21. Jahrgang | Nummer 5 | 26. Februar 2018

„Wohin geht die NATO?“ Und ein paar Fragen mehr

von Wolfgang Schwarz

Reminiszens – Im Jahre 2011, also deutlich vor der akuten Zuspitzung im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland, blickte Ulrich Weisser, Vizeadmiral a.D. und von 1992 bis 1998 Leiter des Planungsstabs im Bundesministerium der Verteidigung, zurück: „Russland hat seine Erwartungen an die NATO seit 1994 im Prinzip nicht verändert und dabei stets deutlich gemacht, worauf es Moskau ankommt: auf die Entwicklung eines bilateralen Verhältnisses besonderer Qualität; die Teilnahme Russlands am Meinungsbildungsprozess der Allianz, wenn es um Fragen europäischer Sicherheit oder um globale Aspekte geht; und um die Beteiligung Russlands an der Lösung europäischer Sicherheitsprobleme.
Die NATO hat damals abschlägig reagiert – dies mit einer Haltung, die sich bis heute nicht grundlegend geändert hat. Das Bündnis definierte schon 1994 seine Position nicht durch konstruktives Entgegenkommen, sondern über ‚Five No’s‘: kein russisches Veto-Recht in Allianz-Angelegenheiten (No Veto); keine Mitentscheidung (No Codecision); kein überwölbender Herrschaftsanspruch von NATO und Russland (No Condominium); keine Regelungen zu Lasten Mittelosteuropas (No New Yalta); keine Zustimmung zu russischen Interessenssphären in unmittelbarer Nachbarschaft (No Near Abroad). Eine strategische Partnerschaft mit Russland konnte aus dieser Haltung heraus schwerlich Innovationsimpulse erhalten.“

Helmut W. Ganser, Wulf Lapins und Detfef Puhl haben ihr dieser Tage von der Friedrich-Ebert-Stiftung publiziertes Strategiepapier zu zwei höchst aktuellen Fragen verfasst: „Was bleibt vom Westen?“ und „Wohin geht die NATO?“. Da die 21 Seiten jedermann jederzeit zugänglich sind – zum Volltext an dieser Stelle klicken –, muss der Inhalt hier nicht im Einzelnen referiert werden.
Allerdings geben die Überlegungen und Antworten der Autoren Anlass zu einer Reihe weiterer Fragen. Auf einige davon, die das Verhältnis des Westens zu Russland betreffen, soll im Folgenden eingegangen werden.
Recht zu geben ist den Autoren, dass angesichts des erneut vorwiegend von Spannungen und Konfrontation geprägten Verhältnisses zwischen dem Westen und Russland die „Charta von Paris“ über „Ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit“ vom November 1990 „heute wie aus der Zeit gefallen“ scheint, und dass, wer „dennoch ihre Einhaltung als unabdingbar für einen Neustart der Beziehungen einfordert, […] infolge der Intensität und Tiefe des Zerwürfnisses […] auf absehbare Zeit scheitern“ wird. Vielmehr, und auch diesem Ansatz wird hier ausdrücklich zugestimmt, müsse im „Rahmen vieler kleiner erster Schritte […] versucht werden, sich erst einmal wieder auf Sicherheitsprinzipien wie friedliche Streitbeilegung, Vertrauens- und Sicherheitsbildung, gesamteuropäische Verantwortung sowie Abrüstung zu verständigen“.
