In Moskau vollzieht sich Ungewöhnliches. In einem in aller Öffentlichkeit geführten Diskurs erörtern Experten der Außenpolitik und des Militärs die neue Sicherheitslage Russlands nach der Aufkündigung des INF-Vertrages und dem möglichen Aus für den New START-Vertrag am 5. Februar 2021. Damit entstünde die fatale Situation, dass der gesamte bilaterale Rüstungskontrollprozess zwischen den beiden größten Atommächten – bisher die wichtigste Garantie für die Verhinderung eines Kernwaffenkrieges – am Ende wäre. Aber auch die eminent wichtigen multilateralen Verträge zum Verbot von Kernwaffenversuchen (CTBT) und zur Nichtverbreitung von Kernwaffen (NPT) würden weiteren Schaden nehmen.
Die russische Führung ergreift derweil neue Maßnahmen zur Stärkung ihres Militärs und offensichtlich auch zur Anpassung der Militärdoktrin. Nikolai Patruschew, Sekretär des russischen Sicherheitsrates, kündigte an, Wladimir Putin bis zum 30. März eine neue Konzeption zur Entwicklung der russischen Streitkräfte vorzulegen.[1] Falls notwendig, könne auch eine Korrektur der Militärdoktrin von 2014 erfolgen.[2] Das bestätigt auch der Chef des Generalstabs Walerij Gerassimow.[3] Bis zum 1. Oktober 2020 ist beabsichtigt Pläne zu deren Umsetzung für den Zeitraum 2021-2025 zu erarbeiten. Das alles klingt nach einer Anpassung der strategischen Leitlinien.
Der Diskurs über die künftige Strategie Russlands hat erhebliche Kontroversen zutage treten lassen. Der Abrüstungsexperte Alexej Arbatow hilft bei der Einordnung, wenn er zum einen von den „nuklearen Revanchisten“ spricht, die danach streben Kernwaffen nutzbarer zu machen, während die „Revisionisten“. Rüstungskontrolle ablehnen und dafür eine Stärkung der nuklearen Abschreckung sowie ein neues Konzept der strategischen Stabilität befürworten.[4] Die Aufzählung wäre aber ohne die Gruppe der „Traditionalisten“, der Abrüster, zu denen auch Arbatow gehört, nicht vollständig. Gelegentlich kommen auch einige „nukleare Irrlichter“ zu Wort, für die Kernwaffen ein normales Mittel der Kriegführung sind.
Was beinhalten nun diese Konzepte im Einzelnen?
Ein neues Paradigma – multilaterale strategische Stabilität
Mit der Aufkündigung des INF-Vertrages entstand in Moskau der dringende Bedarf, die eigene strategische Situation neu zu überdenken. Im Mittelpunkt stand dabei das Paradigma der strategischen Stabilität, eines Zustandes zwischen den beiden atomaren Supermächten, der vor allem in der Zeit des kalten Krieges, aber auch danach, wesentlich zur Verhinderung eines Kernwaffenkrieges beigetragen hat. Strategische Stabilität wurde im Zusammenhang mit dem START-1-Abkommen zwischen der Sowjetunion und den USA in einer gemeinsamen Erklärung vom Juni 1990[5] als Sinn und Zweck weiterer bilateraler Verträge über die Reduzierung der strategischen Offensivwaffen definiert.[6] Sie wurde auf bilateraler Ebene zwischen den USA und der Sowjetunion (später Russland) in den Verträgen über nukleare Rüstungskontrolle gewährleistet.
