 als Vorwand für die Einleitung einer neuen Rüstungsspirale. Die russische Militärdoktrin betone, heißt es dort, den gewaltbereiten Einsatz und die militärische Nutzung von Kernwaffen: „Fälschlicherweise wird eingeschätzt, dass die Androhung einer nuklearen Eskalation oder die Erstanwendung von Kernwaffen dazu dienen würden, einen Konflikt zu für Russland günstigen Bedingungen zu ‚deeskalieren‘.“[11] Daraus wird die Schlussfolgerung abgeleitet, dass man selbst Atomwaffen mit geringer Sprengkraft brauche, um Russland auf einem niedrigeren regionalen Konfliktniveau abschrecken zu können. Von der praktischen Umsetzung dieser Forderung zeugt die jüngste Einführung des Atomsprengkopfs W76-2 auf U-Boot gestützten ballistischen Raketen (SLBM).[12]

Russland und zuvor die Sowjetunion sind in ihrer Nuklearstrategie stets davon ausgegangen, dass eine Absenkung der Nuklearschwelle zur globalen Atomkatastrophe führen kann.[13] Und in der Tat: Das wahrscheinlichste Scenario beim Einsatz von taktischen Kernwaffen in einem begrenzten Krieg unter Beteiligung der beiden atomaren Supermächte wäre nicht die Eindämmung der Kriegshandlungen. Weder die USA noch Russland würden eine Niederlage in einem gegenseitigen Konflikt zulassen, ohne ihr gesamtes Nuklearpotential zum Einsatz zu bringen. Für Russland kommt hinzu, dass im Unterschied zu den USA ein begrenzter Kernwaffenkrieg – wenn er denn möglich wäre – immer in der Nähe russischen Territoriums oder sogar unter seiner Einbeziehung erfolgen würde.[14]

Nach den Konflikten mit Georgien und der Ukraine meldeten sich die russischen Anhänger der These von der „Eskalation zur Deeskalation“ wieder in der Öffentlichkeit zu Wort, ein zusätzlicher Beweis, dass sie sich mit ihren Auffassungen bis dato nicht durchsetzen konnten. Dabei stellen sie bewusst einen Bezug zu westlichen Ausarbeitungen aus den fünfziger und sechziger Jahren her – wie der Eskalationstheorie von Herman Kahn oder der Theorie von einem „begrenzten Krieg“ von John Osgood .[15]

Einer der hartnäckigsten Vertreter der „Eskalation zur Deeskalation“ ist Sergej Brezkun[16]. Angesichts der russischen Schwäche bei der nichtnuklearen Verteidigung, so Brezkun, „macht es heute Sinn, eine gewisse Inversion der westlichen Anschauungen im Interesse Russlands vorzunehmen.“ Daher sei es zweckmäßig, „einen realen begrenzten Einsatz des russischen Nuklearfaktors im Falle einer realen regionalen nichtnuklearen Aggression des Westens (NATO) gegen Russland vorzusehen“[17]. Jeder potentielle Aggressor müsse von vornherein wissen, wie Russland handeln werde, wenn er einen regionalen Konflikt vom Zaune breche. Folglich brauche man eine „Stufenleiter der Deeskalation“ eines hypothetischen Konflikts.[18]. Um die Entwicklung der eigenen Kernwaffen nicht zu behindern, forderte Brezkun den Austritt aus dem INF-Vertrag (zwischenzeitlich hat sich das erledigt) und dem nuklearen Teststoppvertrag (CTBT). Außerdem solle auch der Rückzug Russlands aus dem Nichtverbreitungsvertrag von Kernwaffen (NPT) eingeleitet werden.[19]

