von Stephan Wohanka
Die Görlitzer Oberbürgermeisterwahl ging bekanntlich mit 55 zu 45 Prozent zugunsten des CDU-Kandidaten aus. Es war wieder nicht der Tag der Annegret Kramp-Karrenbauer – erst twitterte sie (schreibt sie selbst wie der berüchtigtste Twitterer weltweit? Den Eindruck muss man jedenfalls gewinnen): „Octavian Ursu und die @cdusachsen zeigen in #Goerlitz: Die @cdu ist die bürgerliche Kraft gegen die AfD.“ Um nach deutlicher Missbilligung nachzuschieben, der CDU-Sieg verdanke sich einem breiten Parteienbündnis, das der CDU gegen die AfD auf die Beine half. Also 55 zu 45. In Görlitz. Einer Stadt an der Neiße, im äußersten östlichen Winkel Sachsens und so Deutschlands …
Im Kulturprogramm des Deutschen Fernsehens, 3Sat genannt, wurde im Rahmen der Vorstellung eines gerade erschienenen Buches dessen Autorin befragt. Das Buch handelt von gegenwärtigen Zuständen im Lande; ein Thema durchaus an der Zeit. Eine erste grundlegende Diagnose der Befragten lautete: Die Menschen hierzulande leben mit „Ungewissheiten, wie es weitergeht mit einem“. Dementsprechend sei die „politische Instabilität in Ost und West gleich“. Dann kam die das Interview führende Journalistin auf die Görlitz-Wahl zu sprechen. Welche Regungen, Gefühle, Überlegungen das Wahlergebnis bei ihr auslöse, wollte sie von der Autorin wissen. Die antwortete, dass das Ergebnis „unheimlich, ja markant gezeigt hat, wie gespalten unser Land ist“. Und später noch: „… ein Bündnis von CDU, auch allen anderen Parteien auf der einen Seite, die AfD auf der anderen, das ist ein ja krasseres Zeichen, wie gespalten unser Land ist, kann man ja kaum noch zeichnen.“
Solche Sätze haben Suggestivkraft. Die sie lesen oder hören sehen sich bestätigt: Ja, so ist es! Ein warmes Gefühl von Bescheidwissen, vom Durchschauen der Verhältnisse macht sich breit; desgleichen eine gewisse Ungeduld gegenüber denen, die das Gesagte nicht akzeptieren, denn als dessen Oberton schwingt immer mit: „Alles andere ist Lügenpresse.“ Man findet diese Mixtur aus Überlegenheitsdünkel und Unduldsamkeit gleichermaßen bei überzeugten Linken wie bei verbohrten Rechten.
Die Ungewissheiten gibt es, natürlich; sie sind auch gewachsen; das Land – bah, die Welt befindet sich in einem technologischen und politischen Umbruch. Rechtfertigen sie jedoch ein Weinerliches „wie es weitergeht mit mir“? Und das Ineinssetzen der politischen Instabilität in Ost und West; Stadt und Land, über die Generationen hinweg, überall das gleiche politische Beben?
Ungewissheiten… schon Alexis de Tocqueville wusste, dass „wer in Freiheit leben will, (sich) an ein Leben voller Ungewissheiten, Veränderung und Gefahr gewöhnen (muss)“. Es waren Menschen in den heutigen ostdeutschen Ländern, die 1989/90 ein Leben voller, ja übervoller Gewissheiten, von wenig Veränderung und Gefahr, nicht mehr wollten und in denen heute, drei Jahrzehnte später, das Bedürfnis nach Sicherheit – das Mittel gegen Ungewissheit – so unglaublich stark ist. Damit ist auch das Bedürfnis stark, ein gemeinsames Credo zu haben und sich gegenseitig dessen Wahrhaftigkeit zu versichern. Wobei das Credo selbst der Glaube an die Unsicherheit des eigenen Seins ist! Anders – die eigene Identität wird am Gefühl der Unsicherheit festgemacht. Für diese Zeitgenossen kann lediglich sprechen, dass sie den Preis der Freiheit nicht kannten und dass ihnen eine erklärbare Veränderungsmüdigkeit zugebilligt werden kann. Es sind aber auch Menschen, denen es an Mut, Selbstbewusstsein gebricht, ohne Autorität, ohne Führer, ohne Religion leben zu können. Man könnte sagen: Es sind Menschen, denen die Umstände und die eigene Psyche es verwehrten, im gesellschaftlichen Sinne „alt“ zu werden. Man muss nicht Jürgen Habermasens harsche, zugespitzte Sicht teilen, man solle „diese Art von ,besorgten Bürgern‘, statt um sie herumzutanzen, kurz und trocken als das abtun, was sie sind – der Saatboden für einen neuen Faschismus“. Für sich hat diese Sicht jedoch, dass sie besagte Gruppe (gültig für Ost und West) benennt, auf das von ihr ausgehende politische Gefahrenpotenzial verweist, ohne sie zugleich medial und so politisch aufzuwerten.
