23. Jahrgang | Nummer 6 | 16. März 2020

Wissenschaft versus Politik

von Ulrich Busch

Die schwedische Umweltaktivistin Greta Thunberg lässt keine Gelegenheit aus, um darauf hinzuweisen, dass Wissenschaftler aus aller Welt seit Jahren eindeutige Ergebnisse über den Klimawandel vorlegten und vor einem „Weiter so“ warnten, die Politik darauf aber nur zögerlich oder überhaupt nicht reagiere. Ähnliches ließe sich auch auf anderen Feldern des Lebens nachweisen, zum Beispiel für die Wirtschaft oder die Technik. Damit stellt sich erstens die Frage: Warum ist das so? Und zweitens: Könnte es nicht anders sein? Warum finden die Erkenntnisse und Anregungen der Wissenschaft keine sofortige und vollständige Umsetzung in der Politik?

Auf diese Fragen gibt es triviale Antworten, wie zum Beispiel den Verweis auf die unzureichende Fähigkeit einiger Politiker, wissenschaftliche Aussagen zu verstehen und deren Tragweite zu begreifen. Oder den Hinweis, dass sich die Erkenntnisse von Wissenschaftlern meistens auf größere Zeiträume beziehen, Politiker aber eher kurzzeitig planen und handeln, zumeist im Zyklus von Wahlperioden, was ihren Horizont einschränkt.

So richtig wie diese Antworten sind, so vermögen sie doch die prinzipielle Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Einsicht und politischem Handeln nicht hinreichend zu erklären. Und zwar deshalb nicht, weil ein wesentliches Moment fehlt – nämlich die Motive und Interessen, die das politische Handeln bestimmen: Während die Aussagen der Wissenschaft von erkenntnistheoretischen Prämissen getragen sind und sich auf Forschungsergebnisse und fachliche Expertisen stützen, folgt das politische Handeln allein politischen Interessen. In diesen können sich zwar Einzelaspekte bündeln, ebenso wie das politische Handeln übergreifenden gesellschaftlichen Gesichtspunkten Rechnung tragen kann; in der Regel orientiert dieses sich aber eher an kurzfristigen Sonderinteressen und machtpolitischen Kalkülen. Die Geschichte der deutschen Vereinigung bietet hierfür in besonderer Weise anschauliche Belege.

So räumte zum Beispiel der damals im Bundesfinanzministerium in Bonn tätige Thilo Sarrazin jetzt ein, am 6. November 1989, also drei Tage vor dem Mauerfall, einen „ersten Plan“ für die Einführung der D-Mark in der DDR vorgelegt zu haben. Er konnte sich dabei auf Vorarbeiten des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen und des Forschungsbeirats für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands stützen. Drei Monate später, am 6. Februar 1990, stellte Bundeskanzler Helmut Kohl das bis dato weder mit der Bundesbank abgestimmte noch wissenschaftlich begutachtete Projekt „Währungsunion“ der Bundestagsfraktion seiner Partei vor. Mit deren Unterstützung für das Vorhaben waren politisch die Weichen für die deutsche Vereinigung gestellt und niemand – keine Bundesbank (deren Präsident Karl Otto Pöhl deswegen demissionierte), kein Bundeswirtschaftsminister, keine DDR-Regierung, kein Sachverständigenrat und kein Wirtschaftswissenschaftler – konnte es mehr stoppen, verändern oder auch nur aufschieben. Kohl setzte das Projekt durch.

Aber welche Interessen vertrat er damit? Zunächst das Interesse des Machterhalts seiner Person und seiner Partei: Am 1. Juli 1990 wurde in der DDR die D-Mark eingeführt und am 2. Dezember gewann die CDU/CSU, entgegen allen früheren Prognosen, die Bundestagswahl. Zweitens diente dieser Schritt den Interessen der bundesdeutschen Wirtschaft, denn, während in Europa und in der Welt eine zyklische Krise für Schlagzeilen sorgte, verzeichnete die westdeutsche Wirtschaft 1990/91 auf Grund ihrer Expansion im Osten einen Boom ohnegleichen. Drittens sorgte der Niedergang der DDR beziehungsweise der ostdeutschen Wirtschaft zusammen mit dem dadurch ausgelösten Finanz- und Gütertransfer bei der westdeutschen Wirtschaft für eine Absatzsteigerung und einen Arbeitskräftezustrom wie noch nie seit 1949. Der dadurch erzielte Vereinigungsgewinn Westdeutschlands in Billionenhöhe ist bis heute zu spüren. Die auf diese Weise in Ostdeutschland ausgelösten Probleme allerdings auch.

Diese kamen jedoch keineswegs überraschend, sondern waren vorherzusehen – und wurde auch vorhergesehen, insbesondere von Wirtschaftswissenschaftlern. So wandte sich beispielsweise der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, also das prominenteste Gremium bundesdeutscher Ökonomen, am 9. Februar 1990 in einem offenen Brief empört an den Kanzler und übermittelte ihm die Vorbehalte der „Wirtschaftsweisen“ gegen eine „rasche währungspolitische Integration“ der DDR. In dem Brief hieß es: „Wir halten die rasche Verwirklichung der Währungsunion für das falsche Mittel, dem Strom von Übersiedlern Einhalt zu gebieten.“ Und die Ökonomen gaben zu bedenken, dass die vorgesehene Maßnahme „zu Lasten des Produktionsstandortes DDR“ gehe und „der dringend erforderliche Kapitalzustrom aus dem Westen“ daraufhin ausbleiben werde. Die Wissenschaftler haben auch die drohende „Massenarbeitslosigkeit“ kommen sehen und mit deutlichen Worten davor gewarnt. Sie traten für marktwirtschaftliche Reformen ein, aber „ein Vorpreschen in der Währungspolitik“ sei dafür „ein ungeeigneter Weg“. Sie machten klar, dass dem „kurzfristen Vorteil“, der aus dem politischen Vereinigungsprojekt resultiere, bald ein größerer „Rückschlag“ folgen werde, wodurch Ostdeutschland und vielleicht sogar ganz Deutschland auf Dauer geschwächt würden.

Der Sachverständigenrat war nicht die einzige Stimme aus dem Kreis der Wissenschaftler, die sich 1990 offen gegen die beabsichtigten Maßnahmen der Politik ausgesprochen hat. Alle Wirtschaftsforschungsinstitute stellten damals der Politik „negative“ Gutachten aus und forderten eine Rückkehr zur ökonomischen Vernunft. Selbst das unternehmensnahe Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln unterbreitete am 12. März 1990 Vorschläge, die eine andere Regelung der Währungsfrage vorsahen, als sie dann mit der Währungsunion umgesetzt wurde.

Aber hat das etwas genützt? Mitnichten: Die Regierungskoalition hat ihr politisches Projekt durchgezogen, ihre politische Macht damit gefestigt und die Interessen der westdeutschen Wirtschaft durchgesetzt. Die ökonomischen Kosten (manche würden sagen: Unkosten) dafür aber hatte und hat die gesamte Volkswirtschaft zu tragen, und das nun schon seit dreißig Jahren.

Über die politischen Folgen, die man auch als „Kosten“ betrachten kann, wäre gesondert zu reden, denn diese werden uns noch viel länger beschäftigen.