von Herbert Bertsch
Deutschland: zu groß für Europa, zu klein für die Welt.
Henry Kissinger,
ihm zu- und immer wieder nachgeschrieben
Mir wurde nach Anfrage der redaktionelle Hinweis auf Foreign Affairs von Mai/Juni 2019 mit dem Beitrag von Robert Kagan: „Die Rückkehr der deutschen Frage“ zuteil. Titel ohne Fragezeichen, und das hält der Text auch; nur nicht ganz eindeutig, ob als gesicherte Erwartung, wie’s wird, oder starke Empfehlung, wie’s werden soll. Geschrieben aus US-amerikanischer, keineswegs nur aus Präsidenten-Sicht, aber auch nicht ohne.
Der Hinweis war begleitet von einer weiteren Empfehlung: ein Beitrag in The Washington Quarterly vom 22. Januar, der etwa dem gleichen Anliegen, aber aus deutscher Quelle entspricht. Offenbar in der Absicht, die Umwelt und eigene Eliten darüber zu informieren, dass Deutschland ab 1989 zu lange im Glücksmodus verharrte und international den objektiven Anforderungen innen und außen zu wenig innovativ begegnet ist – mit Bezügen zu Francis Fukuyama und dessen jüngeren Relativierungen garniert. Autor: Thomas Bagger. Auch, falls da nur der Zufall bei der zeitgleichen Veröffentlichung wirkt, gibt es Vergleichbares in beiden Texten: Deutschland bedarf aktuell einer schonungslosen Bilanz und neuer Justierung, nach innen, nach außen und von außen. Die Erfolgsgeschichte des „langen Wegs nach Westen“ mit verkündeter Ankunft war eine Zeit lang nützlich – aber nun reicht’s auch mit Erfolgen und Appellen. Deutschland braucht dringlich eine klare Position, vornehmlich zu den USA. Anderes ergibt sich daraus, auch die Auswahl von Gegnern; mehreren, aber mit einem im Fokus.
Die „deutsche Frage“ steht also wiedermal unverhüllt vor den Deutschen und der politischen Umwelt. Um Antwort(en) wird dringlich ersucht. Hieß es nicht aber akkurat vor dreißig Jahren, die Frage sei gut und dauerhaft gelöst? Und nun deren „Rückkehr“ vor den Feierlichkeiten zum Jubiläum! Offenbar schon damals ein Irrtum; dabei hatte man durchaus eigene Erfahrung mit politischen Verfalldaten nach „jähen Wendungen“, die vor zu großer Erfolgsgewissheit hätte bewahren können.
Nach Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki am 1. August 1975 – auch durch die neben einander sitzenden Politiker Ford, Schmidt, Honecker und Kreisky – war die Anerkennung der Existenz von zwei deutschen Staaten auf deutschem Boden als „nicht änderbar“ unstrittig und auch so im Protokoll erfasst. Im Gespräch zwischen Bundespräsident von Weizsäcker und Michail Gorbatschow im Jahre 1987 sah letzterer folgerichtig keine offene „deutsche Frage“. Feine Interpretation vom deutschen Bundespräsidenten hingegen: „Die deutsche Frage ist offen, solange das Brandenburger Tor zu ist.“
Wenige Jahre später schenkte Gorbatschow den Deutschen die Einheit; das Brandenburger Tor war auf. Staatliche Bewertung: „Mit Erfüllung des Wiedervereinigungsauftrags, ‚die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden‘, war damit für die deutsche Bundesregierung, aber ist auch für die breite Öffentlichkeit die Nationalstaatsbildung in Deutschland abgeschlossen. Die deutsche Frage ist seitdem endgültig verfassungsrechtlich und politisch sowie völkerrechtlich geklärt“, fasst Wikipedia zusammen.
Die „Nationalstaatsbildung“ als Ziel? Vaterland etwa, wie das anderer auch, denen ein „Europa der Vaterländer“ vorschwebte? Seinerzeit gab es erhebliche internationale, aber auch nationale Bedenken, ob die erneute „Vollendung“ eines gesamtdeutschen Nationalstaates überhaupt noch ein erstrebenswertes Ziel sei im Verhältnis zu den Gegebenheiten des „politischen Europa“ mit der Integration der alten Bundesrepublik in der Europäischen Gemeinschaft und in der NATO.
