20. Jahrgang | Nummer 24 | 20. November 2017

Bemerkungen

Berliner Notizen – Poesie, Porno und die SPD

Berlin wird derzeit erschüttert. Nicht durch Erdbeben, dagegen ist die Stadt einigermaßen gefeit. Der Kampf gegen den Sexismus wühlt Berlin auf. Nachdem es nicht gelungen ist, die Damen „von’s Jewerbe“ aus der City zu vertreiben, und immer noch einzelne männliche (?) Gestalten mit hochgeschlagenem Mantelkragen und in die Stirn gezogenen Hüten zur „Venus“-Messe am Funkturm hasten, hat dieser Kampf jetzt endlich den östlichen Stadtraum erreicht. Eigentlich nur die in Hellersdorf ansässige Alice-Salomon-Fachhochschule und einige lokale Zeitungen. Aber das reicht.
Stein des Anstoßes ist ein an die Giebelwand der Hochschule gepinseltes und von ihr selbst einmal preisgekröntes Gedicht des bolivianischen Poeten Eugen Gomringer. Gomringer krönt in minimalistischer Sprache die Aufzählung von „Alleen und Blumen und Frauen und“ durch das Hinzufügen des Schlussverses „ein Bewunderer“. Das geht entschieden zu weit! Das ist, so die wachen Studierenden, ganz furchtbar frauenfeindliches Zeug: „Dieses Gedicht reproduziert nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren, es erinnert zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen alltäglich ausgesetzt sind.“ Dass Thomas Wohlfahrt, Chef des Berliner Hauses für Poesie, auf einer Diskussionsveranstaltung – die natürlich keine war, er hatte da etwas missverstanden – versuchte darauf hinzuweisen, dass es sich hier um ein Gedicht, also um Posie, um Kunst handele, erwies sich als fruchtloses Unterfangen. Wohlfahrt kennt Francisco Goyas Blattfolge „Los Caprichos“: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Sein Irrtum war, hinter den Mauern eines Hauses, an dem das Wort „Hochschule“ angeschrieben steht, Vernunft zu vermuten.
Viel souveräner als die Hellersdorfer Sittenkrieger zeigen sich dagegen die Berliner Jusos. Zum aktuellen SPD-Landesparteitag legten sie den Antrag „60/II/2017 ‚Dirty Diaries‘ auch in Deutschland!“ vor. Der fordert, dass künftig mit öffentlichen Mitteln feministische Porno-Filme produziert und über die Mediatheken von ARD und ZDF kostenlos und mit herabgesetzter Alterseinstufung frei zugänglich gemacht werden. Schließlich sei das eine wichtige Ergänzung der außerschulischen Bildungsarbeit. So haben wir das auch noch nicht gesehen. Offenbar wussten aber die Genossen so richtig nicht mit dem Antrag umzugehen. Sie verwiesen ihn an den Arbeitskreis Kulturpolitik der Partei. Die Jusos haben allerdings eines vergessen zu beantragen: Den strikten Ausschluss solcher Sudelpoeten wie den genannten Herrn Gomringer von der Drehbuchproduktion! Aber vor der Schlussabstimmung kann man das sicher ergänzen.
Die Hellersdorfer Hochschule dagegen sollte mehrere Exemplare von Umberto Ecos „Geschichte der Hässlichkeit“ für ihre Bibliothek einkaufen. Da kommen auch Frauen drin vor (mit Abbildungen!), die nicht nur auf „schöne Musen“ reduziert werden und mitnichten zu „kreativen Taten inspirieren“. Blöd ist nur, dass das Buch von einem Mann geschrieben wurde. Ändern lässt sich das nicht mehr. Eco starb 2016.

Wolfgang Brauer 

Über Glauben und Zweifel

Zweifle nicht an dem, der dir sagt, er hat Angst.
Aber hab’ Angst vor dem, der dir sagt, er kennt keine Zweifel.
Erich Fried

Glauben heißt: Dinge für wahr halten, für die es keine Parallele und keinen Beweis gibt und die jemand verkündet, der über kein Wissen verfügt.
Ambrose Bierce

Ich glaube an den Zweifel. Ich zweifle an meinem Glauben. Ich zweifle, an meinen Zweifel zu glauben.
Louis Aragon

