von Wolfgang Schwarz
Frieden ist nicht alles,
aber ohne Frieden ist alles nichts.
Willy Brandt
Karsten Voigt hat Recht, wenn er – in der Kolumne „Fremde Federn“, FAZ vom 11. Mai, – konstatiert, dass allein „der Handel mit Polen […] umfangreicher als der mit Russland“ sei. 2017 rangierte Polen, dem Statistischen Bundesamt zufolge, unter den deutschen Außenhandelspartnern auf Rang sieben (über 100,5 Milliarden Euro Umsatz), Russland folgte erst auf Rang 13 (mit lediglich 57,3 Milliarden Euro).
Sicherheitspolitisch allerdings hat Karsten Voigt fundamental Unrecht, wenn er seine Feststellung als Beleg dafür nimmt, dass „Ostmitteleuropa […] wichtiger für uns als Russland [ist]“, wie es schon in der Überschrift seines Beitrages heißt.
Jeder – auch ungewollt ausbrechende – militärische Konflikt mit Moskau birgt, wie zu Zeiten des Kalten Krieges, das Risiko einer Eskalation auf die nukleare Ebene und damit eines allgemeinen atomaren Infernos in sich. Seit 2014 ist von der Möglichkeit eines solchen Konfliktes in der Politik, seitens führender Militärs sowie in den Medien auf beiden Seiten allenthalben wieder die Rede, und in den Grenzregionen zwischen der NATO und der Russischen Föderation ist – ebenfalls von beiden Seiten – seither einiges an militärischen Kapazitäten wieder neu in Stellung gebracht worden.
Vor diesem Hintergrund dürften unter anderem folgende Aspekte von größerer sicherheitspolitischer Relevanz als Außenhandelsumsätze sein:
Erstens – Russland ist, außer im Bereich der sogenannten NATO-Ostflanke, dem westlichen Bündnis bei konventionellen Streitkräften und im Hinblick auf sein rüstungsökonomisches Potenzial insgesamt so haushoch unterlegen, dass es in seiner Militärdoktrin darauf setzt, dieses Manko im schlimmsten Falle durch Rückgriff auf Kernwaffen auszugleichen. Präsident Putin hat das am 1. März in seiner Rede zur Lage der Nation nochmals in Erinnerung gerufen, als er erklärte, „dass Russland sich das Recht zum Kernwaffeneinsatz […] als Reaktion auf eine Aggression gegen uns mit konventionellen Waffen, die die Existenz des Staates selbst bedroht, vorbehält“.
Zweitens – Russland betrachtet US-Raketenabwehrsysteme in Polen (und in Rumänien) als potenzielle Gefährdung seiner nuklearen Vergeltungsfähigkeit (zu den Hintergründen siehe „Wofür Raketenabwehr da ist“, Blättchen 7/2014) und hat, westlichen Medienberichten zufolge, unter anderem mit der Verbringung atomar bestückbarer Raketen vom Typ Iskander-M mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern in die Exklave Kaliningrad reagiert.
Drittens – Das militärische Säbelrasseln und Fingerhakeln zwischen der NATO und Russland lässt nicht zuletzt befürchten, dass den Protagonisten einige fundamentale Essentials der jahrzehntelangen nuklearstrategischen Debatten in der Zeit des Kalten Krieges abhanden gekommen sein könnten. Etwa der Sachverhalt, dass im Hinblick auf Kernwaffen „niemand sagen kann, was geschehen wird, nachdem auch nur eine von ihnen […] eingesetzt worden ist. […] Niemand weiß, wie irgendein ‚begrenzter‘ Einsatz beantwortet werden würde.“ So der frühere US-Sicherheitsberater McGeorge Bundy 1983. Seit 1945 sind die beiden einzigen Fragen, die nach dem Ausbruch eines atomaren Konflikts, wenn überhaupt, noch von Relevanz wären, nie schlüssig beantwortet worden: Wie wäre nach einem atomaren Ersteinsatz die weitere nukleare Eskalation bis hin zur gegenseitigen Vernichtung mit hinreichender Sicherheit zu verhindern? Wie wäre ein Kernwaffenkrieg schnellstmöglich – vor der Schwelle eines allgemeinen nuklearen Desasters mit katastrophalen globalen Folgen – zu beenden?
Wenn die Führungseliten junger NATO-Staaten wie der baltischen oder Polens all dies aus welchen Gründen auch immer (noch?) nicht reflektieren und sich in der Rolle exponierter politischer und militärischer Hardliner gegenüber Moskau gefallen, dann ist das einerseits grotesk, da sie über einen eigenen Säbel, mit dem sie ernsthaft rasseln könnten, ja gar nicht verfügen, und entbehrt andererseits nicht einer tragischen Komponente. Sollte mit den von ihnen bevorzugten konfrontativen Mitteln ein militärischer Konflikt mit Russland nicht zu verhindern sein und nuklear eskalieren, dann gehörten diese Staaten zu den wahrscheinlichsten Nichtüberlebenden eines solchen Zusammenstoßes. Das wäre dann das Ergebnis „der kollektiven Verteidigung“, deren Rolle Karsten Voigt wachsen sieht.