Vordenker
Ob Deutschland nun ein überdimensionierter „Nationalstaat“ in Europa wurde, oder, ebenso überdimensioniert, bereits in „Europa aufgegangen“ ist, ist für Robert Kagan ziemlich unbedeutend. Er geht pragmatisch davon aus, was ist. Unter Aspekten des Machtgefüges mit Führung, mit Einordnung diagnostiziert er die „Rückkehr der deutschen Frage“ mit „neuen“ Elementen und dem Ersuchen um deutsche Antwort. Erinnert etwas an die Unterteilung in das „alte“ und „neue“ Europa durch die amerikanische Strategie, was nicht nur Option geblieben ist. Gedanken an diesen Zusammenhang sind nicht abwegig.
Mitunter ist der Autor Teil der Botschaft. Beginnen wir die Vorstellung mit – Viktoria Nuland, eine US-amerikanische Spitzendiplomatin, zeitweilig zuständig für Europa und Eurasien, damit auch für Ukraine. Sie wurde berühmt durch ihr Diktum „Fuck the EU“ als Reaktion auf die EU-europäische Absicht, „Klitsch“ in die ukrainische Regierung zu hieven, gegen ihren Favoriten „Jats“ (Klitschko versus Jazenjug). Das Verhalten, die unfeine Wortwahl konnten nicht ohne Folgen bleiben: Kanzlerin Merkel ließ bereits drei Tage danach, am 7. Februar 2014, verlauten, die Beleidigung der EU sei „absolut nicht akzeptabel“. (Ähnlich scharf sanktioniert hatte sie bereits zuvor den Sachverhalt, dass ihr Handy von der amerikanischen NSA abgehört worden war.)
Viktoria ist die Ehefrau unseres Robert Kagan, und der ist laut Wikipedia „ein US-amerikanischer Autor, Redner und Politikberater, der unter anderem für die US-Regierung arbeitet. Er zählt zu den bekanntesten Neokonservativen in den USA.“ Darüber hinaus unter anderem Mitbegründer der Denkfabrik Project for the New American Century. Aufsehen erregte er 2016, als er scharf gegen den Präsidentschaftskandidaten Trump Position bezog: Er kritisierte Trumps „Faschismus“ und unterstützte hernach Hillary Clinton Sich selbst bezeichnet Kagan seither als ehemaligen Republikaner. Man braucht Brückenbauer jedoch zum prinzipiellen Machterhalt – ungeachtet der Zugehörigkeit oder Nähe zu dieser oder jener politischen Partei.
Gutes Stichwort für den anderen Texter, „Vordenker Thomas Bagger. Der langjährige Chef des Planungsstabes (im Auswärtigen Amt – H.B.) lief unter Steinmeier in den Krisen seit 2013 zu großer Form auf. […] Mit deutschen und französischen Kollegen entwarf er bereits vor dem Brexit (! – H.B.) einen Plan, wie Paris und Berlin auf eine negative Entscheidung der Briten reagieren könnten. Als künftiger Leiter Außenpolitik (im Bundespräsidialamt – H.B.) kann Bagger den Präsidenten doppelt in Szene setzen: für die Vermittlung der Außenpolitik nach innen, aber auch für die Vermittlung von Deutschland nach außen“, wusste DIE ZEIT schon im Februar 2017 zu berichten. War dessen Text zunächst nur Englisch zugänglich, kann man sich die Substanz gegenwärtig komfortabler aneignen. Am 12. April hatte Bundespräsident Steinmeier in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung „Die Zukunft kommt zu kurz“ und am 14. Mai bei einer Diskussion im eigenen Haus Thesen vorgetragen, die wir zuvor bei deren Probelauf im erwähnten US-Magazin von Bagger lasen: „Deutschland solle stärker darauf achten, wie sein Handeln auf EU-Nachbarn wirkt. Hintergrund ist die Kritik der EU-Partner an niedrigen Verteidigungsausgaben und der Position Berlins in der Schuldenkrise.“ Es sei wirklich eine Krux mit den Deutschen, zeitgleich zu diesen Anforderungen in Deutschland Löhne und Gehälter steigen zu lassen. Was soll das Ausland davon halten, wenn die Regierung nur ungern mehr schultern will? Deutschland geht es doch gut. Und zu den Eurowahlen gehe es nicht nur um Wohlstandsnachweise der Regierungsparteien, sondern auch um höhere Werte, wie das Erbe der europäischen Aufklärung und die liberale Demokratie. Sonst kriege man schnell ein Problem mit „wachsender Isolation Deutschlands“, zumal, wenn man nicht feinfühlig auf die Reaktion der USA achte.
