21. Jahrgang | Sonderausgabe | 30. April 2018

Marx in Frankfurt am Main

von Karsten D. Voigt

Mit dem Marxismus-Leninismus wurde ich das erste Mal im Alter von 16 Jahren konfrontiert. Längere Texte von Karl Marx begann ich erst fünf Jahre später zu lesen, zu analysieren und zu diskutieren.
Ende der 50er war ich Mitglied im Landesvorstand der evangelischen Jugend in Hamburg. Im Rahmen dieses Engagements machte ich mit 16 Jahren eine Ausbildung als ehrenamtlicher Jugendleiter. Zu dieser Ausbildung gehörte die Unterrichtung im Jugendrecht, in der Pädagogik, aber auch in grundlegenden Fragen der bundesdeutschen Rechts- und Verfassungsordnung. In diesem Kontext mussten wir zwei Broschüren durcharbeiten: Sie dienten der Auseinandersetzung mit dem historischen Materialismus und mit dem dialektischen Materialismus.
Diese Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus besaß aus der damaligen Sicht der evangelischen Jugend durchaus eine hohe Priorität: Ebenso wie die evangelische Kirche verstand sich die evangelische Jugend bis zum Mauerbau als eine gesamtdeutsche Organisation. Die evangelische Jugend in Hamburg trat nach 1961 sehr frühzeitig für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und die Anerkennung der DDR ein. Aber gleichzeitig solidarisierte sie sich mit der evangelischen Jugend und gegen deren Diskriminierung durch Partei und Staat in der DDR. Als ich 1960 – ein Jahr vor dem Bau der Mauer – als Hamburger Delegierter an dem letzten gesamtdeutschen Treffen der evangelischen Jugend in Berlin teilnahm, schmuggelten wir nachmittags Materialien für die ostdeutsche evangelische Jugend nach Ost-Berlin und gingen abends zu einer Aufführung der „Mutter Courage“ in das Brecht-Theater.
Anfang der 60er setzte ich mein Studium in Frankfurt fort. Ich wohnte in einem evangelischen Studentenwohnheim im Frankfurter Westend. Im Umkreis von wenigen hundert Metern befanden sich dort die Frankfurter Universität, das Institut für Sozialforschung als Zentrum der „Frankfurter Schule“ und der Bundesvorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Wie viele andere Studenten auch besuchte ich neben meinem Regel-Studium damals Vorlesungen von Theodor Adorno, dem damals noch jungen Jürgen Habermas und dem Marxismus-Forscher Iring Fetscher.
Im Studentenwohnheim traf ich mich drei Jahre lang einmal wöchentlich abends zur gemeinsamen Lektüre von Kant, Hegel, Marx und auch Hölderlin. Die Lektüre der Schriften von Karl Marx war damals unter linken Studenten in Frankfurt keineswegs ungewöhnlich. Ungewöhnlich war eher ein spezifischer Aspekt, unter dem wir drei Studenten – ein künftiger Professor der Theologie, ein künftiger Lehrer der Philosophie an der Münchener Universität und ein damals schon aktiver Jungsozialist – sich mit den Texten von Marx befassten: Wir diskutierten, inwieweit die Abfolge einer klassenlosen Urgesellschaft, einer von Widersprüchen geprägten Klassengesellschaft, einer erfolgreichen Revolution einerseits und einer darauf folgenden kommunistischen Gesellschaft andererseits jüdische und christliche Denkkategorien widerspiegelten. Diese marxistische Abfolge erinnerte uns an die in der Bibel beschriebene Abfolge von Paradies, Sündenfall, der christlichen Endzeit-Hoffnung und dem künftigen Reich Gottes. Revolution und jüngstes Gericht waren für uns gleichermaßen Ausdruck von messianischem und eschatologischem Denken. Von dieser Art der Kritik an Marx war es nur noch ein kleiner Schritt zu reformistischen Vorstellungen.
Ich habe durch die Lektüre von Marx-Schriften außerordentlich viel gelernt. Man kann auch heute noch viel durch das Studium seiner Schriften lernen. Karl Marx war ein hervorragender Philosoph. Aber er war kein Prophet. Für mich war er nie in dem Sinne ein Lehrmeister, als dass ich nicht von seinen Schriften und Vorstellungen hätte abweichen mögen.
In Frankfurt wurde 1968 das Institut für Marxistische Studien und Forschungen gegründet. Es arbeitete eng mit der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED zusammen, wurde von der DDR finanziert und deshalb konsequenterweise auch 1989 aufgelöst. Das Institut gab die Zeitschrift Marxistische Blätter heraus. Einer der führenden Mitarbeiter des Instituts war Robert Steigerwald. Mit ihm habe ich mehrfach öffentlich diskutiert. Aber ich empfand seine Thesen als dogmatisch und deshalb letztlich auch als intellektuell uninteressant. Als etwas offener, jedoch letztlich auch als dogmatisch, habe ich Wolfgang Abendroth wahrgenommen. Er lehrte als bekennender Marxist an der Universität in Marburg und wohnte in Frankfurt bei mir um die Ecke. Seine Frau war Mitglied im gleichen SPD-Ortsverein wie ich.