Zusammengestellt von bebe 

Bernhard Eckstein †

Wer sich in den frühen Sechzigern in der DDR für den Straßenradsport zu begeistern wusste – und das waren seinerzeit sehr sehr viele – dem ist die legendäre Weltmeisterschaft der Amateure auf dem Sachsenring bei Hohenstein-Ernstthal in unauslöschlicher Erinnerung. Gemeinsam mit Gustav Adolf Schur, der die beiden vorausgegangenen Weltmeisterschaften gewonnen hatte und zur unbestrittenen Sportikone der DDR geworden war, hatte Schurs nicht nur Sport-Freund Bernhard Eckstein zur ekstatischen Freunde von über 150.000 Zuschauern den lange Zeit allein führenden Vandenberghen in der letzten der 20 Runden dieses Rennes eingeholt. Deprimiert konzentrierte sich der Belgier fortan auf den nun favorisierten Schur, was Bernhard Eckstein – im wortlosen Einverständnis „Täves“ – nutzte, um das hochbegehrte Regenbogentrikot des Siegers zu erringen; Schur verhalf dann mit seinem zweiten Platz dem DDR-Radsport gar noch zu einem gefeierten Doppelsieg. Ein wenig hat der spätere Pressefotograf Eckstein zwar mit dem Ruf gehadert, „Täve“ habe ihm diesen Sieg geschenkt – was laut Schur indes nicht der Fall war – geschmälert hat das „Eckes“ absolut eigenständige Leistung indes in keiner Weise. 82-jährig ist Ecke Eckstein nun verstorben.

Helge Jürgs

Noch friedlich

Pop-Theater, das ist modernes Volkstheater, und das ist es, was das Ensemble des Prime Time Theaters in Berlin auf die Bühne bringen will. Das ist sympathisch, hat volkstümlichen Charme und anspielungsreichen Witz, aber manchmal überwiegt auch der Klamauk. Der wird in der neuen Inszenierung zurückgedrängt, weil das Bundestagswahlergebnis für die im Multikulti-Bezirk Wedding angesiedelte Truppe doch ein Schock war. Die mittlerweile 113. Folge der Bühnen-Sitcom „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“ (GWSW) mit dem Titel „P.S. Ick liebe Dir“, die Philipp Hardy Lau geschrieben hat, setzt ein paar politische Spitzen. Dazu werden neue Personenkonstellationen aufgebaut. So ist Petra, die unternehmungslustige Mutter der „Kiezschlampe“ solo, weil ihr Gatte Hartwig wegen Mauscheleien, die er zum öffentlichen Unwohl verübte, für längere Zeit hinter schwedischen Gardinen verschwand. Hartwigs Freund Hartmut kommt mit einem attraktiven Freund zu Besuch, und es stellt sich heraus, dass beide frischgebackene Bundestagsabgeordnete sind, der eine für die FDP, der andere für die AfD. Noch ist alles friedlich, aber da steckt schon das Potential für das nächste Stück, das erst im neuen Jahr folgt. In einem der Filmeinspiele taucht dann Frauke Petry höchstselbst auf – ein Novum bei GWSW, wo prominente Namen stets verballhornt wurden.  Sie wird treffend von der vielseitigen Cynthia Buchheim parodiert. Die ehemalige Frontfrau einer Band kann hier ihre weniger bekannte Seite ins Spiel bringen, indem sie Zickzack-Politikerin ein Lied singen lässt. Sie ist auch Petra und Theresa, wie denn alle Darsteller wiederum in mehreren Rollen brillieren. Hausherr und Publikumsliebling Oliver Tautorat spielt nicht nur Murat und Tina Tonne, sondern auch einen französischen Kellner, Philipp Lang ist Hartmut und Tom und hat als frischverliebter Orkan besonders schöne Szenen. Mit Cecilia Hafiz und Marlon Putzke gibt es zwei neue Ensemblemitglieder, deren Talent groß genug ist, sich auf den speziellen Stil bei GWSW einzulassen. „Altgedientes“ Ensemblemitglied ist Alexandra Marinescu, die seit kurzem die Funktion als künstlerische Leiterin übernommen hat und diesmal ihr gutes Händchen als Regisseurin beweist. Aber man freut sich auch darauf, wenn sie als „Kiezschlampe“ wieder auf der Bühne stehen wird.