Angesichts der Aufkündigung des INF-Vertrages fand im Mai 2019 eine Situationsanalyse russischer Experten für internationale Sicherheit und Rüstungskontrolle statt. Unter Federführung von Sergej Karaganow[7] wurden die Ergebnisse in einem Bericht „Das neue Verständnis und die Wege zur Festigung der multilateralen strategischen Stabilität“[8] zusammengefasst. Bereits in der Einleitung wird darauf verwiesen, dass es zu vielen Fragen keine einheitliche Meinung gab. Das, so schreiben die Verfasser des Berichts, „widerspiegelt die allgemeine Konfusion in den Köpfen der Experten […] und die Spaltung in Anhänger des bisherigen Kurses auf strategische Stabilität und Reduzierung und Begrenzung der strategischen Kernwaffen aus der Zeit des kalten Krieges sowie in Anhänger einer Korrektur des bisherigen Verständnisses von strategischer Stabilität und von Wegen zu ihrer Sicherung unter Berücksichtigung der fundamentalen Veränderungen, die sich in der militär-strategischen Situation vollzogen haben und sich weiter vollziehen werden.“[9]
Karaganow und sein Mitautor Dimitrij Suslow,[10] sind offene Anhänger der zweiten Richtung, solche, die von Alexej Arbatow als „Revisionisten“ bezeichnet werden. Vor einigen Jahren seien sie zu dem Schluss gekommen, die vorige außenpolitische Konzeption Russlands sei nicht aktuell und zukunftsorientiert, so Karaganow. Russland müsse bestimmte nationale Ideen haben. In diesem Bericht habe man sich nicht an amerikanischen oder anderen Ausarbeitungen orientiert, wie es früher bei der Rüstungskontrolle war. Der Vorzug des Berichts bestehe darin, dass er nicht im Fahrwasser anderer schwimme.[11]
Die „Revisionisten“ sind der Auffassung, das ursprüngliche Verständnis von bilateraler strategischer Stabilität sei veraltet. Ihre Thesen: Die traditionellen Mechanismen der Rüstungsbegrenzung und Abrüstung sind kontraproduktiv.
Die Begrenzung und Reduzierung nuklearer Rüstungen sowie die Aufrechterhaltung eines annähernden Gleichgewichts zwischen den strategischen Kernwaffenpotentialen funktionieren nicht mehr. Sie machen in militärstrategischer Hinsicht keinen Sinn und sind in multilateralen Formen unwahrscheinlich, vor allem angesichts der militärtechnischen Entwicklung. Das schließt automatisch nukleare Abrüstung aus.
Das gehe vor allem auf zwei Prozesse zurück, die die militärstrategische Landschaft verändert haben: viele nichtnukleare Waffen sind heute von strategischer Bedeutung, wodurch die Grenze zu Kernwaffen verwischt wird; zugleich habe sich eine nukleare Multipolarität herausgebildet, an vorderer Stelle das Nuklearpotential Chinas. Sie untergrabe die herkömmliche bilaterale Logik russisch-amerikanischer Rüstungskontrolle. Diese habe zwar ihre positiven Seiten gehabt, so Karaganow, aber gleichzeitig auch als Tarnung für das Wettrüsten gedient. [12] Man sollte von neuen Vereinbarungen Abstand nehmen. Der Zerfall bi- und auch multilateraler Abrüstungsvereinbarungen (NPT, CTBT) sei nicht das Ende der Welt und müsse als normal angesehen werden.[13] Sie seien auch gegen eine multilaterale nukleare Rüstungskontrolle und würden daher Trumps Ideen von einem Dreiervertrag USA-China-Russland ablehnen. Nur die multilaterale nukleare Abschreckung könne den Frieden erhalten und einen Krieg verhindern.
Als Wesenselement dieser Art der nuklearen Abschreckung sieht man eine „teilweise Transparenz“. Wenn man gar keine Informationen darüber habe, was die Gegenseite aufzubieten hat, würde die Abschreckung geschwächt. Man benötige eine gewisse „Grauzone“, damit Abschreckung funktioniert, weil dann der Gegner annehmen könne, dass man über eine größere Zahl von Sprengköpfen verfüge als er selbst. Eine gewisse Klarheit sei dennoch für die Abschreckung notwendig. Sie schlagen eine teilweise Transparenz vor. Aus diesem Grund befürworten die „Revisionisten“ – gewissermaßen als Ausnahme – auch die Verlängerung von New START um weitere fünf Jahre, aber nur um die darin enthaltenen Transparenzregeln für nukleare Waffen beizubehalten. Bevorzugt wird eine Variante, bei der die Transparenzbestimmungen des Vertrages beibehalten und gleichzeitig die quantitativen Höchstgrenzen beseitigt werden.
