von Waldemar Landsberger
Das Theater Magdeburg hatte für den 19. Januar 2017 zum Politischen Salon in das Schauspielhaus geladen. Das Thema hieß: „Falsch abgebogen? – Rechtsruck in Sachsen-Anhalt und Europa“. Auf dem Podium sitzen sollten Elisabeth Schweeger, Leiterin der Akademie Darstellende Kunst Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht von der CDU und der Verleger Götz Kubitschek. Der Verleger gilt als Vordenker der „Neuen Rechten“ und ist in Schnellroda in Sachsen-Anhalt wohnhaft. Zuerst protestierten die Grünen gegen die Veranstaltung, dann die Linkspartei und schließlich der SPD-Landesvorsitzende – eine solche Gesprächsrunde würde die Neue Rechte politisch aufwerten und stärken. So etwas zu verhindern, gilt als „Kampf gegen Rechts“.
Der Theatermann Bernd Stegemann, Professor an der Schauspielschule „Ernst Busch“, kommentierte das damals so: „Offenbar befürchtet man, die eigene Position nicht so behaupten zu können, dass man am Ende als Sieger vom Platz geht. Dadurch wird meines Erachtens ungewollt ein sehr beängstigendes Signal ausgesendet: Wir fühlen uns nicht mehr in der Lage, unsere politische Meinung öffentlich so potent zu vertreten, dass nicht Herr Kubitschek der Star des Abends ist, sondern die Verteidiger der offenen Gesellschaft.“ In einem späteren Interview setzte er hinzu: „Wir wissen aus der Weltgeschichte, dass Machtstrukturen, die sich unsicher fühlen, immer zu denselben Mitteln greifen. Je ängstlicher ein System ist, desto rigider ist es in seinen Sprechverboten. Umgekehrt gilt: Je sicherer sich ein Regime fühlt, desto liberaler geht es mit Meinungsdifferenzen um“ (Thomas Wagner: Die Angstmacher). Das ist augenscheinlich auch eine Beschreibung der Lage der derzeitigen Linken – im weitesten Sinne des Wortes – in Deutschland: Je aggressiver Sprachpolizisten das „falsche“, „politisch inkorrekte“ Sprechen zu verfolgen suchen, desto mehr entpuppt sich dies als Ausdruck argumentativer Schwäche.
Derzeit befinden wir uns in einer historischen Phase, da die AfD in den Wählerumfragen an der SPD vorbeizieht. Anfang September hatte das Umfrage-Institut INSA aus Erfurt dies erstmals gemessen – das wird jedoch gern als rechter Außenseiter in der Umfrage-Industrie denunziert, obwohl es seit Jahren die zu erwartenden Wahlergebnisse der AfD am genauesten prognostiziert hat. Ende September sahen auch drei andere Institute – Infratest dimap (ARD-Deutschlandtrend), Emnid und GMS – die SPD auf dem dritten Platz, hinter einer ebenfalls absinkenden Christdemokratie und der scheinbar unaufhaltsam aufsteigenden AfD. Rot-Rot-Grün käme zusammen auf 41 oder 42 Prozent, während CDU/CSU, FDP und AfD zusammengerechnet mindestens 55 Prozent erreichen. Eine linke Mehrheit im Sinne von Rot-Rot-Grün liegt jenseits der derzeitigen Realitäten.
Hauptverlierer ist die SPD; sie kam bei der Schröderwahl 1998 allein auf fast 41 Prozent. Dabei ist zugleich die Frage, ob die Grünen überhaupt (noch) als eine linke Partei anzusehen sind, oder nicht ebenfalls zum bürgerlichen Lager gehören. Von der FDP unterscheiden sie sich wahrscheinlich nur noch durch einen höheren Anteil an Veganern und Radfahrern, während bei der FDP die Zahl der Porsche-Fahrer höher liegen dürfte. Einen deutlicheren Unterschied gibt es momentan wahrscheinlich in der Flüchtlingsfrage: die Grünen sind die Protagonisten der Willkommenskultur und weit geöffneter Grenzen, während die FDP Merkels Grenzöffnung wegen fehlender rechtsstaatlicher Grundlage kritisierte.
Gleichwohl stellt die Bewegung „Aufstehen“ den Versuch dar, die drei Parteien, SPD, Linke und Grüne, in einen intensiveren Diskussionszusammenhang zu bringen und eine idealtypisch gedachte gesellschaftliche Gesamtlinke wieder hegemoniefähig und damit regierungsfähig zu machen. Zu den Erstunterzeichnern gehören die früheren oder noch Sozialdemokraten Albrecht Müller (1972 Wahlkampfchef Willi Brandts, heute Herausgeber der Nachdenkseiten), Heiner Flassbeck (früher Staatssekretär im Finanzministerium), Christoph Zöpel (ehemals Staatsminister im Auswärtigen Amt), Rudolf Dressler, der Bundestagsabgeordnete Marco Bülow und Professor Peter Brandt; von der Linken neben Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine die Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen und Fabio De Masi, die frühere Bundestagsabgeordnete Luc Jochimsen, Parteivorstandsmitglied Harri Grünberg sowie die Professoren Michael Brie und Dieter Klein; von den Grünen immerhin die erste Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer und der frühere Parteivorsitzende Ludger Volmer. Bemerkenswert auch die Liste der sich beteiligenden Intellektuellen, die sich nicht vordergründig einer Partei zuordnen lassen: der oben zitierte Theatermann Bernd Stegemann, Wolfgang Engler, bis vor kurzem Rektor der Schauspielschule „Ernst Busch“ und bekannter Beobachter der ostdeutschen geistigen Szenerie, die Schriftsteller Daniela Dahn, Christoph Hein und Eugen Ruge, der Theologe Eugen Drewermann, die Professoren Franz Segbers und Wolfgang Streeck, die Sängerin Nina Hagen. Damit ist die Liste nicht erschöpft.