Ob sich ein solcher Ansatz jedoch nicht von vornherein selbst zur Erfolglosigkeit verurteilt, wenn ihm eine rein westliche Sicht auf Vorgeschichte und Ursachen der aktuellen Misere zugrundliegt? Die Frage drängt sich wegen des Ausgangspunktes der Autoren auf: „Nach der Krim-Annexion durch Russland und Moskaus kontinuierlicher militärischer Unterstützung der prorussischen Milizen in den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk in der Ostukraine sowie seinem direkten militärischen Eingreifen im syrischen Bürgerkrieg zur Unterstützung des Assad-Regimes, verharren NATO und Russland in stagnierender Konfrontation.“
Gab es also vor 2014 keine Zäsuren in und um Europa, über die Moskau sich zu Recht Sorgen gemacht hätte oder durch die Russland eigene sicherheitspolitische Interessen hätte gefährdet sehen dürfen? Etwa nicht durch die Bombardierung Serbiens und die Lostrennung des Kosovo (ganz ohne Referendum)? Nicht durch fortgesetzte EU- und NATO-Osterweiterungen, ohne Russland in vergleichbarer Weise an diesen Umgestaltungen im gemeinsamen Haus Europa zu beteiligen? Nicht durch das Washingtoner und Brüsseler Spiel mit gezinkten Karten in Sachen Raketenabwehr? Nicht durch den völkerrechtswidrigen Überfall der USA und ihrer Koalition der Willigen auf den Irak und später durch die Zerstörung des libyschen Staates unter Missbrauch eines UN-Mandats?
2007 hatte der russische Präsident Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Probleme aus russischer Sicht unmissverständlich benannt, aber die Reaktion im Westen beschränkte sich im Wesentlichen darauf, sich über Putins Tonlage zu echauffieren und seine Warnung im Übrigen in den Wind zu schlagen: Im April 2008 verbriefte der NATO-Gipfel in Bukarest in seinem Abschlusskommuniqué der Ukraine und Georgien expressis verbis die Beitrittsperspektive („We agreed today that these countries will become members of NATO.“). Wenige Monate später brach Tiflis – wohl in Erwartung handfester Rückendeckung mindestens seitens der USA – einen Krieg vom Zaune, dessen Auslösung im Westen seither üblicherweise Putin in die Schuhe geschoben wird … Und schließlich vereinbarte die EU mit der Ukraine ein Assoziierungsabkommen, nachdem der damalige Präsident der Europäischen Kommission, Barroso, Kiew zuvor ultimativ vor die Wahl EU oder Russland gestellt hatte. Als der ukrainische Präsident Janukowitsch die Unterschrift verweigerte, wurde er durch den Euromaidan weggeputscht. Moskau mutmaßte, dass dabei die USA die Hände im Spiel hatten – was unter anderem ein abgehörtes Telefonat der seinerzeit für Europa und Eurasien zuständigen US-Staatssekretärin im State Department, Victoria Nuland, vom 28. Januar 2014 mit dem amerikanischen Botschafter in Kiew nahelegte, in dem von fünf Milliarden Dollar US-Geldern für Kiew die Rede war –, und sah eine rote Linie überschritten.
Ist, wer mit seiner Sicht auf die Dinge erst an dieser Stelle einsetzt, fair im Sinne von audiatur et altera pars und darf erwarten, von Moskau ernst genommen zu werden?

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Als ein Gremium, in dem Fortschritte im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland erzielbar sein könnten, nehmen Ganser, Lapins und Puhl den NATO-Russland-Rat ins Visier, der 2008 „als vertrauensbildende, sicherheitspolitische Dialogplattform“ etabliert worden sei.
Im Rückblick erscheint eine so positive Apostrophierung zumindest zweifelhaft. Denn von Anfang an war NATO-intern dem Ansinnen einiger neuer Mitgliedstaaten stattgegeben worden, im Rat keine Fragen zur Debatte zuzulassen, über die nicht zwischen den NATO-Staaten selbst völlige Einigkeit bestünde. Damit glich der Rat von Anfang an eher einem Placebo zur Ruhigstellung Russlands angesichts fortgesetzter Ostexpansion der NATO denn einem Konstrukt zur Förderung gleichberechtigter Kooperation und Partnerschaft.
Vor einem solchen Hintergrund erscheint allerdings bereits die erste Suspendierung des Rates durch die NATO durchaus folgerichtig: nämlich nach Ausbruch Georgien-Konflikts im Jahre 2008, obwohl dieser von Tiflis ausgelöst worden war – also in einer Situation, in der es intakter gegenseitiger Kontaktkanäle besonders bedurft hätte.