„In der Militärdoktrin der RF (Russischen Föderation – W.K.) wird die Möglichkeit einer nuklearen Antwort auf eine nichtnukleare Aggression nicht ausgeschlossen“, so Brezkun, „jedoch wird diese These sehr karg und unentschlossen ausgedrückt, während es an der Zeit wäre, den Punkt aufs i zu setzen, und zwar offiziell und öffentlich.“[20] Diese Bemerkung weist darauf hin, dass die Diskussion um die Zweckmäßigkeit der Deeskalationstheorie in den russischen Führungskreisen nicht abgeschlossen ist. Offizielle Dementis von höchster Ebene sind eher selten. Umso wichtiger die klaren Worte von Anatolij Antonow, russischer Botschafter in den USA: „Behauptungen amerikanischer Regierungskreise, Russland würde eine Militärdoktrin der ‚Eskalation zur Deeskalation‘ verfolgen, entsprechen nicht der Wirklichkeit.“[21] Dabei verweist Antonow auf den Punkt 27 der russischen Militärdoktrin, der einen solchen Einsatz nur vorsieht, wenn die staatliche Existenz Russlands an sich gefährdet ist, und auf Wladimir Putins Äußerung, dass es in der russischen Konzeption der Anwendung von Kernwaffen keinen Präventivschlag gebe.

Mangelnde Klarheit in der Nuklearstrategie wird allerdings auch von den Gegnern der „Eskalation zur Deeskalation“-Theorie beklagt. Zumal sich in dem von Putin 2017 bestätigten Dokument „Grundlagen der staatlichen Politik der Russischen Föderation auf dem Gebiet der Seestreitkräfte“[22] unter Absatz 37 folgende Formulierung findet: „Unter den Bedingungen der Eskalation eines militärischen Konflikts ist die Demonstration der Bereitschaft und Entschlossenheit zur Anwendung von Gewalt unter Einsatz von nichtstrategischen Kernwaffen ein wichtiger Faktor der Abschreckung.“ Dazu schreibt Wladimir Dworkin unter dem Titel „Die Militärdoktrin Russlands benötigt eine Erneuerung“, dass die 2018 erfolgte Einführung des Begriffs der „nichtnuklearen Abschreckung“ in die russische Militärdoktrin ein wichtiger Schritt war, der die gewachsene Stärke der russischen Militärmacht auf nichtnuklearem Gebiet (Beispiel Syrien) widerspiegele. Angesichts dessen könne man sich praktisch kein Scenario vorstellen, bei dem die NATO real in der Lage wäre, Russland mit einem großangelegten nichtnuklearen Angriff zu bedrohen. Daher sollte die Formulierung zur Anwendung von Kernwaffen in der Militärdoktrin lauten: „Die Russische Föderation behält sich das Recht vor, Kernwaffen als Antwort auf eine gegen sie und (oder) ihre Bündnispartner gerichtete Anwendung von Kernwaffen oder anderen Massenvernichtungswaffen einzusetzen.“ Er schlägt vor, die heutige Einschränkung „[…] sowie im Falle einer Aggression gegen die Russische Föderation mit konventionellen Mitteln, wenn die Existenz des Staates an sich bedroht ist“ zu streichen.[23]

Dementsprechend müssten auch die Formulierungen in den „Grundlagen Staatlicher Politik […] auf dem Gebiet der Seestreitkräfte“ angepasst werden. Die „nukleare Deeskalation“ in der Seestreitkräftedoktrin (das heißt der Einsatz von nichtstrategischen Kernwaffen zur Abschreckung), so Dworkin, sei mit den existierenden Bedingungen zur Anwendung von Kernwaffen in der russischen Militärdoktrin nicht abgestimmt worden. Diese „Deeskalation“ würde aktive Politiker und tatendurstige Generäle im Westen nur in Aufregung versetzen. „Es ist somit an der Zeit“, fordert Dworkin, „die Bedingungen zum Einsatz russischer Kernwaffen in Übereinstimmung mit den Aufgaben zur Abschreckung einer nuklearen Aggression zu bringen und auf die gewachsene Stärke der nichtnuklearen Waffen Russlands bei der nichtnuklearen Abschreckung zu setzen.“[24] Die Vermischung von nuklearen und nichtnuklearen Aufgaben sei äußerst gefährlich, besonders wenn einige Politiker davon sprächen, dass sich neue nichtnukleare Waffen hinsichtlich ihrer Effektivität den nuklearen annähern.

