21. Jahrgang | Nummer 24 | 19. November 2018

Bemerkungen

Politisch korrekt verlogen

Dieser Tage forderte mein Küchen-Radio dazu auf, beim nächsten Einkauf an eine Lebensmitteltüte für Sozial Bedürftige zu denken. Aber: Sozial „bedürftig“ sind doch alle Menschen? Wer kommt ohne soziale Zuwendung aus? Beabsichtigt der Aufruf nicht eher, uns an Hilfe für Menschen zu erinnern, die ihre tägliche Nahrung einfach nicht bezahlen können? Menschen, die arm sind? Genau darum geht es: ARMUT darf es aus Sicht der Satten eigentlich nicht geben. Selbst das Wort bewegen sie im Mund wie eine verschimmelte Erdbeere. Armut will man nicht sehen, sie gehört an den Rand der Stadt. Man will nicht an die Voraussetzungen des eigenen Wohlergehens erinnert werden.
Vor Jahren gebrauchte ich einmal den Begriff „Sozial Schwache“. Ich wurde heftig angegriffen: Nicht weil der Begriff genauso verlogen ist wie „Sozial Bedürftige“ – Diese Menschen seien nicht „schwach“, wurde mir von linker Seite entgegen geschleudert. Das nun wieder war der Ausfluss eines Denkens, das von den „Thälmann“-Filmen der DEFA geprägt wurde. Einen Finger könne man brechen, sagte „Teddy“, eine Faust aber nicht. Er irrte.
Die Armen im Lande haben inzwischen stillschweigend akzeptiert, dass sie als schwach und bedürftig eingestuft werden. Das ist immerhin etwas besser als „arm“. Arm sei man in Afrika … Solange aber Armut nicht beim Namen genannt wird, wird sich an den Zuständen im Lande nichts ändern. Auch der Reichtum ist bedürftig. Er bedarf sozial der Armut. Sie ist die Grundvoraussetzung seiner Existenz und wird immer durch mediale Verlogenheit beschützt.
2018 jährte sich die Uraufführung der „Dreigroschenoper“ zum 90. Male. Seitdem hat sich nichts wesentlich zum Besseren gewendet.

Günter Hayn

Der Mann, der noch nie auf dem Hochkönig war

Erinnern Sie sich noch an Loriots „Weihnachten bei Hoppenstedts“? In diesem Sketch aus dem Jahre 1978 bekommt Dicki Hoppenstedt einen Bastelbausatz für ein Atomkraftwerk auf den Gabentisch gelegt. Das Ding wurde zum Klassiker. Die Baukastenidee hatte mindestens ein Jahr vor Loriot der Salzburger Schriftsteller Walter Kappacher. 1977 veröffentlichte Kappacher die Erzählung „Der Zauberlehrling“. In der geht es um die Auswirkungen eines Weihnachtsgeschenkes: Der Ich-Erzähler bekommt einen Bausatz für eine Uran-Anreicherungsanlage und einen Leichtwasserreaktor. Natürlich wird auch noch der Zusatzbaukasten für den Schnellen Brüter beschafft: „Es ist mir ein Rätsel, warum die Probeladung des Brüters nicht funktionierte. Es gab einen heftigen Knall und Rauchentwicklung. […] Der (Feuerwehr-) Hauptmann war ein intelligenter Mensch, ich hatte ihn schnell überzeugt, dass alles in Ordnung war.“ – Der ORF setzte das nach dieser Erzählung von Peter Keglevic gefertigte Fernsehspiel kurz vor der Austrahlung ab, „weil es die Volksabstimmung über das Atomkraftwerk Zwentendorf hätte ‚beeinflussen‘ können.“
Die Volksabstimmung vom 15. November 1978 stoppte Zwentendorf, seit 1999 hat die Anti-Atom-Position in Österreich Verfassungsrang. Erfolgreicher kann Literatur sich kaum einbringen. Walter Kappacher vermerkt das Ereignis in seinem Text „Ich erinnere mich“ mit dem zitierten lakonischen Satz, in dem lediglich die Absetzung notiert ist. Diese Erinnerungen haben es in sich. Eingefleischten Deutschlehrern müssen die Haare zu Berge stehen. Die meisten Texte leitet Kappacher mit der Konjunktion „wie“ ein: „Wie ich mir sehnlichst eine Pelikan-Füllfeder wünschte und nie bekam.“ Mehr steht da nicht. Für ein Kind kann das aber ein Grunderlebnis sein, für den Autor war es das auch. Er war armer Leute Kind. Die Geschichte vom Aufstieg durch Bildung, eine der großen Lebenslügen der westlichen Kultur … „Wie mir die Mutter von Günter Reibhorn sagte, sie verstehe nicht, wie ich schreiben könne […], da ich doch nicht aus einem entsprechenden Elternhaus komme. ‚Wie ist das möglich?‘“ Kappacher erzählt das in Form erstaunlich verknappter Notizen, aber die treffen ins Mark. Der Mann erhielt völlig zu Recht den Georg-Büchner-Preis (2009). Vielleicht ist der Autor in Deutschland so wenig bekannt, weil er sich aus dem System der österreichischen Literatur-Cliquenwirtschaft weitgehend heraushält. Ich bin mir sicher, das hat mit den Prägungen seiner Herkunft zu tun.
Walter Kappacher wurde am 24. Oktober 80 Jahre alt. Müry Salzmann brachte ihm und uns zum Geschenk „Ich erinnere mich“ heraus, dazu in 2. Auflage „Die Amseln von Parsch“ (hier findet sich auch „Der Zauberlehrling“). Beide Bücher möchte ich Ihnen ans Herz legen. Mich haben die sehr berührt. Mit Kappacher würde ich gern im „Tomaselli“ einen Einspänner schlürfen. Übrigens beginnen auch die Überschriften der Geschichten des Till Eulenspiegel mit „wie“. Mir gefällt das.

