von Wladislaw Hedeler
In der vom Moskauer Rosspen-Verlag herausgegebenen Reihe „Geschichte des Stalinismus“ sind zwei von Waleri Fjodorowitsch Soldatenko, einem ukrainischen Historiker (Jahrgang1946), verfasste biografische Skizzen über Georgi Pjatakow(1890–1937) und Nikolai Skrypnik (1872–1933) erschienen. Bei der Skrypnik-Biographie handelt es sich um eine Übersetzung der 2002 unter dem Titel „Der Ungebrochene. Leben und Tod von Mykola Skrypnik“ in Kiew publizierten Studie. 2004 legte Soldatenko eine Skizze über Pjatakow vor. Diese Vorarbeit liegt dem im Rosspen-Verlag veröffentlichten Buch zugrunde.
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Anlass, sich dem heute in der russischen (und ukrainischen) Geschichtswissenschaft nach wie vor vernachlässigten, in der sowjetischen Geschichte verwurzelten Thema „Biografien von Mitgliedern der bolschewistischen Führungsriege“ zuzuwenden, waren zweifellos die von Nikolai Starikow eingeleiteten Nachdrucke der in den 1930er Jahren veröffentlichten „Stenogramme“ der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938. Zugang zu den im Zentralarchiv des FSB beziehungsweise im Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation überlieferten unredigierten „Urfassungen“ der Prozessmaterialien hatte der ukrainische Historiker nicht.
Soldatenko weist in der Abhandlung über den im zweiten Moskauer Schauprozess 1937 zum Tode verurteilten Pjatakow die von Starikow verbreiteten Geschichtsfälschungen zurück. Dessen Bücher erscheinen in Massenauflagen und sind landesweit in den Buchläden zu haben. Der zum Nachlesen der „Stenogramme“ und zum Nachdenken über die „Anklage“ aufgeforderte Leser erfährt, dass die in den Schauprozessen Verurteilten zu Recht erschossen worden seien. Der damals dank Stalins Wachsamkeit vereitelte Versuch der Abspaltung und des Verkaufs der Ukraine an den Westen sei heute Tatsache. Soldatenko widerlegt Punkt für Punkt die vom Generalstaatsanwalt Wyschinski verfälschte und in von Starikow übernommene Lesart der Biografie von Pjatakow.
Damit ist auch die den hier vorgestellten Büchern zugrunde liegende Konzeption umrissen. Soldatenko geht es darum, das mittlerweile zugängliche und veröffentlichte Material über Leben und Werk seiner Protagonisten zu sichten, zu ordnen und frei von Retuschen, unter Hinweis auf nach wie vor bestehende Forschungslücken, zusammenzufügen. Dabei gelingt es ihm, offensichtliche Fehler in den autobiografischen Aufzeichnungen von Pjatakow und Skrypnik aufzuzeigen und zu korrigieren. In der neueren, in Russland und in der Ukraine erschienenen Fachliteratur sind die Werke von Pjatakow und Skrypnik nicht ausgewertet worden.
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Im Vorwort zur Ausgabe der Skrypnik-Biografie in russischer Sprache skizziert Soldatenko seine bis in das Jahr 1992 zurückreichenden erfolglosen Bemühungen, das Buch in der Ukraine zu veröffentlichen. Der in der sowjetischen Parteigeschichtsschreibung als „Nationalabweichler“ verleumdete Skrypnik hatte 1933 Selbstmord begangen. Wie in vergleichbaren Fällen, der Gewerkschaftsvorsitzende Tomski sei als Beispiel genannt, wurde dies als Schuldeingeständnis gewertet und Skrypnik zur Unperson erklärt. Seine Bücher und Broschüren wurden aus den Bibliotheken entfernt und vernichtet. Eine Bibliographie der Schriften von Skrypnik ist in den Anhang des Bandes aufgenommen worden.
Mit der Rehabilitierung Pjatakows und Skrypniks in den Jahren der Perestroika änderte sich die Situation. Eine Ausgabe ausgewählter Werke von Skrypnik konnte erscheinen, die ein Jahr später fertiggestellte Biografie hingegen nicht. Erst 2002, aus Anlass des 130. Geburtstags, ergab sich die Möglichkeit der Publikation.
Nach der Verabschiedung des Gesetzes über die „Dekommunisierung“ im Jahre 2015 können vergleichbare Publikationen in der Ukraine nicht mehr erscheinen. Skrypnik gilt als „im Auftrag Lenins handelnder Agent“. Vor und nach den Ereignissen auf dem Maidan erfolgte eine Säuberung der Bibliotheken von „prokommunistischer“ Literatur. Es gibt nur noch wenige Exemplare der Pjatakow- und der Skrypnik-Biografie. In der Ukraine sollen ihre Namen wieder der Vergessenheit anheimfallen. Gegen ihre Erwähnung in den Geschichtsbüchern sprachen sich die Regierungsadministration, das Kultur- sowie das Volksbildungsministerium aus. Daher nahm Soldatenko das Angebot des Rosspen-Verlages, eine Ausgabe in russischer Sprache auf den Markt zu bringen, dankend an.