Aufhorchen lässt auch die in manchen Medien des militärisch-industriellen Komplexes Russlands aufscheinende Zweideutigkeit zum Deeskalationskonzept. So heißt es in einer Analyse des Voenno-promyschlennij kurjer, man gehe von der Annahme aus, dass ein erster nuklearer Schlag von Seiten Russlands begrenzten Charakter tragen würde, obwohl dies der offiziellen Militärdoktrin widerspreche. Dabei beruft man sich auf die in öffentlichen Medien vorgenommenen Analysen von Spezialisten über die verschiedenen Varianten der Erstanwendung von Kernwaffen.[25]

In einem im Februar dieses Jahres auf den Seiten des RIAC[26] erschienen Beitrags von Konstantin Bogdanow, Mitarbeiter des IMEMO[27], werden die Nuklearstrategien beider atomarer Supermächte einer scharfen Kritik unterzogen. „Die Veränderungen in den Nukleardoktrinen der USA und Russlands“, so der Autor, „kann man nur schwerlich als positiv bezeichnen.“ Die USA würden unverblümt die Frage nach „nutzbaren“ Kernwaffen als Mittel der Feldschlacht stellen. „Russland dagegen […] betrachtet sich weiterhin als umlagerte Festung, die kurz vor dem Fallen steht. Das führt zu Bestrebungen, die Nukleardoktrin maximal undurchsichtig zu machen, um ‚Abschreckung durch Zweideutigkeit‘, die traditionelle Zuflucht der schwächeren Seite, zu praktizieren […].“ Beide Verhaltensweisen verschleierten „‚die roten Linien‘ der Erstanwendung von Kernwaffen […]. Von Seiten Russlands fördert die absichtliche nukleare Zweideutigkeit destabilisierende Faktoren in möglichen militärisch-politischen Krisen, […] indem sie den Übergang (darunter einen unbeabsichtigten) vom nichtnuklearen Teil der Eskalationsleiter in den nuklearen erleichtert. Es erscheint natürlich paradox, aber beide Supermächte erhöhen die strategischen Risiken eines Kernwaffenkrieges, indem sie damit aus mangelndem politischen Vertrauen konjunkturelle Aufgaben von vorübergehender Bedeutung zu lösen versuchen.“[28]

Nukleare Irrlichter: Fatale Denkmuster

Im März vergangenen Jahres überraschte die Fachwelt auf der Homepage des RIAC ein Beitrag zum Thema „Der Mythos der nuklearen Abschreckung“[29]. Als Autor wurde ein gewisser Walerij Aleksejew ausgewiesen, offenbar ein Pseudonym. Dessen zynische Argumente sind schwer zu ertragen. Aleksejew schreibt: Die Kernwaffenstaaten verfolgten offiziell eine Politik der nuklearen Abschreckung, deren Wesen in der glaubhaften Androhung eines nichtakzeptablen Schadens bestehe. Da Kernwaffen aber nie in einer Gefechtssituation eingesetzt worden seien, bleibe dieses Konstrukt jedoch reine Hypothese. Die Bombardierung der japanischen Städte mit US-Atomwaffen sei ein Akt der Vergeltung gewesen, der nichts über die militärischen Fähigkeiten von Kernwaffen aussage. Heute wisse man noch immer nicht, wie die Anwendung von Atomsprengköpfen auf die militärischen Kräfte des Gegners wirke. Noch weniger wisse man über die möglichen Folgen der militärischen Anwendung von Wasserstoffbomben.

Es folgt ein wenig überzeugender Versuch, die Vernichtungskraft von Nuklearwaffen zu verharmlosen. So könne man die Anzahl der Toten von Hiroshima und Nagasaki mit den Gefallenen bei einer normalen Operation an der sowjetisch-deutschen Front im zweiten Weltkrieg vergleichen. Auch seien bei den strategischen Bombardierungen von Städten in diesem Krieg – Aleksejew führt das Beispiel Dresden an – teils mehr Menschen umgekommen als bei den Atombombenabwürfen in Japan.[30] Russland und die USA könnten mit ihrem heutigen Kernwaffenpotential gerade mal ein mittelgroßes Land wie Frankreich in eine Zone der Vernichtung verwandeln, aber auf keinen Fall die ganze Welt. Die hypothetischen Verluste in einem Kernwaffenkrieg seien vergleichbar mit den Verlusten in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Auf die selbst gestellte Frage, ob die Welt heute einen weiteren Krieg dieser Größenordnung überleben könne, antwortet der Autor: „Auch wenn es zynisch klingt – mit Leichtigkeit“. Die Kleinbürger in Neuseeland, Argentinien oder den USA würden diesen als eine interessante Fernsehschau wahrnehmen.