Wolfgang Brauer

Walter Kappacher: Ich erinnere mich und andere Prosa, Müry Salzmann Verlag, Salzburg 2018, 184 Seiten, 24,00 Euro.
Walter Kappacher: Die Amseln von Parsch und andere Prosa, Müry Salzmann Verlag, Salzburg 2018, 216 Seiten, 19,00 Euro.

Abgesang

Ingo Wetzker und seine drei Mittäter sowie vergleichbar genialische Berufskollegen wie Ulrich Roski, das Duo Schobert & Black (als einzige in der Szene hoch politisch) oder der skurrile Horst Koch (unerreicht sein „Am Brunnen vor dem Tore“! als klassischer Flamenco) bevölkerten und beschallten von den 1960er in die 1970er Jahre Westberlin.
Für Wetzker und seinesgleichen kam damals die Berufsbezeichnung „Blödelbarde“ in Umlauf. Denn was da abgeliefert wurde, war nicht mehr der altehrwürdige Bänkelgesang. Es wurde vielmehr Nonsens auf einem Niveau präsentiert, für das die adelnde Bezeichnung Höherer Blödsinn mehr als gerechtfertigt war. Und zwar nach einer Definition, wie sie seinerzeit im Schwange war: „Höherer Blödsinn ist nicht nur, wenn man am Ende trotzdem lacht, sondern auch nicht mehr weiß, warum.“
Wetzker und seine Combo bescherten seiner Generation und auch noch der nächstfolgenden solche unvergesslichen poetischen Kleinode wie: „Ein Mistkäfer schwamm in der Jauche, / am Rücken blau und auch am Bauche. / Und weil er lebt nur im Gestank, / so frisst ihn keiner, gottseidank.“ Vertont und gesungen. Im Stil eines Madrigals, wohlgemerkt! Oder Handlungsanweisungen wie diese: „Hast Du Schnupfen in der Nase / hol’ ihn raus / auch auf der Straße.“ Und natürlich nicht zu vergessen den Endlos-Ohrwurm „Ich liebt’ ein Mädchen … in Tempelhof, / die war sehr lieb, doch bisschen doof.“
Und wer jetzt mit dem Namen Wetzker nicht so richtig viel anfangen kann, dem sei ergänzt, dass der Ingo im heute russischen Tschernjachowsk geboren wurde, als das noch zu Ostpreußen gehörte und Insterburg hieß. Ingo setzte die Stadt an die Stelle seines Nachnamens und trat zusammen mit Jürgen Barz, Karl Dall und Peter Ehlebracht als „Insterburg & Co.“ in die abendländische Kulturgeschichte ein …
Nun hat sich Ingo Insterburg im seligen Alter von 84 Jahren in die Ewigen Jagdgründe empfohlen. Allemal ein Grund, ihm ein kräftiges „Chapeau!“ nachzurufen. Und die alten Platten mal wieder hervorzukramen.