Zu einem Bericht über die Äußerungen des Bundespräsidenten in der Welt gab es 810 Kommentare, deren Tenor die Vermutung nahelegt: Wären das Wählerstimmen, hätte der Bundespräsident persönlich, aber auch als Repräsentant der staatlichen und staatstragenden Eliten ein Problem hinsichtlich des Anspruchs auf „Volksnähe“ und Kenntnis der Stimmung.
Helmut Schmidt resümiert
Die „deutsche Frage“ bekam schon die unterschiedlichsten Antworten. Die Deutschen mit ihren nationalen Fragen waren und sind sowohl Subjekt als auch Objekt. Was machen die Deutschen, was wird mit ihnen gemacht – das wurde im Lauf des Geschehens manchmal von den Deutschen, manchmal von außen, manchmal vermittels Interessensidentität von innen und außen mit diversen, auch divergierende Antworten versehen. Mit diesem Schicksal unterscheidet sich die „deutsche Frage“ nicht von anderen nationalen Fragen, wie etwa „Irland – England“; aber der deutsche Anspruch, sich geschichtskonform gemäß höherer Bestimmung zu verhalten, hat häufig Unheil für das eigene Volk und andere bewirkt. Und das hält vor, unbeschadet dessen, was jeweils beabsichtigt war und was dann herausgekommen ist.
Fast auf den Tag vor zehn Jahren Ex-Kanzler Schmidt auf von der Zeitschrift IP (Internationale Politik) der DGAP befragt.
Ist Gorbatschow auch ein Glücksfall gewesen?
Schmidt: „Für die Deutschen ja, für die Russen weniger.“
Schon vor der Revolution von 1989 gab es im Westen die Sorge vor einem wiedervereinigten, starken Deutschland. Wie wirkte sich das auf den Einigungsprozeß aus?
Schmidt: „Diese Sorgen hat es praktisch überall gegeben, vielleicht mit der Ausnahme Österreichs. Das zeigte sich im Winter von 1989 auf 1990, als fast alle westeuropäischen Regierungen gegenüber der Möglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung in Opposition standen. Die Besorgnis vor der Wiederauferstehung einer deutschen Großmacht hat letzten Endes der amerikanische Präsident George Bush sen. überwunden, gemeinsam mit dem zuhause entscheidend geschwächten Michail Gorbatschow.“
Welche Rolle spielte Helmut Kohl bei der Wiedervereinigung?
Schmidt: „Die Chance zur Wiedervereinigung ist Kohl in den Schoß gefallen; aber er hat sie tatkräftig genutzt; so Ende November mit seinem Zehn-Punkte-Plan. Kohl hat damals noch von einer Föderation gesprochen, nicht von einem gemeinsamen Staat. (! – H.B.) […] Und er war klug genug, sich auf das Verlangen der Franzosen einzulassen, die D-Mark, die sich zu einer europaweit dominierenden Währung durchgesetzt hatte, durch den Euro zu ersetzen.“
Ohne Verzicht auf die D-Mark keine Wiedervereinigung?
Schmidt: „Wahrscheinlich, aus französischer Sicht.“
Sie sagten, die Wiedervereinigung konnte es nur geben, weil den Nachbarn die Angst vor einem starken Deutschland genommen wurde. Sind damit die Befürchtungen aus der Welt?
Schmidt: „Die Deutschen leben in der Mitte Europas, und das schon seit 1000 Jahren. Wir haben mehr unmittelbare Nachbarn als irgendein europäischer Staat. Diese Zentrallage mit so vielen Nachbarn hat Vor- und Nachteile: Den Vorteil, daß wir kulturelle Einflüsse von vielen Nachbarn haben aufnehmen können. Und den Nachteil, daß immer dann, wenn die Deutschen schwach waren, andere in das Zentrum vorgestoßen sind. So die Hunnen, die Ungarn, die Franzosen und so auch die Russen und die Amerikaner.“
Und wenn die Deutschen stark waren?