Um die Ungewissheit über den Einsatz von Kernwaffen zu beseitigen, so Aleksejew weiter, sei es für die Atommächte logischer, sie irgendwo begrenzt in regionalen Konflikten auszuprobieren. Dann könne man deren Zerstörungskraft realistisch beurteilen. Die Gegner würden dann aufhören zu spekulieren, ob man im Falle eines Krieges wirklich Kernwaffen einsetzen könne. Und die Militärs schließlich hätten praktische Erfahrungen, um eine vollwertige Nuklearstrategie zu entwickeln.

Diese offene Apologetik eines Kernwaffeneinsatzes stieß in russischen Medien und in Expertenkreisen auf heftigen Widerstand. Die Zeitung Novye Izvestija brachte es auf den Punkt: „Wessen Standpunkt ist das? Der des Staates? Oder der eines privaten von militaristischer Ungeduld verrückt gewordenen Autors (Redakteurs)?“[31] Der RIAC sah sich aufgrund der Proteste veranlasst, dem Beitrag Aleksejews eine Erklärung voranzustellen: „Im Zusammenhang mit der Resonanz auf diesen Artikel halten wir es für erforderlich, zum Ausdruck zu bringen, dass es für die im Text dargelegten Thesen im Rat keine Unterstützung gibt.“ Man sei aber der Meinungsvielfalt verpflichtet. „Die im Artikel […] vertretenen Positionen werden regelmäßig in Expertendiskussionen geäußert und finden die Unterstützung einer Reihe von Wissenschaftlern.“[32] Diese Begründung erschreckt und zeugt davon, dass es sich hier offenbar nicht um einen einzelnen geistigen Irrläufer handelt.

Unter dem gleichen Pseudonym war auf der RIAC-Homepage bereits im Oktober 2013 ein Beitrag unter der verstörenden Überschrift „Ist ein Krieg mit Amerika möglich?“[33] veröffentlicht worden. Zentrale Thesen des Autors: Die Zunahme realer Widersprüche zwischen Washington und Moskau „kann in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem militärischen Konflikt zwischen Russland und den USA führen“. Eine wahrscheinliche Variante wäre die militärische Einmischung der USA in einen regionalen Konflikt zwischen Moskau und einem seiner Nachbarn (vergleichbar mit dem Krieg Russlands mit Georgien). Der nukleare Faktor (sprich die nukleare Abschreckung) sei keine Garantie für den Frieden. Die Perspektive einer begrenzten Anwendung von Kernwaffen liege dabei durchaus im Rahmen des Vorstellbaren.

Vor kurzem simulierte ein Expertenteam an der Princeton University einen Schlagabtausch zwischen den USA und Russland unter Einsatz taktischer Kernwaffen. Die „Übung“ zeigte die Absurdität solcher Thesen, denn sie führte zu dem Ergebnis, dass ein solcher „kleiner“ Kernwaffenkrieg neunzig Millionen Tote und Verletzte innerhalb weniger Stunden fordern würde. [34]

Die Schlussfolgerung lautet: So etwas wie einen kleinen Kernwaffenkrieg kann es nicht geben. Jede Anwendung von Atomwaffen würde katastrophale Folgen haben, bis hin zum möglichen Ende der menschlichen Zivilisation.

Deverrick Holmes, ein Mitarbeiter des Centers for Arms Control and Non-Proliferation in Washington D.C., fasste zusammen: „Die Akzeptanz des Konzepts von einem begrenzten Kernwaffenkrieg ist im höchsten Maße aberwitzig, und wir machen uns selbst zum Narren, wenn wir glauben, dass die Anwendung von Kernwaffen mit geringer Sprengkraft irgendwie helfen würde, die Eskalation zu einer totalen Vernichtung zu verhindern.“[35]

Und was sagt die russische Regierung dazu?