Es wird eingeschätzt, ein beabsichtigter Kernwaffenkrieg sei eher unwahrscheinlich, aber die Gefahr eines unbeabsichtigten militärischen Konflikts, der zu einem globalen Kernwaffenkrieg eskalieren kann, habe stark zugenommen. Strategische Stabilität könne daher nicht nur von Russland und den USA gewährleistet werden, sondern müsse auch die anderen Kernwaffenstaaten, allen voran China, einbeziehen. Daraus entwickeln sie ihre tragende These: Strategische Stabilität sei, heute die Fähigkeit der Atommächte keinerlei direkte militärische Konflikte, darunter auch nichtnukleare und unbeabsichtigte, zuzulassen.
Das erfordere vor allem politische Schritte, einschließlich Spannungsabbau zwischen den Nuklearmächten und die Wiedergewinnung von gegenseitigem Vertrauen. Dazu soll ein neuer Begriff eingeführt werden: „multilaterale strategische Stabilität“. Diese wird definiert als „ein Zustand der Beziehungen zwischen den Nuklearmächten, bei dem sie in der Lage sind, jede beliebige Konfrontation untereinander – sowohl beabsichtigt als auch unbeabsichtigt – zu unterbinden, weil jede davon in der Lage ist, in einen globalen Kernwaffenkrieg hinüberzuwachsen.“[14]
Als vorrangige Aufgaben zur Stärkung der „multilateralen strategischen Stabilität“ sehen die Autoren des Berichts:
- Stabile Kommunikation zwischen den Militärs;
- militärische Transparenz und Voraussagbarkeit ohne Verpflichtung zur Rüstungsbegrenzung;
- Dialoge Russland – USA und China – USA zu Militärdoktrinen und Nuklearstrategien und eine Vertiefung des strategischen Dialogs zwischen Russland und China;
- militärische Verhaltensregeln zur Informations- und Kommunikationstechnologie, zu hochpräzisen nichtnuklearen Waffensystemen, Weltraum und künstlicher Intelligenz sowie bei regionalen Konflikten;
- Maßnahmen und Verhaltensregeln für den Fall eines militärischen Konfliktes zwischen Atommächten.[15]
Mittel- und langfristig soll die „multilaterale strategische Stabilität“ durch komplexe, konzeptionelle, nicht auf die Erreichung schneller Vereinbarungen gerichtete Dialoge Russland – China, Russland – USA, USA – China gefestigt werden. Es müsse sich eine neue Qualität der Beziehungen zwischen den Nuklearmächten, vor allem zwischen Russland, den USA und China herausbilden und die konfrontative Schärfe in den Beziehungen überwunden werden. Für die russische Außenpolitik wäre es zweckmäßig, den „Kampf für den Frieden“ – die Verhinderung eines Krieges zwischen den Nuklearmächten – als eines der wichtigsten Ziele zu proklamieren und dies durch Friedensinitiativen zu begleiten.[16]
Oleg Stepanow, Direktor der Abteilung für außenpolitische Planung im russischen Außenministerium, gab in der Diskussion um den Bericht zu verstehen, dass dieser nur die Meinungen von Experten wiedergibt und keine offizielle Position der Regierung darstelle: „Wir sind für eine Wiederaufnahme der gesamten Verhandlungen zur Gewährleistung der strategischen Stabilität und internationalen Sicherheit und hoffen auf die entsprechende Bereitschaft unserer Partner auf einen ernsthaften, interessierten Dialog.“[17]
Die Traditionalisten – Rüstungskontrolle ist die Grundlage der strategischen Stabilität
Eine andere Gruppe von Experten richtet sich vehement gegen diese Thesen. Zu ihren Wortführern gehören die Abrüstungsexperten der „alten Schule“, wie Wladimir Dworkin (Generalmajor im Ruhestand) und Alexej Arbatow, die seit Jahren die öffentliche Diskussion um Militärdoktrin und Nuklearstrategie maßgeblich prägten und teils selbst an Rüstungskontrollverhandlungen mit den USA beteiligt waren. Für diese Gruppe der „Abrüster“ ist ausschlaggebend, dass die bilaterale Rüstungskontrolle mit den USA auch künftig der entscheidende Baustein für die strategische Stabilität bleibt.