Schmidt: „Dann sind sie vorgestoßen, schon im Mittelalter viele Male nach Italien, in beiden Weltkriegen nach Westen und nach Osten, und unter Hitler sogar nach Norden, im Süden nach Afrika und im Osten bis an den Kaukasus.“
Die „deutsche Frage“ in den 1930er Jahren und die Folgen
Am 11. März 1938 abends hatte Reichskanzler Hitler den militärischen Einmarsch in Österreich für den nächsten Morgen um 2:30 Uhr befohlen; also geschehen. Für seinen Triumphzug konnte er sich nach dem Flug Berlin – München vier Tage Zeit nehmen. Wie es zeitgenössisch heißt, reiste die Kolonne ab deutscher Grenze nicht schneller als im 40-Kilometer-Tempo – ohne Zwischenfälle, aber mit zahlreichen Unterbrechungen für Begeisterungsäußerungen und Danksagungen. Doch nicht nur der Beschaulichkeit wegen; es galt, in Wien für den Aufritt auf dem „Heldenplatz“ alles zu richten. Dazu gehörte auch die Weisung an alle Betriebe, den Beschäftigten ab Mittag des 15. Mai freizugeben, bei vollem Lohnausgleich. Die Wiener Frühjahrsmesse schloss um 12:00 Uhr gemäß Empfehlung. Nachmittags zuvor passierten die – noch – „Gäste“ gegen 17:00 Uhr Schloss Schönbrunn; ab jetzt ging’s unter dem Geläut aller Wiener Kirchenglocken zum Hotel „Imperial“, wozu man eine Stunde brauchte, auch der Begeisterung wegen. Tags darauf Inbesitznahme der „Burg der alten Reichshauptstadt, der Hüterin der Krone des Reiches“ durch Hitler. Dann meldete Nazi-Bundeskanzler (zwei Tage Amtszeit als solcher) Seyß-Inquart bei der Massenkundgebung Hitler und tat damit der ganzen Welt kund: „Die Ostmark ist heimgekehrt. Das Reich ist wiedererstanden.“ Hitler selbst folgte „mit der größten Vollzugsmeldung meines Lebens: Als Führer und Kanzler der deutschen Nation und des Reiches melde ich vor der Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich!“ So wurde die „Vollendung der deutschen Nation“ 1938 vollzogen; anderthalb Jahre danach ging die zuvor schon durch die Liquidierung der Tschechoslowakei fortgesetzte „Neuordnung Europas“ bekanntlich in ihre nächste Phase.
Die einen bewerteten Hitlers Einzug in Wien als gewaltsamen Anschluss, andere als eine Konsequenz bisheriger Geschichte Deutschlands und der Deutschen. Zweifelsfrei war und bleibt das Ereignis mit seinen Folgen die damalige Antwort auf die „deutsche Frage“. Wie sehr man diese Anschluss-Einheit im Übrigen seinerzeit im Ausland akzeptierte, beweist der Vorschlag von Premier Churchill gegenüber Stalin im Oktober 1944, erneuert bei der Konferenz von Jalta am 5. Februar 1945: Preußens Fähigkeiten, einen neuen Krieg zu beginnen, würden stark eingeschränkt werden, wenn es von Deutschland abgetrennt würde. Durch die Schaffung eines zweiten großen deutschen Staates im Süden, dessen Hauptstadt Wien sein könnte, wäre die Trennungslinie zwischen Preußen und dem übrigen Deutschland künftig zu gewährleisten.
Bekanntlich widersetzte sich Stalin diesen Zerstückelungsvorschlägen aus machtpolitischem Kalkül. Dabei hatte er selbst zunächst durchaus noch kleinteiligere eigene Vorstellungen: Bei ihm ging es um sieben Teilstaaten zu dem Zweck, so eine erneute Verpreußung des künftigen Deutschland zu verhindern; dies zusätzlich zur Amputation von deutschen Kerngebieten und deren Übereignung an Polen und die UdSSR.
Stalin änderte seine Konzeption zugunsten einer länger andauernden, unmittelbaren Besetzung in Besatzungszonen – mit mittelbarer Kontrolle über ganz Deutschland durch Moskau.