In einer seiner jüngsten Äußerungen zu diesem Thema bestätigte Präsident Putin die klar defensive Ausrichtung der russischen Nuklearstrategie: „[…] in unserer Konzeption der Anwendung von Kernwaffen gibt es keinen Präventivschlag […]. Unsere Konzeption ist die eines nuklearen Gegenschlags nach Warnung[36]. […] wir sind bereit und werden Kernwaffen nur dann anwenden, wenn wir uns davon überzeugt haben, dass […] ein potentieller Aggressor, einen Schlag gegen Russland, gegen unser Territorium eingeleitet hat […] dafür haben wir das Frühwarnsystem gegen einen Raketenangriff. Das System stellt global fest, welche Starts von strategischen Raketen aus den Weltozeanen oder vom Festland erfolgt sind […] es bestimmt zweitens die Flugbahn und drittens den Einschlagsort der nuklearen Sprengköpfe. Und wenn wir überzeugt sind (und dazu benötigt man nur wenige Sekunden), dass der Angriff gegen das Territorium Russlands gerichtet ist, nur dann werden wir einen Antwortschlag führen […]. Der Aggressor muss jedenfalls wissen, dass die Vergeltung unausweichlich ist und er vernichtet wird.“[37]

Die Entscheidung über einen Gegenschlag nach Warnung würde also aufgrund von Informationen eines Frühwarnsystems vor Raketenangriffen erfolgen und müsste innerhalb weniger Minuten gefasst werden. Ein solches System hat den militärischen Vorzug, dass die eigenen Raketen einen Erstschlag überleben würden, da ihr Start zum Vergeltungsschlag vor dem Einschlag der gegnerischen Waffen erfolgte. Über die technischen Voraussetzungen dafür verfügen heute nur Russland und die USA. Es ist aber nicht auszuschließen, dass in der Zukunft weitere Kernwaffenstaaten ein entsprechendes System entwickeln werden.[38]

Dieses an sich defensive Herangehen birgt jedoch die große Gefahr eines unbeabsichtigten Einsatzes von Kernwaffen durch Fehlalarm des Frühwarnsystems in sich. Vorfälle dieser Art sind bereits zur Zeit des kalten Krieges vorgekommen, wurden aber bisher immer rechtzeitig erkannt. „Sich auf ein solches ‚Launch-on-Warning‘-System zu stützen,“ kritisiert heute Wladimir Dworkin, „ist am risikoreichsten, da […] Fehler oder Fehlfunktionen zur Ursache einer globalen Katastrophe werden können.“[39] Diese Gefahr erhöhe sich noch dadurch, dass die Rolle der Staatsführer im Vergleich zu den institutionellen Strukturen sogar in demokratischen Staaten, geschweige denn in autoritären, zunehme. In einer Stresssituation auf dem Höhepunkt einer politisch-militärischen Konfrontation und einer angeheizten militärischen Psychose könne man nicht zwangsläufig auf eine vom gesunden Menschenverstand getragene Entscheidung hoffen. Für Russland sei die Konzeption von einem „Gegenschlag nach Warnung“, um seine Interkontinentalraketen (ICBM) zu schützen, heute überdies nicht mehr notwendig. Da zu Sowjetzeiten die ICBM mehrheitlich stationär disloziert und somit von geringer Überlebensfähigkeit waren, hätte eine solche Option sinnvoll sein können. Heute verfüge die ICBM-Gruppierung über 300 Abschussrampen, von denen lediglich dreißig Prozent stationär seien. Die Mehrzahl der mobilen ICBM würde auch nach einem Nuklearangriff funktionsfähig bleiben. Dennoch, beklagt Dworkin, bleibe die Orientierung auf einen „Gegenschlag nach Warnung“ in der russischen Nukleardoktrin erhalten.[40]

