von Erhard Crome
Die diesjährige Münchner Wehrkundetagung alias Sicherheitskonferenz war in erster Linie ein Schaulaufen der Lügner und Heuchler, gepaart mit fulminanten Fehlperzeptionen und Wunschträumen. Ein bedeutender Heuchler war der Vizepräsident der USA, Michael „Mike“ Pence. Er lobte seinen Herrn und Gebieter über den grünen Klee, hob dessen Großtaten und Erfolge hervor, heimste dafür in der Runde allerdings wenig Beifall ein. Bundeskanzlerin Angela Merkel lobte ihre Politik der regelhaften Weltordnung und wurde mit Standing Ovations bedacht. Tatsächlich meinte sie natürlich den Standort Deutschland und des Exportweltmeisters Vorteile aus einer liberal-freihändlerischen Weltordnung, die sie geschickt als gemeinsame Vorteile aller zu beschreiben suchte. Es war im Kern „Germany First“ in einer netten EU-Verpackung.
Aus den USA waren insgesamt 55 politische Wichtigmacher angereist. Das bot ihnen Gelegenheit, dem Irrsinn des Washingtoner Betriebs zu entfleuchen. Der ungarische Rechtswissenschaftler und spätere Politiker István Bibó hatte bereits vor Ende des Zweiten Weltkriegs das damalige Grundproblem Deutschlands als „die deutsche Hysterie“ beschrieben, die aus einer Folge von Fehlentwicklungen in der deutschen Geschichte resultierte. Das Wesen einer solchen Hysterie beschrieb er so: „Eine übermäßig große Erschütterung bewirkt die Fixierung und Lähmung der Emotionen und Intentionen im politischen Denken der betreffenden Gemeinschaft. Die Erinnerung an die Erschütterung wird dominierend.“ Daraus resultiert: „Das Denken, die Emotionen und die Aktivitäten verknüpfen sich also zwanghaft mit einer neurotischen Deutung eines einzigen Erlebnisses. In diesem fixierten und gelähmten Zustand werden die aktuellen Probleme unlösbar, sofern sie zu dem kritischen Punkt in irgendeiner Beziehung stehen. […] Eine Gemeinschaft, die in einer solchen Fehllage lebt, gerät zusehends in ein schiefes Verhältnis zur Realität.“
Uns interessiert hier nicht, wie in der deutschen Geschichte aus der falschen nationalen Einigung 1871 und der Revolution und Konterrevolution 1918/19 das Scheitern der Weimarer Republik und Adolf Hitler hervorgingen. Hier interessiert, dass unter anderen Umständen auch andere nationale Gemeinschaften einer solchen Hysterie anheimfallen können. Aus dem Niedergang der USA als „alleiniger Supermacht“, dem Fiasko der Kriege gegen Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien ging ein immer breiter werdender antirussischer Teufelswahn hervor, der schließlich in die heutige US-amerikanische Hysterie mündete, Russlands Präsident Wladimir Putin habe Donald Trump im Weißen Haus installiert. Die Demokratische Partei, die breite Fraktion der interventionistischen Globalkrieger und die dazugehörigen Großmedien machen in den USA seit zwei Jahren keine Politik, sondern beschäftigen sich ausschließlich mit diesem Thema. Ein Untersuchungsausschuss jagt den anderen, Sonderermittler ermitteln alles Mögliche, nur keine „heiße Spur“, lediglich Invektiven werden lanciert, die denen Trumps in nichts nachstehen. Dass der frühere, von Trump geschasste FBI-Chef James Comey die Frage im Untersuchungsausschuss, ob es Erkenntnisse über eine Manipulation von Wahlmaschinen oder Wahlcomputern durch russische Hacker gegeben habe, mit Nein beantwortet hatte, wird stets unterschlagen. Die Realität passt nicht zur Hysterie.
Ganz in diesem Sinne hatte der frühere Vizepräsident Joe Biden München zum Ort erkoren, an dem er in Sachen Trump-Regierung verkündete: „Ich verspreche Ihnen, das wird vorbeigehen. Wir kommen zurück.“ Das war Balsam nicht nur für die Seelen der anderen Hysteriker, die aus den USA angereist waren, sondern auch für die der deutschen politischen Klasse, die seit zwei Jahren nicht in der Lage war, sich tatsächlich auf die Trumpsche Politik einzustellen, sondern immer noch wartet, dass „das“ vorbeigeht. Bis auf einen zentralen Punkt: Merkel und CDU-Militärministerin Ursula von der Leyen haben erneut eine weitere Steigerung der deutschen Militärausgaben zugesagt.
Hier war denn auch die Heuchelei beheimatet. Sowohl die Kanzlerin als auch ihr Außenminister Heiko Maas gaben Bedauern über die Aufkündigung des Vertrag über das Verbot nuklearer Mittelstreckenwaffen (INF-Vertrag) zu Protokoll. Beide machten jedoch unisono Russland dafür verantwortlich. Das war Bekräftigung der Position, die die Bundesregierung bereits im Oktober 2018 mitteilen ließ: Sie würde die Entscheidung Trumps, sich aus dem INF-Abkommen zurückzuziehen, bedauern. Der INF-Vertrag sei ein wichtiges Element der Rüstungskontrolle und diene in besonderer Weise auch europäischen Interessen. Dann aber nicht etwa Trump zu kritisieren, sondern Russland. So redete Merkel in München „von jahrelangen Verletzungen der Vertragsbedingungen durch Russland“, weshalb die Kündigung von Seiten der USA „unabwendbar gewesen“ sei.
Das neuerliche Gefühl, die Wiederkehr landgestützter atomarer Mittelstreckenwaffen würde erneut heißen: „Je kürzer die Reichweite, desto deutscher die Toten“, führte auch in München nicht zu einer Intervention gegenüber Washington, sondern zum Einlenken gegenüber den USA. Erneut wurde kein Schritt zur Rettung des Vertrages in deutschem Interesse gegangen, sondern nur wieder an der antirussischen Kampagne gedreht. Deutschlands Regierende sind bei der Schuldzuweisung an Russland geblieben und behaupten weiterhin, gegen eine neuerliche Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa zu sein. Sie tun aber nichts, weder im nationalen Rahmen noch innerhalb der NATO, um dies wirklich zu verhindern. Damit wurde erneut eine friedenspolitische Chance vertan.
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