Alfons Markuske

Zynismus de luxe

I. Dass unser aller Verkehrsminister ebenso wie seine Vorgänger zuallererst Minister (= Diener) unserer so systemischen Automobilindustrie ist, hat eigentlich keinerlei Neuigkeitswert. Die Unverschämtheit, mit der er und seine Behörde dieses Verständnis praktiziert, ist allerdings schon atemberaubend. Da reagiert Herr Scheuer auf die zunehmenden Klagen von Fußgängern über viel zu kurze Grünphasen an Ampelüberwegen im seinerseits autorisierten Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr 2016/17 mit folgendem Rat: „Für ältere Fußgänger/innen werden Maßnahmen angeraten, die vor allem die physischen Voraussetzungen für sicheres Queren trainieren bzw. aufrecht erhalten und zudem die Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit verbessern“. Geht’s noch zynischer?

II. Das Kraftfahrt-Bundesamt, der Scheuer-Behörde unterstellt, zieht seine Existenzberechtigung eigentlich aus der Kontrolle der Fahrzeughersteller. Eigentlich. Gerade eben erweist auch sie sich als verlängerter Arm der dort angesiedelten Interessen. Statt seine staatliche Autorität vehement dafür einzusetzen, dass die Dieselbetrüger abgestraft und allein zur für die Halter kostenlosen Nachrüstung herangezogen werden, macht das Amt was? Es verschickt 1,5 Millionen Briefe an betroffene Halter und „informiert“ diese über deren verbleibende Möglichkeiten. Das tut sie dergestalt „neutral“, dass es in dem Brief heißt: Wer die Umtauschprämie in Anspruch nimmt, würde „einen wirksamen und maßgeblichen Beitrag zur Reduzierung der Fahrzeugemissionen und zu einer Verbesserung der Luftqualität in unseren Städten“ leisten. Doch, so berichtet Spiegel online, damit noch nicht genug. Weiterhin würde in besagtem Brief auf Hotlines und Internetpräsenzen dreier Hersteller hingewiesen – und zwar von BMW, Daimler und VW. Angegeben sind dort die Rufnummern und Internetadressen der drei großen Hersteller, die einen direkt zu den Diesel-Umtauschprogrammen der Firmen leiten. Immerhin wird der Halter noch darüber informiert, dass es ihm unbenommen bleibe, „sich auch bei anderen Herstellern über laufende Umtauschaktionen zu informieren“.

Es bleibt wiedermal nur Erich Kästner und dessen – weitgehend wohl vergebliche – Warnung übrig: „Was immer geschieht: Nie dürft ihr so tief sinken, von dem Kakao, durch den man euch zieht, auch noch zu trinken.“

Hella Jülich

Medien-Mosaik

Selten genug, dass ein Film über die heutige Arbeitswelt und die damit verbundenen Probleme gedreht wird. Die in Deutschland lebende Italienerin Lucia Chiarla (bisher Drehbuchautorin) hat es gewagt und für ihre Tragikomödie mit Eva Löbau eine wirkliche Sympathieträgerin gefunden. Sie spielt eine nicht mehr ganz junge Frau, die verzweifelt versucht, eine Stelle zu ergattern – dafür steht symbolisch das Stühlerücken beim Spiel „Die Reise nach Jerusalem“. Vor Freunden und Familie schämt sie sich, gibt vor, als Freiberuflerin von ihren Aufträgen leben zu können. Dabei wird sie bestenfalls in Benzingutscheinen bezahlt, die sie nicht los wird. Ungeschick und Pech kommen zusammen. Die Filmemacherin hat viele typische Situationen der vergeblichen Arbeitssuche zusammengestellt, das Spiel der Löbau hat Witz und Charme, aber ohne wirkliche Fabel löst sich die anfängliche Spannung auf, ohne dass sich der erwartete Höhepunkt einstellt. Weniger wäre mehr gewesen.
Die Reise nach Jerusalem, Regie Lucia Chiarla, Verleih Filmperlen, seit 16.11. in ausgewählten Kinos.