Der frühere Rektor der Universität Leipzig, Professor Cornelius Weiss (SPD), schrieb in seiner persönlichen Erklärung über die Gründe seines Engagements, er sage „Nein zum ungezügelten Marktfundamentalismus“, zum Sozialabbau, zur Aushöhlung der Demokratie, aber auch „zu einer von falschem Sendungsbewusstsein getragenen geschichtsvergessenen und arroganten Außenpolitik“, und betonte: „Es bedarf daher einer starken linken Bürgerbewegung, um endlich einen dringend notwendigen Politikwechsel in unserem Lande herbeizuführen und zugleich die akut drohende Ausbreitung rechtsextremer Ideologien zu verhindern.“
Peter Brandt, bis zur Emeritierung Geschichtsprofessor an der FernUniversität Hagen, Mitglied des Vorstands der Friedrich-Ebert-Stiftung, schrieb bereits im August 2018 einen längeren Artikel, in dem er eine solche Sammlungsbewegung begründete. Er argumentierte zunächst aus Sicht der SPD: „So wie die Dinge liegen ist ein Ausweg für die SPD schwer zu erkennen, zumal die angekündigte ‚Erneuerung‘ hauptsächlich auf ein ‚moderneres‘ Erscheinungsbild, verstärkte digitale Präsentation und Diskussion hinauszulaufen scheint.“ Eine linke Sammlungsbewegung ist nach Brandt attraktiv: „Es geht darum, die bestehenden Formationen, die aus sich selbst heraus den Weg zur Masse des Volkes nicht oder nicht mehr finden, zu beeinflussen und zu mobilisieren. […] Die vorgeschlagene Sammlungsbewegung wäre keine neue Partei und hätte auch nicht das Ziel, eine solche zu werden. Sie wäre ein Personenzusammenschluss, der die Mitgliedschaft und Mitarbeit in Parteien und anderen Vereinigungen nicht nur nicht ausschließen, sondern sogar fördern sollte.“
Da hätte man doch erwarten sollen, dass alle, denen eine linke Hegemoniefähigkeit im Lande am Herzen liegt, das Projekt „Aufstehen“, das sich zunächst mit dem Namen Sahra Wagenknecht verbindet, aus vollem Herzen unterstützen. Tatsächlich ist – wie Heinz Jakubowski im vorigen Blättchen anprangerte – das Gegenteil der Fall. Einflussreiche SPD-Politiker erklärten das Projekt zunächst zu einem erneuten, besonders arglistigen Versuch der Linkspartei, der SPD zu schaden. Angesichts der Zahl und der Namen der SPD-Unterstützer lässt sich das nicht auf Dauer durchhalten. Die Grünen-Vorsitzenden lehnten das Projekt ebenfalls schon frühzeitig ab; sie wollen sich ein erneuertes Liebäugeln mit den Christdemokraten und eine künftige „Jamaika“-Konstellation nicht verbauen und die Grünen nicht in eine Gesamtlinke einordnen lassen.
Und die Führung der Linkspartei? Sollte sie nicht froh sein, dass die Fraktionsvorsitzende eine Initiative entwickelt, die über die Partei hinausreicht? Zunächst wirkt wieder ein Anti-Lafontaine-Reflex (wie auch in der SPD): man brauchte ihn für die Neuetablierung der Linken durch die Bundestagswahl 2005, wollte ihn dann aber wieder loswerden. Er galt als besonders links, dann als „Stalinist“, nach kritischen Äußerungen zu den Folgen von Merkels Flüchtlingspolitik plötzlich als „rechts“ und seine Feinde aus dem sogenannten Reformer-Lager der PDS wähnten sich nun „links“ von ihm. Das übertrugen sie auf Sahra Wagenknecht, die mit Lafontaine verheiratet ist. Hinzu kommt das immer wieder aufflackernde Konkurrenzverhältnis der Parteivorsitzenden Katja Kipping zu Wagenknecht, hinter dem sich offenbar Persönliches und Strukturelles überlagern – liegt das innerparteiliche Machtzentrum im Parteivorstand oder in der Bundestagsfraktion? Ideologisch wird mit der Behauptung operiert, Wagenknecht und Lafontaine seien keine „Vorkämpfer gegen rechts“. Obwohl – siehe das Zitat von Weiss – die Wahrnehmung außerhalb von Linkspartei-Hinterzimmern genau das Gegenteil zeigt.
Reformerflügelmäßig wird im Intriganten-Stadl behauptet, der Wagenknecht’sche Zweck sei: Wie organisiere ich mir eine Bewegung von außen, um Druck auf meine Partei auszuüben? Das klandestine Ziel sei also nicht, neue gesellschaftliche Mehrheiten für eine andere Politik in diesem Lande zu gewinnen, sondern eine innerparteiliche Intrige. Organisationssoziologisch liefe das auf eine Spaltung der Partei hinaus; am Ende gäbe es dann zwei Zerfallsprodukte der Linkspartei, mit 4,9 oder 4,7 Prozent Wählerstimmenanteil – folglich Verlust von Fraktion und Abgeordnetengehältern. Das jedoch gelte es um jeden Preis zu verhindern. Politisch heißt dies, man bescheidet sich damit, in einer Zehn-Prozent-Kammer eingesperrt zu bleiben. Man führt die ganz andere Politik im Mund, verhindert aber, sie tatsächlich machen zu können.
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