Zwar ist Gander, Lapins und Puhl ein weiteres Mal zuzustimmen, wenn sie schreiben: „Notwendig wären jetzt Anstrengungen auf beiden Seiten, die Kontroversen im Rat konstruktiv zu gestalten. Langfristig müssten auch die Militärdoktrinen und -strategien, Bedrohungsdeutungen sowie Rüstungssteuerungen auf die Dialogagenda gesetzt werden.“ Aber wer innerhalb der NATO sollte dies, und schon gar mit Aussicht auf Erfolg, in Angriff nehmen, solange die USA, Großbritannien, Polen und die baltischen Staaten auf Gegenkurs sind – also jene Kräfte, auf die im Übrigen auch die Autoren verweisen, „im Bündnis Oberwasser“ haben, „die ablehnend gegenüber diesem sicherheitspolitischen Forum eingestellt sind und nicht unerheblich zur Härte in den Konsultationen beigetragen haben“?

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Des Weiteren widmen sich Ganser, Lapins und Puhl ausführlich der Lage an der NATO-Ostflanke, wo „Russland […] umfangreich und ambitiös seine Streitkräfte“ modernisiert habe. „Insbesondere in den baltischen Staaten und in Polen sind sich Politik und Gesellschaft mehrheitlich einig in der Besorgnis über die militärische Stärke Russlands. […] In Tallinn, Riga und Vilnius stehen darum nicht überraschend Szenarien einer potenziellen russischen Intervention im Zentrum der Bedrohungsanalysen […] Die litauische Regierung blickt […] mit Sorge auf die militärischen Fähigkeiten Russlands zur Durchführung möglicher Kampfhandlungen gegen die baltischen Staaten mit nur 24 bis 48 Stunden Vorwarnzeit sowie deren weiterentwickelte Anti-Access/Area Denial-(A2/AD)-Kapazitäten (zur Verwehrung des Zugangs alliierter Verteidigungskräfte) im sogenannten Suwalki-Gap.“
Zugleich heben die Autoren hervor: „In den Bedrohungsanalysen der Bündnisstaaten in direkter oder mittelbarer Nachbarschaft zu Russland wird oft die Frage ausgeblendet, welchen Nutzen ein militärischer Angriff Russlands, der ja die Beistandspflicht nach Artikel 5 (des NATO-Vertrages – W.S.) auslösen würde, haben könnte oder welche Motive solch einer Aktion zugrunde liegen könnten. Dieses strikt vermeiden zu wollen, muss dem Kreml wie dem Generalstab unterstellt werden, wissen sie doch um die Doktrin der NATO-Abschreckung und die beiderseitigen Nukleararsenale […].“ Bestätigt werden die Autoren in ihrer Einschätzung durch eine sehr detaillierte Analyse über „Die Sicherheitspolitik der Russischen Föderation und die Neuorientierung ihrer Streitkräfte“ von Siegfried Lautsch in der Januar-Ausgabe der Österreichischen Militärischen Zeitschrift. Lautschs Fazit: „Die Vielfalt der Fähigkeiten der russischen Streitkräfte, ihre Waffensysteme, ihre Ausbildung und ihr[en] Ausbildungsstand mit einer Bedrohung der NATO in Verbindung zu bringen, zeugt von interessengelenkter Einschätzung bestimmter westlicher Kreise in der Politik, Wirtschaft und im Militär.“
Bekanntlich fordern die baltischen Staaten und Polen trotzdem regelmäßig weitere militärische Verstärkungen der NATO auf ihrem Territorium – über die bereits realisierten hinaus –, um die Russen besser abzuschrecken und um für den Fall des Falles die Fähigkeit zur Landesverteidigung zu erhöhen.
Diese Fähigkeit hatte ich insbesondere für das Baltikum – mit Blick auf dessen praktisch nicht vorhandene strategische Tiefe sowie wegen der zu erwartenden Wirkungen heutiger konventioneller und atomarer Kampfmittel – in der vorangegangenen Blättchen-Ausgabe grundsätzlich infrage gestellt und dabei auf westdeutsche Untersuchungsergebnisse (ohne allerdings einer schematischen Übertragung auf die NATO-Ostflanke das Wort zu reden) verwiesen, die unter dem Titel „Kriegsfolgen und Kriegsverhütung“ 1981 veröffentlicht worden waren.