Es ist ein Unding, schreibt der Historiker, dass die Regale in den Buchläden voller Schundliteratur über die Henker und Täter Berija, Jeshow und Stalin sind, während Bücher über deren Opfer fehlen. Es liegt Soldatenko fern, die Spitzenfunktionäre Pjatakow und Skrypnik von der Mitverantwortung für das Scheitern des Sowjetsystems freizusprechen. Im Unterschied zu den oben genannten Tätern haben sie ihre Auffassungen nach dem Sieg im Bürgerkrieg revidiert und kritisch hinterfragt. Dieses „Lehrstück“ wird dem interessierten Leser durch das Verbot „prokommunistischer Literatur“ vorenthalten.
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Zu den offenen Fragen gehört die Geschichte der Anfänge der sozialdemokratischen Bewegung in der Ukraine. Am Beispiel Pjatakows werden die Einflüsse der anarchistischen Gruppen und Theoretiker auf die in Zirkeln organisierten Schüler und Studenten erläutert. Pjatakow schloss sich 1907 den in Kiew unter Führung von Justin Shuk agierenden Anarcho-Kommunisten an. Pjatakows Interesse galt von Anfang an der Politischen Ökonomie. Über Plechanows Schriften fand er seinen Weg zum Marxismus. Welcher Richtung innerhalb der Sozialdemokratie die Kiewer Organisation damals zuzurechnen war, lässt Soldatenko offen. Mit Blick darauf, was er über Pjatakow mitteilt, liegt der Schluss nahe, dass Letzterer den parteitreuen Menschewiki (im Unterschied zu den unter den Bolschewiki einflussreichen Abberuflern) zuzurechnen ist.
Verglichen mit der ausführlichen Darstellung der Kindheit und Jugend, der Atmosphäre im Elternhaus, fällt die Schilderung der Privatsphäre des Berufsrevolutionärs Pjatakow dürftig aus. So werden seine gescheiterte Ehe und die Beziehung zu Jewgenija Bosch vor dem Hintergrund der innerparteilichen Auseinandersetzungen beschrieben.
Umfassende Recherchen in ukrainischen und russischen Archiven lagen der Rekonstruktion der Flucht von Pjatakow und Bosch aus der Verbannung über Japan und die USA in die Schweiz zugrunde. Die Ankunft der „Japaner“ in der Schweiz und ihre Haltung zur Leninschen Führung werden ob ihrer Bedeutung für das Schicksal der Opponenten Lenins ausführlich untersucht. Detailliert werden die Kontakte und Debatten mit Trotzki und Bucharin über das Parteiprogramm und die Parteipresse dargelegt. Soldatenko beschreibt, welche Kontroversen beigelegt werden konnten und welche nicht. Umstritten blieben das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und die Negation der revolutionären Rolle von Kleinbourgeoisie und Bauernschaft.
Da diese Debatten nach Lenins Tod von Stalin als antileninistische und parteifeindliche Auffassungen verteufelt worden sind, nimmt sich Soldatenko die Zeit, deren Normalität zu belegen. Auf diese Weise führt er die in der Anklageformel im zweiten Moskauer Schauprozess enthaltene Anschuldigung des Antileninismus ad absurdum.
Marginal in der Darstellung, aber erwähnenswert, sind die in diesem Zusammenhang angedeuteten Parallelen zu den Debatten in der deutschen Sozialdemokratie und die Solidarität der „Japaner“ mit Rosa Luxemburg. Es war Stalin, der Pjatakow „Luxemburgismus“ vorwarf.
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Angesprochen, aber nicht thematisiert wird ferner Lenins unnachgiebige Haltung und Ablehnung jeder Kritik an dem von ihm formulierten Programm. Auch bei der Lektüre der Skrypnik-Biografie fällt auf, dass Lenin durchgängig als das „Maß aller Dinge“ genommen wird. Das führt dazu, dass auf eine Analyse der Debatten innerhalb und zwischen den sozialdemokratischen Parteigruppierungen zugunsten der Verweise auf Lenins richtige Bewertung verzichtet wird. So werden die Auseinandersetzung um Lenins „Aprilthesen“ in der Sozialdemokratie in der Abhandlung über Pjatakow lediglich erwähnt, die Bedeutung Plechanows angedeutet, das internationale Echo (Komintern) und die Reaktion der nichtbolschewistischen sozialistischen Parteien ausgeblendet.
Anders in der Skrypnik-Biografie. Hier ist im Zusammenhang mit der Beteiligung an der Zentralrada auch von den anderen sozialistischen Parteien (Partei der Sozialisten-Revolutionäre; Bund) die Rede.
Da Pjatakow und Bosch nicht in der Schweiz blieben, sondern nach Skandinavien weiterzogen, gehörten sie zu den ersten Bolschewiki, die nach der Februarrevolution in Russland eintrafen. Weiterführende Informationen über Pjatakows Tätigkeit als Funktionär in der Ukraine von 1917 bis zur Ablösung durch Christian Rakowski im Januar 1919 als Vorsitzender der Provisorischen Arbeiter- und Bauernregierung der Ukraine, finden sich auch in der Skrypnik-Biografie. Skrypnik kehrte 1918 aus Petrograd in die Ukraine zurück. Vieles, wofür er als vom Zentralexekutivkomitee eingesetzter Regierungschef, Vorsitzender der Tscheka und Sekretär für auswärtige Angelegenheiten zuständig war, war Neuland. Kein Wunder, dass auch Konflikte mit den russischen Genossen, die andere Auffassungen (so in der Frage des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen) vertraten, nicht ausblieben.