Frank Burkhard

Zu Besuch bei Charlotte E. Pauly

Künstler, die nur „für Ausstellungen, auf Wirkung hin, wenn nicht gar bloß für den Applaus einiger Kollegen“ arbeiten, waren ihr ein Graus. Lothar Lang zitiert diese Äußerung der Kunsthistorikerin, Schriftstellerin und Malerin Charlotte E. Pauly in seinem immer noch lesenswerten Band „Begegnungen im Atelier“ (1975). Charlotte E. Pauly betrachtete das Erleben von Welt und Wirklichkeit als unabdingbare Grundlage für das Entstehen eines Werkes – und sie hatte Welt erlebt: 1886 in der Breslauer Gegend geboren bereiste sie in den 1920er und 1930er Jahren Spanien, Portugal, fast den gesamten Mittelmeerraum, den Vorderen und Mittleren Orient. Das „Dritte Reich“ überlebte sie, von den Nazis mit Ausstellungsverbot belegt, im schlesischen Agnetendorf. Dort freundete sie sich mit dem Ehepaar Margarete und Gerhart Hauptmann an. Mit dem Sonderzug, der den toten Hauptmann und das Inventar des Wiesensteins nach Berlin brachte, kam auch Pauly mit ihrer Mutter Marie mitsamt der Haushälterin im Juli 1946 in die Stadt.
Zunächst wurde sie in Müggelheim untergebracht. Im August 1946 zogen die Frauen nach Friedrichshagen an den Fürstenwalder Damm zur Untermiete. In der Aßmannstraße 34 erhielt sie 1954 endlich eine eigene kleine Dachwohnung – für das damalige Friedrichshagen nicht unüblich mit Toilette und Wasseranschluss im Treppenhaus: „Die Wohnung – ist’s ein Traum – und ganz schikanenfrei“ dichtete sie begeistert ein „Wohnungslied“. Charlotte E. Pauly behielt diese Wohnung bis zu ihrem Tod im Jahre 1981. Ein Atelier war nicht drin. Als sie nach vielen Jahren eines in der Scharnweberstraße 89 beziehen konnte, war sie bereits 88 Jahre alt. In Friedrichshagen entstand ihr beachtliches druckgrafisches Werk. Sie schöpfte dabei aus dem reichen Fundus des von ihr im wahrsten Sinne des Wortes Erfahrenen. Und sie hatte einen der wohl zu jener Zeit in Ost-Berlin qualifiziertesten Mentoren: Der zehn Jahre jüngere Herbert Tucholski, 1962 bis 1965 Leiter der Zentralen Grafik-Werkstatt (und langjähriger Weltbühnen-Autor) war es, der sie in den Tiefdruck einführte.
Die Kunstwissenschaftlerin Anita Kühnel, profunde Kennerin des Werkes der Pauly, beschreibt die Friedrichshagener Jahre der Künstlerin im „Frankfurter Buntbuch“ Numero 61. Auf wenigen Seiten lässt sie uns Einblick nehmen in die faszinierende Welt einer Künstlerin, die sich selbst als „Weltbürgerin“ bezeichnete, es auch irgendwie war – und ihre Lebenszeit dennoch in einer Dachstube eines ganz und gar verspießerten Ost-Berliner Stadtranddorfes zubrachte. In dem bildete sich nicht zuletzt dank der Pauly eine Künstler- und Intellektuellenszene, die sicher nicht mit dem Mythos der Prenzlauer-Berg-Leute mithalten konnte, aber dennoch oder gerade deshalb in der Kunstlandschaft der DDR-Hauptstadt bleibende Spuren hinterließ. Anita Kühnel lässt uns einen Blick hinter die Kulissen tun. Ihr Buch ist zudem eine Liebeserklärung an Charlotte E. Pauly, die man einfach teilen muss. Der Rezensent legte das Bändchen mit tiefer Nachdenklichkeit wieder auf den Tisch.

WB

Anita Kühnel: Nun hier Fuß gefaßt in Berlin… Charlotte E. Pauly, Kleist-Museum, Verlag für Berlin-Brandenburg, Frankfurt (Oder) / Berlin 2017, 32 Seiten, 8,00 Euro.