Grundsätzlich hat Moskau sowohl zu Zeiten der Sowjetunion als auch im heutigen Russland die Auffassung vertreten, dass es in einem Kernwaffenkrieg keine Sieger geben wird. Putin im Oktober 2015: „Mit dem Aufkommen der Kernwaffen wurde klar, dass es in einem globalen Krieg keine Sieger geben kann, sondern nur die gegenseitig garantierte Vernichtung. Dadurch wird ein großer Krieg sinnlos.“[41] Allerdings beklagt Putin später, dass der Abschreckungsfaktor von Kernwaffen sich in den letzten Jahren zu entwerten begonnen habe. Bei einigen würde die Illusion entstehen, in einem Weltkrieg könne eine der Seiten einen Sieg erringen. Die nach zwei Weltkriegen erworbene Immunität gegen einen Krieg schwäche sich ab. Dies vollziehe sich vor dem Hintergrund der von den USA initiierten weitgehenden Zerstörung des internationalen Rüstungskontrollsystems, beginnend mit der Aufkündigung des ABM-Vertrages bis zum Austritt aus dem INF-Vertrag. Jetzt bestehe die Gefahr, dass der letzte große Stützpfeiler des bilateralen Vertragssystems, der mit Präsident Obama abgeschlossene New START-Vertrag, wegen Nichtverlängerung im nächsten Jahr auslaufe.

Zugleich verwies Putin auf die Gefahr einer neuen Rüstungsspirale: „Falls neue US-Mittelstreckenwaffen in Europa stationiert werden sollten, werden wir spiegelbildlich antworten. Die Stationierungsländer setzen dann ihr Territorium der Möglichkeit eines Gegenschlages aus.“[42] Das würde im Falle einer Stationierung auch Deutschland betreffen.

Und schließlich warnte Putin vor Gedankenspielen mit dem Einsatz taktischer Kernwaffen auf dem Gefechtsfeld: „Es existiert die Idee, nukleare Sprengköpfe mit geringer Zerstörungskraft zu schaffen, und das bedeutet keine globale, sondern ihre taktische Anwendung. Solche Ideen hört man von einigen Analytikern aus dem Westen: Daran sei nichts Schlimmes sei, man könne sie (Kernwaffen mit vergleichsweise geringer Sprengkraft – W.K.) anwenden. Aber die Absenkung der (nuklearen – W.K.) Schwelle kann zu einer globalen nuklearen Katastrophe führen. Das ist eine Gefahr unserer Tage.“[43]

Es bleibt zu hoffen, dass diese vernünftigen Feststellungen auch in der Auseinandersetzung zwischen russischen Analytikern und Militärexperten dominieren werden. Eine neue Militärdoktrin könnte hier dazu beitragen, Fehlinterpretationen und Zweideutigkeiten zu vermeiden. Vielleicht trägt die globale Corvid-19-Krise bei den großen Atommächten zu der Erkenntnis bei, dass es global wichtigere Probleme gemeinsam zu lösen gilt, als sich wechselseitig mit Kernwaffen zu bedrohen. Da man sich darauf jedoch nicht verlassen kann, bleibt in Ost und West die Forderung an die gesellschaftlichen Kräfte, gleichrangig neben dem Klimaschutz auch Rüstungsbegrenzung und Abrüstung zur zentralen Forderung zu machen, zumal beide existenziellen Herausforderungen auch in einem engen Zusammenhang stehen.

* – Teil II des Beitrages „Moskau: Strategische Stabilität ohne Rüstungskontrolle?“ in der Blättchen-Ausgabe 10/2020.

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[1] Arbatov, Alexey: A New Era of Arms Control: Myths, Realities and Options. Carnegie Moscow Center, 24.10.2019; https://carnegie.ru/commentary/80172.

[2] Levshin, V.I. / Nedelin, A.V. / Sosnovskij, M.E.: O primenenii jadernogo oruzhija dlja deeskalacii voennych dejstvij. Voennaja Mysl‘, 3/1999, S.34-37; http://militaryarticle.ru/zarubezhnoe-voennoe-obozrenie/1999-zvo/8995-o-primenenii-jadernogo-oruzhija-dlja-dejeskalacii.