In Frankfurt lebten damals noch viele Genossinnen und Genossen, die während der Weimarer Zeit oder sogar noch während der Kaiserzeit Mitglieder von kommunistischen und linkssozialistischen Organisationen gewesen waren: Im gleichen Stadtteil wie ich lebte Rosi Fröhlich, eine enge Freundin Rosa Luxemburgs, Mitbegründerin der KPD, später aktiv in der SAP und nach dem Zweiten Weltkrieg in der SPD. Als ich als Bundesvorsitzender der Jungsozialisten zum ersten Male in die DDR fuhr, warnte sie mich vor der SED. Einer meiner Unterstützer im SPD-Ortsverein war damals Karl Retzlaff. Als Mitglied des Spartakusbundes hatte er sich an der Seite Karl Liebknechts an der Novemberrevolution beteiligt. 1919 wurde er in der Münchener Räterepublik Kommissar für das Polizeiwesen, also Polizeipräsident. Er blieb seinen revolutionären Überzeugungen bis zu seinem Tode treu, war aber ein Kritiker von SED und DKP.
Was will ich mit diesen Beispielen verdeutlichen? Seitdem ich mich mit Karl Marx beschäftigt habe, gab es in meiner intellektuellen und politischen Umgebung nie nur eine Auslegung der Schriften von Marx. Es unterschieden sich auch die politischen Schlussfolgerungen, die man aus der Lektüre seiner Schriften zog. Und es galt als durchaus legitim, seine Meinung zu ändern: Es gab also keine Abweichler, denn wir alle waren Abweichler. Und diejenigen, die das Prinzip des Abweichens nicht akzeptierten, waren für uns Dogmatiker. Wir diskutierten mit ihnen. Aber sie waren für uns kein Vorbild.
Ab Mitte der 60er Jahre wurde ich Mitglied in der Redaktion einer kleinen sozialistischen Monatszeitschrift, express international. Sie war auf Initiative linker Gewerkschafter, linker Sozialdemokraten, Intellektueller und einiger Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) entstanden. Ich war in der Redaktion für die Berichterstattung über sozialistische und reformkommunistische Diskussionen und Bewegungen in Europa zuständig. Die meisten dieser Bewegungen und Parteien beriefen sich auf Karl Marx und seine Schriften. Aber ihre Schlussfolgerungen waren unterschiedlich und zum Teil unvereinbar. Spricht das gegen Marx? Nein! Spricht es gegen seine intellektuellen und politischen Schüler? Auch nicht.
Als ich nach 1970 immer häufiger in die DDR fuhr, suchte ich das Gespräch mit den verschiedenen außen- und gesellschaftspolitischen Instituten dort: dem Institut für Internationale Politik und Wirtschaft (IPW), der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, der Parteihochschule der SED, dem Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED und dem Institut für internationale Beziehungen. In diesen Instituten gab es nicht den Meinungspluralismus, den ich aus der Bundesrepublik gewohnt war. Aber insbesondere in den 80er Jahren entdeckte ich zunehmend unterschiedliche Analysen, Einschätzungen und Schlussfolgerungen. Ich erkannte keinen wirklichen Meinungspluralismus. Es gab keine allseits akzeptierte Form des „Abweichens“. Aber es bestand auch nicht nur Konformität. Aufgrund dieser Erfahrungen habe ich 1989/90 den potenziellen Pluralismus in der SED als größer eingeschätzt als viele meiner politischen Freunde.
Meine Diskussionen in der DDR unterschieden sich auch von denen in anderen Staaten Ost- und Ost-Mittel-Europas: In der DDR konnte man über sozialistische und kommunistische Theorien, wie die von Karl Marx, diskutieren. In anderen Staaten, wie etwa in Polen und Ungarn, war das so gut wie unmöglich, weil auch aktive Mitglieder der jeweiligen kommunistischen Parteien und der parteinahen Institute sich für derartige Diskussionen kaum interessierten und nur geringe Kenntnisse besaßen. Der „Ostblock“ war in dieser Hinsicht kein wirklicher Block. Diese Unterschiede wurden nach 1989/90 schnell offensichtlich. Und auch heute: Es ist zwar das Ergebnis einer chinesischen Initiative, aber wenn in diesem Jubiläumsjahr in Trier ein großes Marx-Denkmal aufgestellt wird, symbolisiert das zugleich, dass das vereinigte Deutschland mit diesem Erbe anders umgeht als die meisten anderen europäischen Staaten.