Jewgenij Bushinskij[18], in der Vergangenheit im Verteidigungsministerium für internationale Verträge zuständig, bringt die zentrale These der „Abrüster“ auf den Punkt: „Rüstungskontrolle ist natürlich nicht identisch mit strategischer Stabilität. Aber sie ist die Grundlage der strategischen Stabilität.“ [19] Er hält es für eine Illusion, mit den Amerikanern in der derzeitigen Situation Verhaltensregeln auf dem Kriegsschauplatz oder Spielregeln ausarbeiten zu wollen, wie man das Hinüberwachsen eines konventionellen in einen atomaren Konflikt verhindern könne.[20]
Der von den „Revisionisten“ bevorzugte Begriff „multilaterale nukleare Abschreckung“ wird von den „Abrüstern“ als eine im strategischen Vokabular nicht existente, künstlich ausgedachte Größe abgelehnt. Dazu Ex-General Bushinskij: „Es gibt keine ‚multilaterale nukleare Abschreckung‘. Alle potentiellen Teilnehmer haben verschieden Ziele.“[21] Während für Russland beispielsweise das Potential der USA und der NATO von Bedeutung ist, sei es vom chinesischen Nuklearpotential nicht besonders besorgt. China beunruhigt ebenso weniger das Potential Russlands als das Indiens und der USA. Diese unterschiedlichen strategischen Interessenlagen großer und kleiner Atommächte machen eine multilaterale nukleare Abschreckung, was immer das sei, unmöglich.
Mit harschen Worten lehnen die „Abrüster“ ein zentrales Element des „revisionistischen“ Gedankengebäudes – multilaterale und bilaterale Regime der Transparenz und Voraussagbarkeit ohne eine Verpflichtung zur Rüstungsbegrenzung – ab. Das käme im Prinzip einer Annäherung an westliche Positionen gleich.[22] Russische Experten verweisen darauf, dass dies schon aus Gründen der russischen Gesetzeslage nicht möglich sei, die die Weitergabe sensibler Informationen über das russische Militär ohne einen ratifizierten Vertrag nicht zulasse.[23] Auf den Punkt gebracht: Transparenz ohne Verifikation ist Betrug, ist der Versuch, den Gegner zu täuschen. Und Verifikation ohne einen ratifizierten Vertrag ist unmöglich. [24] Außerdem gebe es in der Geschichte genügend Beispiele, dass Transparenz und Informiertheit nicht unbedingt das Wettrüsten einschränken, sondern im Gegenteil, den vermeintlich Unterlegenen zu aufholenden Rüstungsbemühungen stimulieren.[25] Auch der für Fragen der Rüstungskontrolle verantwortliche stellvertretende Außenminister Sergej Rjabkow erteilt dieser Position der „Revisionisten“ eine harsche Absage: „Unsere Position: Verifikation um der Verifikation willen, Transparenz um der Transparenz willen sind unnötig. Sie müssen in enger Verbindung mit Verpflichtungen einhergehen […] Transparenz und Verifikation müssen die zuverlässige Erfüllung der einen oder anderen Vereinbarung gewährleisten.“[26]
Die „Abrüster“ kritisieren aber auch die im letzten Jahrzehnt aus Moskau wiederholt zu hörende Forderung nach Einbeziehung aller Atomwaffenmächte in Maßnahmen der Rüstungskontrolle[27]. 2012 erklärte Wladimir Putin als Präsidentschaftskandidat: „Wir werden nicht einseitig abrüsten […] An diesem Prozess müssen sich alle Kernwaffenstaaten beteiligen. Wir können nicht ständig abrüsten, während gewisse andere Kernwaffenstaaten aufrüsten.“[28] Auf Präsident Obamas Vorschlag von 2013, mit Russland eine weitere Reduzierung der strategischen Kernwaffen um ein Drittel auszuhandeln, erklärte Moskau, dass mit dem New START-Vertrag die Möglichkeiten bilateraler Reduzierungen ausgeschöpft seien.[29] 2018 bekräftigte der russische Außenminister Lawrow vor dem UN-Sicherheitsrat: „Es ist notwendig, bedingungslos alle Faktoren, die auf die strategische Stabilität wirken, zu berücksichtigen. Am Verhandlungsprozess (zur Abrüstung) müssen sich alle Länder mit einem militärischen Nuklearpotential beteiligen.“[30]
Im Gegensatz zu dieser Multilateralisierung der Rüstungskontrolle vertreten die „Abrüster“ die Auffassung, strategische Stabilität könne nur im Rahmen bilateraler Vertragsbeziehungen zwischen Moskau und Washington gewährleistet werden.[31] Da Russland das ungefähre Gleichgewicht zu den USA bei Kernwaffen sichern konnte, so Arbatow,[32] gebe es keinen Anlass den bipolaren Prozess nicht fortzusetzen, zumal die USA und Russland trotz der vollzogenen Begrenzungen immer noch über zirka 92 Prozent des weltweiten Kernwaffenbestandes verfügen. Das bedeute, jede der beiden großen Kernwaffenmächte habe drei-bis viermal so viele Kernwaffen wie alle kleineren Kernwaffenstaaten zusammen. Da eine großartige Aufstockung des Kernwaffenpotentials dieser Staaten nicht geplant sei, dürfte sich das zahlenmäßige Verhältnis zu den atomaren Supermächten kaum verändern. Vom Standpunkt der strategischen Stabilität bildeten die Atomwaffen der kleineren Nuklearmächte kein Hindernis für eine Fortführung des bilateralen Dialogs zwischen Moskau und Washington um Begrenzung der strategischen Offensivwaffen.