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Weihnachten steht bevor – die richtige Zeit, sich in Phantasiewelten zu versetzen, die der Kindheit entsprangen. Märchen oder Comics eignen sich dazu. Zwar erleben die Digedags, Comic-Helden der DDR, schon seit über 40 Jahren keine neuen Abenteuer mehr (abgesehen von kleinen Revivals in Fan-Magazinen), aber in Buchform finden die alten Geschichten noch immer neue begeisterte Leser. Der Erfinder der drei zeitreisenden Gnome war Johannes Hegenbarth, der sich Hannes Hegen nannte, und in den letzten 40 Jahren seines Lebens (er starb hochbetagt 2014) zunehmend öffentlichkeitsscheu war. Am Ende seines Lebens entschied er sich, seinen Vorlass an das Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig zu vergeben, das inzwischen mit seinem Werk eine Dauerausstellung eingerichtet hat. Dort hatte Prof. Dr. Bernd Lindner (zu DDR-Zeiten am Leipziger Jugendforschungsinstitut unter Lothar Bisky tätig) die Gelegenheit, Hegenbarth zu seinem Leben und Schaffen zu befragen. Diese Gespräche mündeten in den opulenten Bild-Text-Band „Die drei Leben des Zeichners Johannes Hegenbarth“, der seit Jahren vergriffen ist.
Glücklicherweise schob der Tessloff-Verlag eine Taschenbuchausgabe nach, in der kleine Fehler berichtigt wurden, und auch ein zusätzliches Kapitel über Hegens Autoleidenschaft angefügt ist. Hegenbarths Biografie kann man hier erstmals detailliert nachvollziehen. Doch im Mittelpunkt des Bandes steht Hegenbarths Arbeit für die DDR-Presse, etwa für den Eulenspiegel und Das Magazin (für das er vor Klemke Titelbilder lieferte) und sein Lebenswerk, das Mosaik. Im Buch schildert er aus seiner Sicht die verschlungenen Pfade der Digedags im DDR-Blätterwald und räumt darin auch mit Legenden auf, wie der, dass das Mosaik aus politischen Gründen auf Sprechblasen verzichtet hätte. Die Bildgeschichten fanden jetzt einen besseren grafischen Ausdruck, so hatte Hegen damals entschieden.
Zweifellos fehlen auch einige Informationen, die Hegen selbst nicht preisgeben wollte oder am Lebensende auch nicht mehr erinnerte. Trotzdem bietet der Band viel Neues und erzählt auch über die Mosaik-Historie hinaus viel über die DDR-Kulturgeschichte.
Bernd Lindner, Herausgeber: Die drei Leben des Zeichners Johannes Hegenbarth, Tessloff-Verlag 2017, 19,95 Euro.

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Kindlich geblieben ist Paul nicht, will es wohl auch nicht wieder werden. Und doch sehnt er sich nach jugendlicher Unbeschwertheit zurück. Der verheiratete Vierziger wird zum Aussteiger, trampt ohne Ziel, lebt in den Tag hinein, nimmt das Leben, wie es kommt. Charismatisch und zugleich alltäglich wird er in dem neuen Film „Whatever happens next“ (nach einer Zeile aus einem Song) gespielt von Sebastian Rudolph. Da hat einer seine allzu bürgerliche Existenz hinter sich gelassen und zieht als Schnorrer und (gelinder) Hochstapler durchs Land. Seine Begegnungen erlauben einen Blick auf andere Lebensentwürfe, Verhaltensweisen, die Konfrontation mit Liebe und Tod. Dabei macht er nicht an der Grenze halt, sondern wirft auch einen Blick auf unsere polnischen Nachbarn. Spannung entsteht durch einen von Peter René Lüdicke gespielten Privatdetektiv, den Pauls Frau (Christine Hoppe) auf ihn angesetzt hat. Schön ist, dass Regisseur Pörksen am Ende Vieles offen lässt und doch zusammenführt.
Whatever happens next, Regie Julian Pörksen, Verleih Story Bay Cinema, seit 8.11. in ausgewählten Kinos.