Dazu gab es zwischenzeitlich per Leser-Mail einen Einspruch von Charlotte D. aus Herne: Meine „alternativlos herausgestellte Dramatik“, dass es, so meine These, für „die sicherheitspolitischen Probleme der baltischen Republiken und Polens im Verhältnis zu Russland […] nur die Alternative einer politischen Lösung […] oder einer fortdauernden vernichtungsträchtigen Konfrontation [gibt]; wie zwischen Ost und West auf deutschem Boden während des Kalten Krieges“, sei „unhistorisch“. Begründung: „In Polen und den Baltischen Staaten sind keine Nuklearwaffen wie damals in der Bundesrepublik und der DDR existent und werden dort auch nicht disloziert werden, auch die konventionellen Kapazitäten in den neuen Mitgliedsländern der Allianz sind im Vergleich zum Ost-West-Konflikt mehr als minimal. Ein analoger Aufwuchs ist kein realistisches Szenario.“
Das ist einerseits völlig zutreffend. Andererseits hatte ich aber einen gänzlich anderen Punkt im Auge und hätte mich wohl klarer ausdrücken sollen: Ein raumgreifender Verteidigungskrieg wäre heute für die baltischen Staaten als funktionsfähige Gesellschaften ebenso wenig überlebbar, wie es ein militärischer Zusammenstoß zwischen NATO und Organisation des Warschauer Vertrages auf deutschem Boden seinerzeit für die Bundesrepublik und die DDR gewesen wäre. Nicht zuletzt, weil der Westen in einem sich ausweitenden militärischen Konflikt an der NATO-Ostflanke auch heute wieder vor der Wahl stände, sich von einer (regional) konventionell überlegenen Streitmacht überrennen zu lassen oder diese durch Einsatz von Kernwaffen aufzuhalten. Das war bekanntlich das zentraleuropäische Standard-Szenario des Nordatlantikpaktes bis 1990.
Ist eine Analogie zum Untersuchungsfazit von „Kriegsfolgen und Kriegsverhütung“ da tatsächlich zu weit hergeholt, wenn diese Analogie folgendermaßen formuliert würde?
Erstens – das Baltikum ist mit konventionellen Waffen nicht zu verteidigen.
Zweitens – der Einsatz nuklearer Waffen zum Zwecke der Verteidigung würde zur nuklearen Selbstvernichtung führen.
An den diesen Gegebenheiten zugrundeliegenden Sachverhalten lässt sich im Übrigen auch mit verstärkter NATO-Manövertätigkeit an der Ostflanke nichts Grundsätzliches ändern. Wenn sich also die Bundeswehr, wie gerade aus einer Aufstellung des Verteidigungsministeriums hervorging, 2018 mit dreimal so vielen Soldaten – 12.000 sollen es werden – an Militärmanövern im östlichen und nördlichen Bündnisgebiet der NATO beteiligen wird, „zur Abschreckung Russlands“, wie die Berliner Zeitung schrieb, dann ist das, mit Verlaub, militärhandwerklicher Mummenschanz, dessen sicherheitspolitische Substanz das Level eines Karnevalumzuges schwerlich übertreffen dürfte. (Die dafür angesetzten rund 90 Millionen Euro könnte man auch direkt zum Fenster hinauswerfen.)
Ich bleibe dabei: Für die ihre nationale Sicherheit betreffenden Probleme der baltischen Republiken und Polens im Verhältnis zu Russland gibt es nur eine politische Lösung. Anderenfalls droht ihnen im Falle des Falles eine (unter Umständen finale) militärische Katastrophe.
Leider begannen Teile der Funktions- und der Herrschaftseliten sowohl in der alten Bundesrepublik, als auch in der DDR und in anderen Warschauer Vertragsstaaten erst Anfang der 1980er Jahre, das sicherheitspolitische Dilemma, dass raumgreifende Landesverteidigung zur Vernichtung all dessen führen würde, was verteidigt werden sollte, richtig, also handlungsleitend zu verstehen. Nach vergeudeten Jahrzehnten des Kalten Krieges und des Balancierens am Rande des Abgrunds …