Ein multilateraler Rüstungskontrollvertrag zu Atomwaffen würde Bedingungen voraussetzen, die objektiv nicht erreicht werden können. Das sind laut Arbatow[33]:
- Die Teilnehmer müssen in ein System der gegenseitigen nuklearen Abschreckung eingebunden sein.
- Die Kernwaffen aller Teilnehmerstaaten müssen ungefähr gleich groß sein, um alle Staaten an der Erreichung eines Ergebnisses zu interessieren, das heißt sie müssten etwa gleiche numerische Obergrenzen akzeptieren.
- Vorzugsweise müssen vergleichbare Typen von Waffensystemen Gegenstand eines Vertrages sein.
Die Voraussetzungen für eine Einbeziehung der anderen sieben Atommächte in die Verhandlungen Russland – USA seien nicht gegeben, da weder eine gegenseitige Abschreckung und Parität der potentiellen Teilnehmer untereinander existiert, noch verfügten sie über ausreichend vergleichbare Waffensysteme. Erschwerend komme hinzu, dass einige von ihnen (USA, Frankreich, UK) offiziell Bündnispartner sind, andere quasi bündnisähnlich miteinander kooperieren (China – Nordkorea, China – Russland, USA – Israel). Ein weiteres abrüstungstechnisches Problem wäre die Verifizierbarkeit eines multilateralen Rüstungskontrollabkommens, denn es müssten die Begrenzungen des gesamten Spektrums strategischer und nichtstrategischer Atomwaffen kontrolliert werden. Es gab bisher keine Verhandlungen über eine Begrenzung taktischer Atomwaffen, unter anderem auch wegen der Komplikationen bei der Kontrolle eines solchen Abkommens, die da sind: dual-use (ihre Einsatzmöglichkeiten sowohl mit atomaren als auch mit konventionellen Sprengköpfen), die große Verschiedenheit der Waffentypen und ihre enorme territoriale Streuung.
Zusätzlich stellt die politische Haltung der kleineren Atommächte zu multilateralen Vereinbarungen eine nahezu unüberwindbare Hürde dar: sie würden theoretisch nur teilnehmen, wenn die beiden nuklearen Supermächte zunächst ihre Kernwaffen weiter auf das Niveau der anderen reduzieren, was auch auf einen langen Zeithorizont keine realistische Perspektive ist.
Gegenwärtig sei überhaupt nicht klar, so Arbatow, wann die beiden atomaren Supermächte je bereit sein werden, derartig große politische und strategische Konzessionen zu machen, um den Übergang in ein multilaterales Rüstungskontrollformat möglich zu machen. Das Modell der bilateralen Rüstungskontrolle kann auch nicht durch irgendwelche amorphen Foren zu strategischer Stabilität und Voraussagbarkeit ersetzt werden, denn gegenseitiges Vertrauen ist ohne verifizierbare Rüstungskontrollmaßnahmen unmöglich.