bebe

Giuseppe Madonia – Alltagsstrukturen zum Erblühen bringen

„Vedute Interiori“ (Innenansichten) ist der Titel der Kabinettausstellung (Galerie Helle Coppi, Berlin-Mitte) des in Palermo geborenen Giuseppe Madonia, der seit 1984 als freier Maler und Bildhauer in Berlin lebt. Gezeigt werden in den letzten Jahren entstandene Ölpastelle mit Stadtlandschaften, Häuserfassaden, Raumfluchten – Urbanes, konfrontiert mit technischen Bauten, Malerisches und Konstruktives mit einer metaphysischen Aura. Berliner Stadtlandschaften mediterran. Der Künstler belässt nicht die Stadtbilder und Bauwerke, so wie er sie vorgefunden hat, sondern er setzt sie neu zusammen, ordnet sie nach Übereinstimmungen von Form und Farbe. Die von ihm benutzten Pastellfarben erzeugen einen weichen Farbschmelz. Auf eine Schicht des farbigen und trockenen Materials legt er eine andere Schicht mit einer anderen Farbe, die er danach zerkratzt und teilweise wieder herausreißt, um die Farbwirkung der ersten freizulegen. So entstehen wunderbare Transparenzen, kubisch zerklüftete und phosphoreszierende Lichträume. Diese Schichten sind wie eine „zweite Haut“. Zerstörung und „Heilung“ gehen ritualhaft ineinander über. Das Verhältnis von Form zu Form und Form zu Raum, auch von Nah und Fern entwickelt sich in jedem Bild anders.
Sowohl verschlissene, zerquälte als auch delikate Farbflächen setzt Madonia gegen markante geometrische Strukturen, Natur- gegen Technik-Zeichen, Dynamisches gegen Statisches, Atmosphärisches gegen Konstruktives, Bewusstes gegen Unbewusstes. Sein sublimer Farb- und Formsinn bringt die Alltagsstrukturen zum Erblühen, zum Sprechen. Widersprüche und Spannungen sollen zum Gleichgewicht gebracht werden. Doch eine simultane Bildstruktur wie die Madonias funktioniert nicht in auflösbaren Gegensätzen. Sie ist dynamisch. Ihre Elemente wirken gleichmäßig in der Fläche, treten einheitlich hervor wie eine Melodie, die den Betrachter unmittelbar und von überall anspricht, den Blick suchend wandern lässt, ohne ihn zu fixieren, das Bild in einen Raum der Gleichzeitigkeit öffnet.
Madonias Arbeiten sind gefühlstiefe Behauptungen des menschlichen Lebens. Er bezeichnet sich selbst gern als modernen Romantiker, in seinen Arbeiten vereint sich das Mediterrane mit dem Nordischen. Das Ockerbraun, das Rostrot, das leuchtende Blau, das glänzende Schwarz und das stumpfe Weiß: Er mischt die Farben ganz nach seiner momentanen seelischen Verfassung, stellt sie nach bestimmten Regeln zusammen.
Dieser traditionsbewusste und doch immer wieder neue Ausdrucksformen erkundende Künstler setzt ganz neue Akzente in der Berliner Kunstszene.

Klaus Hammer

Giuseppe Madonia – Vedute Interiori, Malerei. Galerie Helle Coppi, Auguststr. 83, Berlin-Mitte, Di – Fr 13-18 Uhr, Sa 12-18 Uhr, bis 18. Januar 2019.