Nach der Besetzung der Ukraine durch deutsche und österreichisch-ungarische Truppen im April 1918 hatte Pjatakow den Widerstandskampf organisiert. Seine linkskommunistischen Losungen, die mit den Protestaktionen der Bauern gegen die Besatzung korrespondierten, erfuhren eine Aufwertung, was in Moskau mit Argwohn zur Kenntnis genommen wurde. Der Streit zwischen rechten und linken Bolschewiki, in der Ukraine nahm zu. Skrypnik gehörte in dieser Auseinandersetzung zu den Kritikern Pjatakows.
Bucharins Angebot der Mitarbeit an programmatischen Publikationen und Lehrbüchern schlug Pjatakow aus, es blieb bei einem Kapitel „über die politökonomischen Kategorien des Kapitalismus in der Übergangsperiode“. Eine vergleichbare Absage hatte Bucharin bereits von Preobrashenski erhalten, mit dem zusammen er am „ABC des Marxismus“ gearbeitet hatte.
Es lohnt, diesem in der Literatur kaum beachteten Differenzierungsprozess im Spektrum der „linken“ Kommunisten weiter nachzugehen. In der Theorie standen sich „Rechte“ und „Linke“ sehr nahe, die Unterschiede sind in der Art und Weise der Leitung, im Festhalten bzw. der Absage an Methoden „kriegskommunistischen Administrierens“ festzumachen. Pjatakow und Bucharin hatte Lenin im „Brief an den Parteitag“ als die talentiertesten Theoretiker unter den Führungsmitgliedern der Kommunistischen Partei bezeichnet.
In seiner Funktion als stellvertretender Vorsitzender des Obersten Volkswirtschaftsrates setzte sich Pjatakow für Zentralisierung und Einführung der Fünfjahresplanung ein. Wie Trotzki und Preobrashenski propagierte er die Durchführung der „ursprünglichen sozialistischen Akkumulation“. Es ging um die aus dem Oktober 1917 zu ziehenden Lehren. Stalin reagierte umgehend.
Nach der Einsetzung von Walerian Kujbyschew als Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare wurde Pjatakow in diplomatischer Mission ins Ausland abgeschoben. Hier traf er auf Rakowski, der ihn in der Ukraine abgelöst hatte. Im Herbst 1928 konnte Pjatakow nach Moskau zurückkehren und zunächst als stellvertretender Vorsitzender der Staatsbank arbeiten. Er kletterte auf der Karriereleiter nach oben, arbeitete seit 1932 als Stellvertreter von Ordshonikidse im Volkskommissariat für Schwerindustrie.
Als Pjatakow begann, an den Leitungsmethoden, die er selber praktiziert und gerechtfertigt hatte, zu zweifeln (er hatte während der Beratungen in Stalins Kabinett oft genug die Gelegenheit dazu), ließ ihn der Generalsekretär fallen. Dem Prinzip der Sippenhaft folgend, verhafteten Mitarbeiter des NKWD die geschiedene Ehefrau und die Kinder aus erster Ehe. Ihre Spuren verlieren sich im Gulag.
Mit Blick auf Skrypnik untersucht Soldatenko, wie sich dessen Auffassungen über den roten Terror, die Demokratie und das Verhältnis der ukrainischen KP zur russischen Bruderpartei ändertne. Formal und nach außen propagiert, waren alle Kommunistischen Parteien gleichberechtigt. Lenin, der die Gefahr erkannt hatte, die an die Praktizierung dieser Gleichberechtigung gebunden war, hielt am Konzept der Partei neuen Typus fest, lehnte eine föderale Struktur ab und verlangte die Unterordnung der KPB(U) unter die KPR(B). Er beauftragte Skrypnik, diese Linie im Land durchzusetzen. Doch der konnte sich nicht gegen die „linken“ Kommunisten um Pjatakow, der zum Vorsitzenden der KP gewählt wurde, durchsetzen. In einer souveränen Ukraine musste eine souveräne KP existieren, lautete Skrypniks Forderung. Für die Regelung der Beziehungen zwischen den einzelnen Parteien sollte fortan die Kommunistische Internationale zuständig sein.
Valerij Soldatenko: Georgij Pjatakov. Opponent Lenina, sopernik Stalina. Moskva, Rosspen, 2017.
Valerij Soldatenko: Vysokoe stremlenie. Sudba Nikolaja Skrypnika. Moskva, Rosspen, 2018.
Schlagwörter: Georgi Pjatakow, Geschichtswissenschaft, Lenin, Nikolai Skrypnik, Russland, Stalin, Ukraine, Waleri Fjodorowitsch Soldatenko, Wladislaw Hedeler