Der Faktor China
Die wenig transparenten Pläne Chinas stellen eine gewisse Unsicherheit dar. Russische Experten räumen ein, dass der chinesische Aspekt Einfluss auf das amerikanische Verhalten hat.[34] Es gibt bislang nur eine offizielle Erklärung des chinesischen Außenministeriums vom April 2004 in der es hieß, China habe das kleinste Kernwaffenpotential aller offiziellen (gemäß Nichtverbreitungsvertrag) Kernwaffenstaaten. Das würde bedeuten, dass es zum damaligen Zeitpunkt über weniger als 192 atomare Sprengköpfe (die Anzahl britischer Atomwaffen) verfügte. Nach Schätzungen westlicher Experten könnte diese Zahl zwischenzeitlich auf 300 angestiegen sein.[35] Dabei ist eine Unbekannte die Qualitätsstufe der chinesischen Kernwaffen. China hat in den letzten Jahrzehnten gewaltige Summen in die Forschungs- und Entwicklungstätigkeit sowie in den Ausbau einer modernen Infrastruktur gelenkt. Immerhin, vermerken russische Beobachter, wurden auf der Militärparade zum 50. Jahrestag der Volksrepublik China drei Familien von chinesischen Interkontinentalraketen gezeigt, die offensichtlich synchron produziert und weiterentwickelt werden. Das sei heute einzigartig in der Welt.
China wird erst bereit sein, sich auf einen Dialog mit den großen Kernwaffenstaaten zur nuklearen Rüstungskontrolle bei strategischen Kernwaffen einzulassen, wenn es zahlenmäßig mit den USA und Russland annähernd gleichgezogen hat, lässt aber offen, wann das sein könnte. Die USA wiederum beobachten misstrauisch das Anwachsen des chinesischen Kernwaffenpotentials. Die Aufkündigung des INF-Vertrages durch die USA, so russische Experten, dürfte maßgeblich von der Unkalkulierbarkeit der Zunahme von auf die USA zielenden chinesischen Interkontinentalraketen bestimmt worden sein. Bei den in chinesischer Serienproduktion erzeugten atomaren Mittelstreckenraketen hat China ohnehin einen von den USA nicht mehr einzuholenden Vorsprung, da diese aufgrund des INF-Vertrages über Jahrzehnte mit ihrer Produktion pausieren mussten. Ob die chinesische Führung in Kategorien der Abschreckung denkt ist eine offene Frage. Jedenfalls hat sie offiziell verkündet, nicht als erste Kernwaffen einzusetzen.[36]
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[1] Ob dieser Zeitplan trotz der Corona-Krise gehalten werden konnte, ist derzeit nicht bekannt.
[2] Patrushev ne izkljuchil izmenenija vojennoj doktriny Rossii, Vzgljad, Moskva, 22. November 2019; https://vz.ru/news/2019/11/22/1009832.html.
[3] Novye ugrozy:Gerasimov rasskasal o vozmozhnych izmenenijach voennoj doktriny RF, TV Zvezda, Moskva, 18.12.2019; https://tvzvezda.ru/news/vstrane_i_mire/content/201912172351-RIlKq.html.
[4] Arbatov, Alexey: A New Era of Arms Control: Myths, Realities and Options. Carnegie Moscow Center, 24.10.2019; https://carnegie.ru/commentary/80172.
[5] Soviet-United States Joint Statement on Future Negotiations on Nuclear and Space Arms and Further Enhancing Strategic Stability, 1990-06-01, GEORGE BUSH PRESIDENTIAL LIBRARY AND MUSEUM, Public Papers; https://bush41library.tamu.edu/archives/public-papers/1938.
[6] Demzufolge bezeichnet strategische Stabilität Verhältnisse, die Anreize zur Führung eines nuklearen Erstschlages beseitigen: Beachtung des Wechselverhältnisses von strategischen Offensiv- und Defensivwaffen, Reduzierung der Anzahl von Sprengköpfen auf strategischen Trägerraketen und Vorzug für Waffensysteme mit einer hohen Überlebensfähigkeit.
[7] Professor, Dekan der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der Hochschule für Ökonomie in Moskau.
[8] Karaganov, S.A., Suslov, D.W.: Novoe ponimanie i puti ukreplenija mnogostoronnej strategicheskoj stabil’nosti, Vysshaja shkola ehkonomiki, Moskva 2019; http://svop.ru/wp-content/uploads/2019/09/REPORT_Rus_1.pdf.