Wer vor diesem Hintergrund schließlich meint, dass man angesichts der historischen Erfahrungen des Baltikums und Polens mit Russland doch gerade als Deutscher Verständnis für deren Befürchtungen gegenüber Moskau haben müsse, wie auch Karsten Voigt es gegenüber dem Autor nie versäumt zu betonen, der hat zwar nicht Unrecht, setzt sich aber gleichwohl, wenn er sich darauf beschränkt, dem Verdacht unterlassener Hilfeleistung aus: Er gleicht dem Arzt, der die wirksame Therapie – eines ernsthaften kooperativen Ansatzes gegenüber Russland, etwa in Gestalt einer an die heutigen Bedingungen adaptierten Wiederauflage der Neuen Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr – verweigert, weil die Medizin dem Patienten nicht schmeckt, und stattdessen gewünschte Placebos verabreicht, weil der Patient an die glaubt …
Karsten Voigt argumentiert im Übrigen auch gegen einen Rückgriff auf das Instrumentarium von Brandt und Bahr, „weil sich die politischen, wirtschaftlichen und geostrategischen Rahmenbedingungen gegenüber der ‚alten Ostpolitik‘ der sechziger, siebziger und achtziger Jahre grundlegend verändert“ hätten. Wenn er allerdings betont: „Zu Zeiten der ‚alten Ostpolitik‘ besaß die Sowjetunion den Schlüssel zur deutschen Einheit.“, dann springt eine Parallele doch geradezu ins Auge – Moskau besitzt immer noch einen Schlüssel, den es damals auch schon hatte, nämlich den zu einer europäischen Friedensordnung.
Die Möglichkeit zu deren Herstellung gemeinsam mit Russland auf der Basis der Charta von Paris von 1990 hat der Westen sträflich verstreichen lassen; noch Putins Rede vor dem Deutschen Bundestag 2001 hätte dafür als Auftakt genutzt werden können. Ohne oder gar gegen Russland wird eine solche Friedensordnung jedoch nicht zu haben sein, denn verweigern kann Moskau sie allemal.
Karsten Voigt seinerseits sieht denn auch „das Ziel einer stabilen europäischen Friedensordnung unter Einschluss Russlands […] in die weitere Ferne gerückt“. Dem ist leider nicht zu widersprechen. Zugleich jedoch vertritt er Auffassungen, die geeignet sind, seinem Befund Dauer zu verleihen.
Als Brandt und Bahr nach der gewonnenen Bundestagswahl von 1969 darangingen, ihr sechs Jahre zuvor von Bahr in der Evangelischen Akademie Tutzing auf die Formel „Wandel durch Annäherung“ gebrachte radikale Abkehr von der bis dahin westlicherseits vorherrschenden Konfrontation gegenüber der Sowjetunion im Gestalt der Neuen Ostpolitik umzusetzen, bestand eine conditio sine qua non für deren rasche erste Erfolge und alle späteren gerade darin, der anderen Seite – trotz Prag 1968 – ohne Vorbedingungen gegenüberzutreten. Und mit einer Erwartung oder gar Forderung, dass Moskau sich erst grundlegend ändern müsse, bevor man substanziell ins Gespräch kommen könne, hätte dieser Dialog mit einiger Sicherheit gar nicht erst begonnen werden können.
Genau diese historische Lehre ignoriert Karsten Voigt jedoch, wenn er ein Junktim wie das folgende aufmacht: „Für eine ‚neue Ostpolitik‘ wäre es wünschenswert, dass Russland seine Politik gegenüber den Konflikten in der Ostukraine so ändert, dass die westlichen Sanktionen aufgehoben werden und so langfristig die Perspektive einer engeren Zusammenarbeit mit Russland und auch der Eurasischen Union wieder in den Blick genommen werden“ könne.
Die blockierende Wirkung einer solchen Herangehensweise wird noch verstärkt, wenn sie mit Verletzungen von Grundsätzen der Schlussakte von Helsinki seitens Russland begründet wird, wie Karsten Voigt dies unter Verweis auf den Südkaukasus und die Krim tut („[…] Grenzen dürfen nicht mit Gewalt, sondern nur einvernehmlich und nur mit friedlichen Mitteln verändert werden.“), während zugleich mit Stillschweigen darüber hinweg gegangen wird, dass die Büchse der Pandora im Hinblick auf die Infragestellung der europäischen Friedensordnung durch völkerrechtswidrige militärische Gewaltanwendung und uneinvernehmliche Grenzänderung Jahre vor Russlands „Sündenfall“ durch die NATO geöffnet worden ist – gegen Serbien sowie in der Kosovo-Frage.
Wenn Karsten Voigt zugleich betont, dass ein „intensiver Dialog mit Moskau […] sinnvoll“ bleibe, weil für „Deutschland […] Russland das wichtigste europäische Land östlich der Grenzen von EU und Nato“, sei, so steht sein realpolitischer Beitrag, wie man diesen Dialog endlich wieder führen könnte, statt nur über ihn zu reden, jedenfalls noch aus.
Schlagwörter: Baltikum, Egon Bahr, Europa, Karsten Voigt, Ostpolitik, Polen, Russland, Willy Brandt, Wolfgang Schwarz