Schufa fürs Volk

Seit langem frage ich mich schon, was an China noch derartig kommunistisch ist, dass es der Westen – wie eh und je – als beliebten Abziehbild des Grusels benutzt. Ja, gewiss – es dominiert eine (kommunistische?) Partei dort alles, und über dem Land weht noch immer das Banner Maos, von der Allgegenwärtigkeit seines Porträts ganz abgesehen. Aber im Alltag? Nun allerdings kommen selbst mir Kleingläubigem Zweifel daran, dass auch im Reich der Mitte die Evolution linear auf einen – nur halt anders genannten und in der Tat spezifisch ausgestalteten Kapitalismus à la carte hinausläuft. Impuls für solch Bedenken ist dabei das „Social Credit System“, unter dem man sich so etwas wie ein digitales Führungszeugnis eines jeden chinesischen Bürgers vorstellen kann. Berichten darüber ist zu entnehmen, dass in diese Personendateien „Daten von Online-Plattformen und Behörden, von Verwaltungsübertretungen über Online-Verhalten bis zur Einkaufshistorie“ einfließen; eine Rundum-Überwachung vor allem der Opportunität der Landeskinder. Das in zwei Jahren wohl bis zur Vollendung gereifte System, gekoppelt an eine perfektionierte Gesichtserkennung, so der Plan, fließt in eine Punktzahl ein, deren Höhe oder Niedrigkeit dann entsprechend positive oder negative soziale Konsequenzen für den Einzelnen hat.
Pekings „Kommunisten“ arbeiten mit solcherart „Schufa“ an jenem gläsernen Bürger, den Orwells 1984 so weitsichtig vorgezeichnet hat – in einem imaginierten totalitär-quasi-kommunistischen Staat übrigens. So gesehen allerdings widerspricht das „Social Credit System“ denn doch nicht dem kommunistischen Selbstverständnis Pekings, oder?

HWK

Dieser Andere ist ich

„Oft durfte ich die Feststellung machen, dass selbst unter jenen, die sich der Menschenkenntnis rühmen, jeder nur sich selbst kennt, wenn man sich denn selbst kennen kann; denn wie will man ein Wesen umreißen, allein auf Grund seiner inneren Bezüge, ohne es mit etwas anderem zu vergleichen? Indes ist diese unvollkommene Kenntnis, die man von sich hat, das einzige Mittel, um die anderen kennen zu können. Man nimmt sie zum Maßstab für alles, und genau da droht uns zwiefache Illusion der Eigenliebe; sei es, dass man jenen, die wir beurteilen, fälschlicherweise Motive unterstellt, die uns an ihrer statt so hätten handeln lassen; sei es, dass wir uns, unter dieser Annahme, über unsere eigenen Motive täuschen, weil wir uns nicht darauf verstehen, uns in eine andere Situation einzufühlen als jene, in der wir uns gerade selber befinden.
Diese Beobachtungen mache ich vor allem über mich selbst, und zwar nicht anhand der Urteile, die ich über andere fällte, während ich mich mehr und mehr als ein Wesen außer aller Ordnung betrachtete, sondern anhand der Urteile, die die anderen über mich fällten; Urteile, die in Hinsicht auf die Motive, die sie meinem Verhalten zuschrieben, fast immer falsch und für gewöhnlich umso irriger waren, als jene, die sie fällten. über mehr Geist verfügten als ich: Je weiter gefasst ihr eigener Maßstab war, umso mehr ließ sie dessen verfehlte Anwendung vom Gegenstand abirren.
Angesichts dieser Feststellungen entschloss ich mich, meine Leser in der Kenntnis der Menschen einen Schritt weiter zu bringen, indem ich sie nach Möglichkeit von der alleinigen und verfehlten Regel abbringe, das Herz der anderen immer nach Maßgabe des eigenen zu richten; während man, gegenteils, zur Kenntnis des eigenen weit eher damit beginnen sollte, in demjenigen der anderen zu lesen. Um sich schätzen zu lernen, möchte ich den Versuch wagen, dass man zumindest über ein Richtmaß verfügt; damit ein jeder sich selbst und einen anderen kennenlernt, und dieser andere ist ich.“

Jean-Jaques Rousseau (Confessions)

Aus anderen Quellen

Die Bundeskanzlerin sei, so beginnt Jürgen Kaube seine sehr sachliche Eloge, „– und ist es noch – durch viele Besonderheiten eine Politikerin, die staunen macht. […] Man musste sie stets nur mit den Staatsführern andernorts vergleichen, den Sarkozys und Hollandes, den Berlusconis und Camerons, von den Trumps und Putins ganz zu schweigen, um zum Schluss zu kommen: Eine in dieser Reihe ist nicht wie die anderen. Nämlich nicht nur ohne Skandale, hasardeurhaftes Verhalten und präpotentes Getue, sondern zumeist fast desinteressiert an der eigenen Außenwirkung.“ Und: „Anhaltspunkte für Dämoniediagnosen bot sie nicht. Weniger magisch wurde selten regiert und geheimnisvoll allenfalls in dem Sinne, dass man nicht verstand, wie jemand so lange so wach sein kann und dass aus dem engsten Zirkel derer, denen sie vertraut, so gut wie nie etwas nach außen drang. Jener Amüsiertheit nur knapp unterdrückende Blick, mit dem sie einst ihr Mobiltelefon, auf dem der Rücktritt des Kopierbarons Guttenberg zu lesen war, an Annette Schavan weiterreichte, war einer der wenigen Momente, in dem sich Angela Merkel einmal etwas anmerken ließ.“
Jürgen Kaube: Rückzug von Angela Merkel: Anders als alle anderen, faz.net, 30.10.2018. Zum Volltext hier klicken.