In Übereinstimmung der Großen Drei sollte die schließlich beschlossene Besetzung als unmittelbare Kriegsfolge im Übrigen keineswegs eine Vorabregelung zu territorialen oder anderen Reparationsentscheidungen bedeuten.
Die „deutsche Frage“ lautete damals: Was soll mit Deutschland und den Deutschen geschehen? Die waren nach bedingungsloser Kapitulation kein Subjekt und Partner für irgendwelche Regelungen. Sie waren Objekt, Befehlsempfänger unter Besatzungsrecht, Denn die Siegermächte hatten gemeinsam und ohne viel Federlesens entschieden, dass es keine nennenswerten Kräfte oder Persönlichkeiten in Deutschland gegeben habe, die als Widerstand oder Opposition gegen die Nazis in den Rang von Verhandlungspartnern hätten erhoben werden können. Dennoch war einsichtig, dass jegliche Militärregierung ihre Macht nicht ohne rasche Delegierung an Deutsche – vorrangig zur Durchsetzung ihrer Anordnungen – realisieren konnte. Deren Auswahl durch die Sieger war höchst unterschiedlich.
Für die sowjetisch besetzte Zone, aber auch als Konzept eines wieder erstehenden deutschen staatlichen Gemeinwesens, gab es eine scheinbar klare Linie vermittels zweier Aussagen Stalins. Im Armeebefehl 55 vom 23. Februar 1942 hatte es geheißen: „Die Erfahrungen der Geschichte besagen, dass die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt.“ Gesprochen angesichts der Deutschen vor Moskau. Und dann, am 9. Mai 1945, dem Tag des Sieges: „Deutschland ist aufs Haupt geschlagen. Die deutschen Truppen haben kapituliert. Die Sowjetunion feiert den Sieg, auch wenn sie sich nicht anschickt, Deutschland zu zerstückeln oder zu vernichten“.
Damit war zugleich das Fazit zu einer Wunschvorstellung gezogen, deren Wortführer der spätere US-Präsident Harry S. Truman war. In der New York Times vom 23. Juni 1941, zwei Tage nach dem Überfall auf die Sowjetunion, hatte er geschrieben: „Wenn wir sehen, dass Deutschland gewinnt, so sollten wir Rußland helfen, und wenn Rußland gewinnt, so sollten wir Deutschland helfen; sollen sie auf diese Weise so viel als möglich töten“.
Also Sieg einerseits und andererseits das Angebot Stalins, die militärische Kapitulation auch als Befreiung des Volkes der Deutschen von ihrer faschistischen Beherrschung zu werten, um geläutert neben den durch sie geschädigten anderen Völkern und Staaten, auch neben der Anti-Hitlerkoalition, bestehen zu können.
Nachkriegszeit
Objektiv sind die Tage der deutschen Kapitulation und die Erinnerung daran von Anfang an Anlass zu Dankbarkeit der Deutschen und ihrer gesellschaftlichen Organisationen gegenüber den Siegern. Doch dies versank in den Wellen des Kalten Krieges. In der DDR war der 8. Mai neben dem Jahrestag der Staatsgründung der höchste staatliche Feiertag. Für die BRD hätte wenigstens der 8. Mai 1985 eine Wende zu einer entsprechenden Erinnerungskultur werden können. Da gab es eine Grundsatzrede im Bonner Parlament: Richard von Weizsäcker wurde zum ersten Bundespräsidenten, der den 8. Mai 1945 einen „Tag der Befreiung“ nannte. Das war 40 Jahre nach dem Krieg, wurde aber noch damals zu einem Stein des Anstoßes.
Mit und nach dem Anschluss der ostdeutschen Länder wäre erneute Gelegenheit gewesen, den Mangel in der Erinnerungskultur zu beseitigen. Hat aber in dem Aufräumeifer gegenüber den Hinterlassenschaften der DDR wohl niemand daran gedacht. Und weg ist weg!
So gaben denn die Öffentlich-rechtlichen Sender am 8. Mai 2019 in den Abendnachrichten folgendes zur Kenntnis: In Paris habe man in feierlichem Rahmen des Endes des zweiten Weltkrieges gedacht; Präsident Macron habe einen Kranz niedergelegt und mit Veteranen aus Armee und Widerstand gesprochen.