[9] Ebd., S.2.
[10] Seit 2004 stellvertretender Direktor für Forschung des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, einer nach eigener Darstellung Nichtregierungsorganisation, die ihre Aufgaben in der Ausarbeitung und Umsetzung von strategischen Konzeptionen für Russland und seine Außen- und Verteidigungspolitik sieht.
[11] O novom ponimanii strategicheskoj stabil’nosti, in: Mezhdunarodnaja Zhizn‘, 12/2019; https://interaffairs.ru/news/show/24802.
[12] Ebd.
[13] Karaganov, S.A., Suslov, D.W.: Novoe ponimanie, a.a.O., S.41 f.
[14] Ebd., S.7.
[15] Ebd., S.7 f.
[16] Ebd. S.8.
[17] O novom ponimanii, a.a.O.
[18] Vorsitzender des Rates des PIR-Zentrums, einer Nichtregierungsorganisation zu Fragen der internationalen Sicherheit, Generalleutnant der Reserve.
[19] O novom ponimanii, a.a.O.
[20] Vgl.: Ebd.
[21] Ebd.
[22] Besonders beunruhigt scheinen US-Militärs, die nach dem möglichen Wegfall aller Rüstungskontrollverträge auf die darin enthaltenen Verpflichtungen zur Verifikation und Transparenz, das heißt auf zuverlässige Informationen über das gegnerische Nuklearpotential, verzichten müssten. So gibt es eine gegenseitige Information über Typen und Zusammensetzung der strategischen Waffen der anderen Seite, ihrer Stationierungsräume, die Anzahl der dislozierten und nichtdislozierten Beförderungsmittel und Sprengköpfe sowie in der Zukunft eventuell anstehende Veränderungen. Vereinbart sind jährlich 18 Vor-Ort-Inspektionen der nuklearen land-, luft- und Seestützpunkte beider Seiten. Ausgetauscht werden auch bis 42 Notifikationen jährlich über Veränderungen ihrer Nuklearwaffenstützpunkte. Dazu gehört auch ein jährlicher Austausch von Telemetrie zu einer vereinbarten Anzahl von Starts von ICBM und SLBM.
[23] O novom ponimanii, a.a.O.
[24] Ebd.
[25] Ebd.
[26] Interview mit Sergej Rjabkov, in: Mezhdunarodnaja Zhizn‘, Moskva, Oktober 2019; https://interaffairs.ru/news/show/24166.
[27] Vgl. dazu auch: Arbatov, Aleksej, Dvorkin, Vladimir (Red.): Policentrichnij jadernyj mir:vyzovy i novye vozmozhnosti, Moskovskij Centr Karnegi, Moskva 2017; https://carnegieendowment.org/files/_4.pdf.
[28] Zit. nach: Arbatov,Aleksej: Mnogostoronnee jadernoe razoruzhenie, Nezavisimoe voennoe obozrenie, 25.05.2012; http://nvo.ng.ru/concepts/2012-05-25/1_nuclear.html.
[29] Vgl:. Dvorkin, Vladimir: A New Russia-US Nuclear Treaty or an Extension of New START?, Carnegie Moscow Center, Moscow, 31.08.2016; http://carnegie.ru/commentary/?fa=64435.
[30] TASS, 26. September 2018; https://tass.ru/politika/5608659.
[31] Vgl.: Dvorkin, Vladimir: Strategicheskaja stabil’nost‘: sochranit‘ ili razrushit‘, Moskovskij Centr Karnegi, Moskva, 28.11.2018; https://carnegie.ru/2018/11/28/ru-pub-77809.
[32] Arbatov, Alexey: A New Era of Arms Control, a.a.O.
[33] Ebd.
[34] O novom ponimanii, a.a.O.
[35] Ebd.
[36] Vgl.: Fenenko, Aleksej: Ehffektivno li jadernoe sderzhivanie ?, RIAC, Moskau, 26.04.2019; https://russiancouncil.ru/analytics-and-comments/analytics/effektivno-li-yadernoe-sderzhivanie/.
Schlagwörter: Atomwaffen, China, INF-Vertrag, New START-Vertrag, Russland, Rüstungskontrolle, strategische Stabilität, USA, Wolfgang Kubiczek