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Grundlegende Fragen zur Wirtschafts- und Sozialkrise in Venezuela stellt Temir Porras Ponceleón – zum Beispiel: „[…] warum sich Venezuela verpflichtet fühlt, seine Schulden absolut pünktlich und bis zum letzten Cent zu begleichen, obwohl seine Einnahmen seit 2014 einbrechen. Warum hat der Staat nicht versucht, mit seinen Gläubigern zu verhandeln? Auch wenn der Zugang zu den Kapitalmärkten immer schwieriger und teurer wurde, wären Verhandlungen immer noch möglich gewesen. Zum Beispiel hätte man China ansprechen können, den wichtigsten Finanzpartner überhaupt […].“
Temir Porras Ponceleón: Hausgemachtes Desaster, Le Monde diplomatique, 08.11.2018.Zum Volltext hier klicken.

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„In den letzten Jahrzehnten“, konstatiert Maria-Sibylla Lotter, „ist eine von Schuld- und Schamgefühlen getriebene Moralisierung der politischen Sphäre zu beobachten. Mitunter wirken zum Beispiel Naturschützer oder Flüchtlingshelfer in ihrem Engagement weniger durch die Liebe zur Natur […] motiviert als durch den Wunsch, sich mit Blick auf Umweltprobleme oder die ungerechten globalen Machtverhältnisse und Ressourcenverteilungen weniger schuldig zu fühlen.“ Zugleich stellt die Autorin fest: „Rücksicht auf die Verletzlichkeiten von Personen zu nehmen bedeutet für diese Avantgarde nicht etwa ein mitfühlendes Verstehen anderer menschlicher Schicksale. Verstehen würde schon eine übergriffige Vereinnahmung gegenüber den Leidenden darstellen.“ Und ihr fällt auf: „Es sind allerdings so gut wie nie die tatsächlichen ‚Opfer‘, sondern meist selbst ernannte Opfervertreter, die sich die Befugnis zuschreiben, anderen aufgrund ihrer Identität das Recht auf Verständnis oder auch nur freie Meinungsäußerung zu bestimmten Themen zuzusprechen oder zu verweigern.“
Maria-Sibylla Lotter: Der Wille zur Schuld, www.zeit.de, 15.08.2018. Zum Volltext hier klicken.

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Auf die Frage, welches Gesellschaftsmodell ihr vorschwebe, antwortete die Schriftstellerin Juli Zeh: „Ein System zu finden, was das menschliche Leben unabhängig von Arbeit würdigt. Denn die Digitalisierung wird unsere Arbeitswelt weiter verändern. Das bedingungslose Grundeinkommen ist ein allererster zarter Ansatz. Die große Frage bleibt, wie wollen wir uns in Zukunft definieren, wenn nicht über die Arbeit? Und dann kommen wir zu unserem größten gesellschaftlichen Defizit. Wir sind ein schweinereiches durchindustrialisiertes Land und bei der Fürsorge für Schwächere, die Alten, die Kranken, die Kinder, völlig defizitär aufgestellt. Pflegenotstand, Krankenhäuser am Abgrund, zu wenige Kitaplätze. Das kann doch nicht sein. Wäre es möglich, eine Gesellschaft zu organisieren, in der die Fürsorge den menschlichen Wert ausmacht und nicht die bezahlte Arbeit?“
Julia Prosinger / Ulf Lippitz: „Ich bin eine gut bezahlte Arbeitslose“, tagesspiegel.de, 05.11.2018. Zum Volltext hier klicken.