Eine Auslandsmeldung neben anderen, die uns offenbar nichts weiter anging. Deutschland hatte aber auch wirklich andere Prioritäten als Frankreich: „CSU will bis 2030 eine europäische Armee“, hieß es am 5. Mai, auch als Wahlbeitrag für „Europa“. Quasi mit Seitenhieb auf finanzielle Forderungen von Präsident Trump: Aber mit eigener Rüstungsproduktion!
Weitere Schlagworte in der Diskussion dieser erst knapp vergangenen Tage lieferte etwa Guy Verhofstadt, Stimme aus Belgien: „Lasst uns die EU-Armee bis zum Jahr 2024 machen“. Die Europäer gäben gegenwärtig dreimal so viel Geld wie Russland für ihre Armeen aus, „aber ich bin mir nicht sicher, dass wir in der Lage wären, die Russen zu stoppen“. Und der CSU-Politiker Manfred Weber, konservativer Spitzenkandidat zur „Europa-Wahl“ bescheinigte Verhofstadt eine großartige Vision. Abstriche machte hingegen die grüne Spitzenkandidatin Ska Keller: „Aber keine Atomwaffen – die wollen wir nicht“. Der ständige SPD-Untote und Politikrückkehrer im Wartestand Siegmar Gabriel steuerte den Vorschlag bei, vermittels Überreden der französischen Partner an deren Atomwaffen zu kommen, und auch die Idee, wie man Hilfswillige für die vorderste Front einkaufen könne. In einem Interview mit dem schwedischen Svenska Dagbladet entwickelte er das Konzept eines europäischen Fonds „zum Schutz der baltischen Länder und Polens vor Russland“ mit deutschem Anfangskapital, auch zum Ankauf deutscher und französischer Rüstungsgüter (!) in Höhe von etwa 20 Milliarden Euro. Besorgt fragte ein renditebewusster Leser: Was wird aus dem Aufwand, wenn der Russe aber gar nicht kommt?
Diese Wahrscheinlichkeit ist – historisch betrachtet – ziemlich hoch. Vielleicht hatte der Leser in Erinnerung, dass es die Sowjetunion war, die mit Idee und Konzeption des Helsinki-Prozesses dem politischen Westeuropa friedliche Koexistenz, Kooperation, die vertragliche Sicherung des Status quo vorschlug. Mit Blick auf die Geographie lehnte der Westen ab. Der Sowjetblock sei zu überlegen. Dafür als Ausweg die Bereitschaft Moskaus, die USA mit ihrem Weltgewicht und Kanada gleichberechtigt einzubeziehen. Es kam zu einer wirklich alle europäischen Staaten betreffenden Vereinbarung, von allen akzeptiert.
Was verhindert gegenwärtig ein ähnliches Ergebnis, zumal behauptet wird, die westeuropäische Integration sei das erfolgreichste Friedensprojekt des Kontinents.
Doch wie das – bei Ausschluss Russlands? Bei erklärter Gegnerschaft, Sanktionen aller EU-Staaten gegen Moskau inklusive.
In seinem Kompendium „Die Sowjetunion und die deutsche Frage“ von 2007 führte Wilfried Loth als gewiss unverdächtigen Zeugen Wolfgang Leonhard mit seiner Erinnerung an die von Stalin ergangene Weisung an die Initiativgruppen der KPD im Frühjahr 1945 auf: „Die politische Aufgabe bestehe nicht darin, in Deutschland den Sozialismus zu verwirklichen oder eine sozialistische Entwicklung herbeiführen zu wollen. Dies müsse im Gegenteil als eine schädliche Tendenz verurteilt und bekämpft werden. Deutschland stehe vor einer bürgerlich-demokratischen Umgestaltung, die ihrem Inhalt und Wesen nach eine Vollendung der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848 sei. […] noch am 4. Mai 1950 bezeichnete Stalin die ‚Entwicklung einer gesamtdeutschen Politik‘ als Hauptaufgabe der SED.“
Das war der Hintergrund zahlreicher sinnvoller, auch widersinniger Aktivitäten in der SBZ und bei der versuchten Einwirkung auf die anderen Besatzungszonen. „Für Einheit und gerechten Frieden“ stand noch lange auf jedem offiziellen Brief der SBZ/DDR.