[3] Die dortige Formulierung zum Einsatz von Kernwaffen wurde von dem hier oft zitierten Wladimir Dworkin entworfen.

[4] Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, dem Präsident Putin vorsteht und dem die wichtigsten mit Sicherheitsfragen beauftragten Regierungsmitglieder angehören.

[5] Russia to broaden nuclear strike options, RT, Moscow, 14.10.2009; https://www.rt.com/news/russia-broaden-nuclear-strike/.

[6] Ebd.

[7] Von 1987-1992 Mitarbeiter im sowjetischen/russischen Außenministerium und Teilnehmer an den START I- und START II-Verhandlungen, später auch Berater von US-Behörden.

[8] Sokov, Nikolai: Why Russia calls a limited nuclear strike „de-escalation“?, Bulletin of Atomic Scientists, Washington, 13.03.2014; http://thebulletin.org/why-russia-calls-limited-nuclear-strike-de-escalation.

[9] Olga Oliker, eine anerkannte US-Spezialistin, schrieb hierzu, dass weder die russische Militärdoktrin von 2010 noch die jetzt gültige von 2014 die nukleare Schwelle gesenkt haben. Das ließe annehmen, „dass die Befürworter einer niedrigeren Schwelle letztlich einen bürokratischen Kampf verloren haben. Bis heute publizieren Anhänger der ‚Eskalation‘ gelegentlich einen Artikel, in der Hoffnung, die Politik zu ändern, – aber scheitern weiterhin.“ Oliker, O. / Baklitzky, A.: The Nuclear Posture Review and Russian ‚De-Escalation‘: A Dangerous Solution to a Nonexistent Problem, War on the Rocks, 20.02.2018; https://warontherocks.com/2018/02/nuclear-posture-review-russian-de-escalation-dangerous-solution-nonexistent-problem/.

[10] Offizielle Position der US-Regierung zur Rolle von Atomwaffen in der US-Sicherheitsstrategie.

[11] Office of the Secretary of Defence: Nuclear Posture Review, Washington, February 2018, S. 8; https://media.defense.gov/2018/Feb/02/2001872886/-1/-1/1/2018-NUCLEAR-POSTURE-REVIEW-FINAL-REPORT.PDF.

[12] Siehe dazu auch – Otfried Nassauer: Die Nukleare Teilhabe in der NATO – wird Europa ausgetrickst?, Das Blättchen, 9/2020; https://das-blaettchen.de/2020/04/die-nukleare-teilhabe-in-der-nato-wird-europa-ausgetrickst-52380.html.

[13] Putin, Vladimir: Bol’shaja presskonferencija.Moskva, 20.12.2018; http://www.kremlin.ru/events/president/news/59455.

[14] Vgl. Trenin, Dmitrij: Strategicheskaja stabil’nost‘ v uslovijach smeny miroporjadka. Moskovskij Centr Karnegi, 13.3.2019; https://carnegie.ru/2019/03/13/ru-pub-78525.

[15] Vgl. Brezkun, Sergej: Rossii nuzhna „lestnica“ ne ehskalacii a deehskalacii. Nezavisimoe voennoe obozrenie, Moskva,27.11.2015, http://nvo.ng.ru/concepts/2015-11-27/1_stairway.html.

[16] Professor an der Akademie für Militärwissenschaften.

[17] Brezkun, Sergej: Rossii nuzhna „lestnica“, a.a.O.

[18] Das sei auch notwendig, so Brezkun, weil es zwar eine seit Jahren ausgearbeitete konzeptionelle Grundlage der nuklearen Abschreckung auf globaler Ebene gebe, dies jedoch für die Abschreckung eines regionalen Konflikts nicht der Fall sei. Ein massierter nuklearer Antwortschlag für den Fall einer regionalen Aggression sei irrational. Es bestünde aber die Möglichkeit einer Deeskalation mittels begrenzter Nutzung des Nuklearfaktors.

[19] Vgl. Brezkun, Sergej: Krach klientov kollaboracionisma i budushchee Rossii, Nezavisimaja gazeta, Moskva, 06.06.2014; http://nvo.ng.ru/concepts/2014-06-06/1_krah.html.