Höre ich dann, wie schon zitiert: „… ein Bündnis von CDU, auch allen anderen Parteien auf der einen Seite, die AfD auf der anderen, das ist ein ja krasseres Zeichen, wie gespalten unser Land ist, kann man ja kaum noch zeichnen“, dann findet genau das statt – ein mediales Aufbauschen politischer Kräfte, die man eigentlich nicht will. Klar, die politische Polarisierung im Lande hat deutlich zugenommen und trotzdem (oder gerade deshalb) kann das Görlitzer Wahlergebnis – das zitierter Behauptung zugrunde liegt – nicht herangezogen werden: Es steht deutschlandweit nicht 55 zu 45! Sagt man das so, besorgt man das Geschäft der AfD, macht sie stärker als sie ist. Von der Vielstimmigkeit im Internet dringt so vor allem die Empörung durch, nicht die Temperierung der Gemüter; auch dank derartiger alarmistischer Rufe. Diesen Empörungsriten sollten weder Politik noch seriöse Medien frönen.
Der Urgrund für die soziale und politische Spaltung unter den Menschen hierzulande (und darüber hinaus) liegt in der zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft, die die klassischen Identität stiftenden Institutionen wie Religion, Klasse, Kultur oder Nation zunehmend infrage stellt. Auf die vom technologischen Progress unterhöhlten, ehemals festgefügten industriellen Strukturen trifft Gleiches zu. Wie schon gesagt, kommen Teile unserer Landsleute mit dieser gesellschaftlichen Pluralisierung nicht zurecht und sehnen sich nach neuer übersichtlicher Ganzheit. Diesem Verständnis nach haben die Staaten die Fähigkeit eingebüßt, ihre Versprechen auf Wohlstand und Sicherheit einzulösen. Das Problem ist nur, dass die diese Epidemie zur Nostalgie auslösenden gesellschaftspolitischen Veränderungen bereits unumkehrbar sind – oder wie wollte man sie zurücknehmen? Allein der „Austritt“ aus der Globalisierung, die Rückkehr zur vollen Souveränität des Nationalstaates und dessen Abschottung nach außen et cetera genügten dafür nicht; es brauchte dafür eine kollektivistisch-repressive Gesellschaftsform – eine doppelte einschlägige Erfahrung damit hat unser Land in naher und unmittelbarer Vergangenheit gemacht. Nicht der Blick zurück in eine untote Vergangenheit bringt uns weiter, nicht „die Abwehr der Veränderung durch Rückwärtsgewandtheit“ (Isolde Charim). Sondern gerade zivilgesellschaftliches Handeln, das Fruchtbarmachen von Individualität und gesellschaftlichem Pluralismus, der Gebrauch der Freiheit als Form der Lebensführung, als moralisches Ordnungsprinzip, als Bewusstsein für Pflichten und Toleranz bieten weiterführende Wege an. Eine Aktion nota bene im Landkreis Görlitz (!) zeigte das geradezu exemplarisch: In der Kleinstadt Ostritz versammelten sich ein paar hundert Rechtsextremisten zum Festival „Schild und Schwert“. Die Ostritzer aber kapitulierten nicht, sondern kauften den kompletten Biervorrat eines örtlichen Supermarkts auf. So saßen die Neonazis auf dem Trocknen. Natürlich löst eine solche Aktion nicht das Problem gewaltbereiter Neonazis. Aber sie macht Mut und erzeugt noch mehr Aufmerksamkeit: Wenn eine Kleinstadt in der sächsischen Provinz hunderten Rechtsextremisten Paroli bieten kann, schafft das auch die gesamte Gesellschaft. Weder Sachsen noch „der Osten“ sind an rechte Hetzer verloren, sondern auch dort engagieren sich Menschen für Demokratie und Mitmenschlichkeit.
Dass wir in einer Demokratie leben, heißt nicht, dass uns dieses System automatisch nur Gutes bringt. Wir müssen gegenüber diesem politischen System immer wachsam sein – um weder sein „demokratisch legitimiertes“ Abdriften ins Totalitäre noch eine „Tyrannei der Mehrheit“ (Tocqueville) zuzulassen; ein Thema desgleichen wert, es zu bearbeiten. Und: Der Osten darf in Teilen auch politisch anders sein als der Westen, auch andere Bedürfnisse und Interessen haben; Individualität und Pluralität zählen auch hier.
Schlagwörter: AfD, Demokratie, Globalisierung, Görlitz, Kramp-Karrenbauer, Stephan Wohanka