Im Grundsätzlichen waren Einheit und gerechter Frieden für die BRD hingegen nicht akzeptabel; die Abwehr wurde aktiv betrieben auch vermittels direkter Einwirkung von West nach Ost, vornehmlich durch Zerstörung der deutschen Wirtschaftseinheit und propagandistische Einwirkung mit der gelungenen Irreführung in Ost und West, die Spaltung sei von der Sowjetunion und den deutschen Kommunisten gewollt und herbeigeführt worden. Der spätere Bundeskanzler Adenauer am 5. Oktober 1945: „Das Beste wäre, sofort aus den drei westlichen Zonen einen Bundesstaat zu bilden und ihn wirtschaftlich so eng wie möglich mit Frankreich und Belgien zu verflechten.“ Zu diesem Zeitpunkt war das die Absage an eine gemeinsame Lösung und der Anfang der westdeutschen „Flucht nach Europa“, um so den deutschen Verpflichtungen, aber auch den nationalen Möglichkeiten zu entfliehen.
Westdeutsche Blockadehaltung
Das häufig zitierte, Adenauer zugeschriebene (aber tatsächlich vom seinerzeit ersten Bundestagspräsidenten Erich Köhler stammende) Bonmot „Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze halb“ ist sowohl als Konzeption als auch in praktischer Politik verwirklicht worden. Das war eine westdeutsche Antwort auf die nationale Frage, die nun für Jahrzehnte mit der Deutschlandpolitik der Sowjetunion verknüpft war. In Kontinuität war deren Ziel ein friedliches, demokratisches Deutschland, möglichst neutral, zumindest aber verpflichtet, nichts gegen Partner der früheren Anti-Hitler-Koalition zu unternehmen. Dieser Grundlinie dienten alle Aktivitäten, für die eine Berücksichtigung der Interessen der DDR im Übrigen nie eine conditio sine qua non war; die Deutschlandpolitik der UdSSR war stets auf die BRD orientiert. Manchmal erfolgten Moskaus Vorstöße überraschend, wie durch die Stalin-Note von 1952, andermal druckvoll, wie durch den Entwurf eines Friedensvertrags mit Deutschland vom 10. Januar 1959, und gelegentlich durch kompletten Verzicht auf Bedingungen, wie von Berija 1953 konzipiert. (Was dem bei der Abrechnung der „kollektiven Führung“ mit seinen Führungsambitionen nach Stalin auch den Anklagepunkt „Agent imperialistischer Geheimdienste“ eintrug.)
Wie und was auch immer – alle Bemühungen wurden von der Bundesrepublik abgewiesen: Bonn wollte nicht neutral, sondern fest im Westen integriert sein. Mit dem ideologischen Kitt des Antikommunismus hatte man überdies keine Probleme.
In der Endkonsequenz führte die Deutschlandpolitik der Sowjetunion folgerichtig zur Zustimmung Gorbatschows zur deutschen Einheit. Ohne die Klammer der Ideologie und ohne sozialistisches Eigentum gab es keine objektive Notwendigkeit für einen besonderen deutschen Staat. Dennoch gab es bei Gorbatschow die Erwartung, seine Zustimmung zur Liquidation der DDR würde honoriert werden. Was dem Ansinnen entsprach, war ein bilateraler „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit“, am 9. November 1990 von Kohl und Gorbatschow in Bonn unterzeichnet. „Man ging davon aus“, so Wikipedia, “dass der reduzierte Einfluss der Sowjetunion in Mitteleuropa […] politisch kompensiert (werde) durch die in Aussicht genommenen neuen Formen der Zusammenarbeit mit dem vereinten Deutschland, wie etwa die dem deutsch-sowjetischen Verhältnis verliehene ‚neue Qualität‘“
Fragt man danach, warum dieser Vertrag die Erwartungen jedoch nicht erfüllte, lohnt ein Rückblick auf die Veränderung im Kräfteverhältnis der Hauptmächte USA und UdSSR zugunsten ersterer. In einem Spiegel-Gespräch berichtete Condoleezza Rice als Augen- und Ohrenzeugin vom Treffen zwischen Bush und Gorbatschow im Mai 1990 in Washington: „Deutschland war ein guter Freund, ein wichtiger Nato-Verbündeter. Die Probleme von 1945 spielten keine Rolle mehr. Wir stellten uns gar nicht die Frage, ob Deutschland vereinigt werden sollte. Wir fragten nur, unter welchen Bedingungen.“ Und die eine war schließlich die US-Forderung nach Verbleib Deutschlands in der NATO, denn, so Rice: „Deutschland aus der Nato zu reißen wäre ein schwerwiegender Fehler gewesen. Es hätte das Ende der Allianz bedeutet, des wichtigsten Vehikels für amerikanischen Einfluss in Europa.“ In Washington dann die Sensation: Gorbatschow akzeptierte. „Ich konnte es gar nicht glauben. Kaum hatte er es gesagt, schoben wir Berater eine Notiz zu Präsident Bush. Darauf stand: Lassen Sie es ihn noch einmal sagen. […] Selbst seine Berater waren perplex. […] Die Sowjets waren so durcheinander, dass sie gar nicht mehr wussten, was ihre Interessen waren. […] Amerikas Einfluss in Europa war gesichert.“
Und davon wurde nachmals hemmungslos Gebrauch gemacht bis in die Gegenwart nebst Ankündigungen für die Zukunft.