[20] Brezkun, Sergej: Rossii nuzhna „lestnica“, a.a.O.

[21] Posol Antonov nazval oshibochnymi slova o vyrabotke RF doktriny „ehskalacija dlja deehskalacii“, TASS, 09.04.2019; https://tass.ru/politika/6309802.

[22] Ukaz Presidenta RF ot 20 ijulja 2017, N327 „Ob utverzhdenii Osnov gosudarstvennoj politik Rossijskoj Federacii v oblasti voenno-morskoj dejatel’nosti na period do 2030 goda“, Moskva, 20.07.2017; https://dokipedia.ru/print/5340807.

[23] Vgl. Dvorkin, Vladimir: Voennaja doktrina Rossii nuzhdaetsja v obnovlenie. Nezavisimaja gazeta, 11.04.2019; http://www.ng.ru/politics/2019-04-11/100_190411explosion.html.

[24] Ebd.

[25] Achmerov, J. / Valeev, M. / Achmerov, D.: Aehrostat – drug „Sarmata“, Voenno-promyshlennyj kur’er, 12.10.2016; https://vpk-news.ru/articles/32887.

[26] RIAC – Russischer Rat für Internationale Angelegenheiten. 2010 unter anderem vom russischen Außenministerium, der Russischen Akademie der Wissenschaften sowie dem russischen Unternehmerverband gegründete „Denkfabrik“.

[27] IMEMO – Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften.

[28] Bogdanov, Konstantin: Ne ochen‘ jadernaja vojna. RIAC, 18.02.2020; https://russiancouncil.ru/analytics-and-comments/analytics/ne-ochen-yadernaya-voyna/.

[29] Aleksejev, Valeri:, Mif jadernogo sderzhivanija. RIAC, 15.03.2019; https://russiancouncil.ru/analytics-and-comments/columns/military-and-security/mif-yadernogo-sderzhivaniya/.

[30] Das hält einer Überprüfung nicht stand.

[31] Atomnaja bor’ba – ne strashnaja i „gumannaja“, ili k chemu privjol son razuma. Novye Izvestija, 15.04.2019; https://newizv.ru/news/politics/15-04-2019/atomnaya-borba-ne-strashnaya-i-gumannaya-ili-k-chemu-privel-son-razuma.

[32] Aleksejev, Valerij: Mif jadernogo sderzhivanija, a.a.O.

[33] Aleksejev, Valerij: Vozmozhna li vojna s Amerikoj? RIAC, 22. 10.2013; https://russiancouncil.ru/analytics-and-comments/analytics/vozmozhna-li-voyna-s-amerikoy/.

[34] Axe, David: A ‚Limited‘ Nuclear War Quickly Could Kill 90 Million People, The National Interest, 03.10.2019; https://nationalinterest.org/blog/buzz/%E2%80%98limited%E2%80%99-nuclear-war-quickly-could-kill-90-million-people-85686.

[35] Zit. nach ebd.

[36] Russisch: otvetno-vstrechnyj udar; englisch: launch on warning.

[37] Putin, Vladimir: Zasedanie diskussionnogo kluba „Valdaj“, 18.10.2018, http://kremlin.ru/events/president/news/58848.

[38] Vgl. Dvorkin, Vladimir: Strategicheskaja stabil’nost‘: sochranit‘ ili razrushit‘?, Moskovskij Centr Karnegi, 28.11.2018; https://carnegie.ru/2018/11/28/ru-pub-77809.

[39] Ebd.

[40] Ebd.

[41] Putin, Vladimir: Zasedanie mezhdunarodnogo kluba „Valdaj“, 22.10.2015; http://kremlin.ru/events/president/news/50548.

[42] Putin, Vladimir: Press-konferencija po itogam rossisko-ital’janskich peregovorov, 24.10.2018; http://kremlin.ru/events/president/news/58889.

[43] Bol’shaja press-konferencija Vladimira Putina, 20.12.2018; http://www.kremlin.ru/events/president/news/59455.