Im Juni 2017 fasste Präsident Putin die Auswirkung der imperialen Außenpolitik der USA vermittels der NATO so zusammen: „Es gibt keine Sowjetunion mehr, keinen Ostblock. Meines Erachtens braucht die NATO einen äußeren Feind, um ihre Existenz zu rechtfertigen, also ist sie ständig auf der Suche nach einem neuen Feind, und nach Provokationen, um Gegner zu schaffen, wo es keine gibt. […] Heute ist die NATO ein Instrument der US-amerikanischen Außenpolitik.“
Seit Präsident Trump wird Gefolgschaft zusätzlich auch bei den NATO-Verbündeten direkt eingefordert. Dabei liegt auf der Hand, dass die Fokussierung auf Russland als Gegner, nicht als europäischer Kooperationspartner, zugleich geeignetes Mittel der USA ist, wirtschaftliches Wachstum im militär-industriellen Komplex zu generieren und dauerhaft zu sichern. Dafür reicht evidentes Bedrohungsgebaren und entgegengesetzt dessen Empfindung zwar aus, auch ohne militärische Auseinandersetzung. Aber das ist kein Deal, sondern Spiel mit dem Endrisiko.
Wie Deutschland sich angesichts dieser Rahmenbedingung und gemäß der Aufforderung aus unserer Literaturvorstellung zu Beginn künftig schadensfrei für eigene strategische Interessen zu verhalten vermag, das scheint uns die Frage nach der Quadratur des Kreises zu sein.
Was hingegen unseren allgemeinen Eindruck von der EU-europäischen Situation anlangt, sind wir aktuell in Gesellschaft mit Joschka Fischer und seiner jüngsten Veröffentlichung „Der Abstieg des Westens. Europa in der neuen Weltordnung des 21. Jahrhunderts“ (apropos: wäre „Weltunordnung nicht treffender?) in Sonderheit mit diesem trefflichen Satz: „Die Sowjetunion kollabierte, der Westen hingegen steigt ab, Schritt für Schritt.“ Fischers finale Vorausschau: „Das Land in der Mitte Europas wird sich darauf einzustellen haben.“
P.S.: Robert Kagan, den offenbar die Befürchtung umtreibt, dass Deutschland und die Deutschen keineswegs ein für alle Mal gegen Entwicklungen gefeit sein müssten, aus denen die „Probleme von 1945“ hervorgingen, schließt seinerseits so: „Überall in Deutschland liegen noch Tausende von Bomben, die von den Alliierten im Zweiten Weltkrieg abgeworfen wurden und die nicht zündeten. Eine davon explodierte vor wenigen Jahren in Göttingen und tötete die drei Männer, die versucht hatten, sie zu entschärfen. Europa kann man sich heute als eine solche Bombe vorstellen. deren Zünder intakt und deren Sprengstoffladung noch funktionsbereit ist. Wenn diese Analogie zutrifft, verhält Trump sich wie ein Kind, das mit einem Hammer lustvoll und unbekümmert auf diesen Sprengkörper haut. Was sollte da schon schiefgehen?“
Historischer Optimismus klingt anders …
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