Kurze Notiz zu Oberharz am Brocken

Manche Gegenden im Herzen Deutschlands sind so unerwartet leer und still, dass sie sehr verschreckend wirken können. Der Flecken im westlichsten Sachsen-Anhalt, an der ehemals innerdeutschen Grenze zu Niedersachsen gelegen, ist so eine triste Gegend.
Die Ortschaften hier heißen Elend, Sorge und Kaltes Tal und gehören allesamt zur Stadt Oberharz am Brocken. Diese Stadt ist ein einziges Kuriosum. Sie liegt – anders, als ihr Name es vermuten ließe – im Unterharz, fernab vom Brocken, ist größer als Frankfurt oder Stuttgart und hat in ihrem Zentrum mit der Rappbode-Talsperre die höchste Staumauer Deutschlands: eine menschenleere Fläche in einem sowieso schon wie ausgestorbenen Land.
Die Gegend zwischen den bekannten Zielen Wernigerode, Quedlinburg, Stolberg und Nordhausen ist wie aus der Zeit gefallen: Dass hier einst mächtige Adelshäuser imposante Trutzburgen errichteten, hat der Wald längst verborgen. Die Klöster sind abgebrannt, die Eisenhütten verschüttet.
Heute dampfen Schmalspurbahnen durch ein seltsam einsames Land: Kleine, vom Tourismus noch nicht erreichte Dörfer stehen in gewundenen Tälern, um die herum der Wald so steil aufsteigt, dass er erst über dem Betrachter zu enden scheint. Nebel und Sprühregen hängen noch an den klarsten Tagen zwischen den Baumwipfeln, dass es frösteln macht.
Dieser Ort stimmt nachdenklich, schnell auch grundlos traurig. Er hat etwas Magisches, es lebt in den Tropfsteinhöhlen und Bergwerken, auf den mit Laub bedeckten Wanderwegen, die nur in den nächsten, unbelebten Ort, aber zu keinem Ende führen. Wer hierher gelangt, ist mit sich selbst allein. Und mit den Geistern des Waldes, den düsteren Märchen, die in dieser Gegend wahr werden.
Der rußige Rauch von Köhlerhütten klebt plötzlich nasskalt in der Luft. Kräuterweiber, sprechend Fabelwesen und verwunschene Lichtungen im Wald: Was anderorts lauthals als harztypisch vermarktet wird, atmet hier noch. Es ist gespenstisch, hier zu sein. Schön wird es erst in der Erinnerung.

Thomas Zimmermann

68er und 18er

Vor fast genau 50 Jahren begab es sich, dass in der Bundesrepublik Studenten mit massiven und tiefgreifenden Protesten und Forderungen die Gesellschaft aufmischten, bis heute daher legendenumwoben „Die 68er“ geheißen. Nun dürfte es als Positivum zu werten sein, dass die damalige Studentenbewegung nicht auch noch die Schaltstellen des Gemeinwesens zu erobern vermochte; ein republikanisches Regime unter Rudi Dutschke – bei allem Respekt – und/oder Fritz Teufel möchte man auch heute besser nicht imaginieren. Zwar haben es ein seinerzeitiger Steineschmeißer Joschka Fischer oder der wohl friedfertigere Gerhard Schröder später zu allerhöchsten politischen Weihen gebracht – der eine aber dann in Markenjeans und -turnschuhen und beide auch gern mal im Armani-Nadelstreifen.
Die heutige Studentengeneration nun treibt offenkundig völlig anderes um, wenn sie sich denn schon öffentlich artikuliert. Wo früher die Gesellschaft mit ihren Webfehlern von Kriegslüsternheit oder sozialer Ungerechtigkeit in toto infrage gestellt wurde, geht es heute – scheint’s – um Schönheitsoperationen: genderfixierte Geschlechtergerechtigkeit oder politische Correctness etwa.
Nun spricht nichts dagegen, sich auch in diesen und ähnlichen Fragen zu engagieren; jedenfalls sofern hier nicht nur ein Fundamentalismus durch einen anderen ersetzt werden soll.
Nur eben, dass sich studentische Artikulation darauf weitgehend reduziert, sagt über die sedierte gesellschaftspolitische Verfasstheit der Protagonisten viel aus.

Helge Jürgs 

Ehrlich gesagt …

Im Blättchen Nr. 21/2013 wurde bereits die CD-Veröffentlichung „Favorite Sin“ von Carolin No gewürdigt. Im Vorfeld ihres elfjährigen Bandjubiläums im kommenden Jahr erschien nun eine Art „Best of“ des Musiker(ehe)paars Carolin und Andreas Obieglo.
Das sympathische Singer-Songwriter-Duo hat in diesen elf Jahren genauso viele Alben veröffentlicht. „You & I“, wie immer in Eigenregie produziert, liefert nun eine komplett akustisch gehaltene Werkschau.
Der Cindy Lauper – Klassiker „Time after Time“ als einziger Fremdtitel auf dieser CD fällt eher ab. Vielleicht ist dieses Stück einfach schon zu abgenudelt.
Dieses Stigma trifft aber auf die Carolin No-eigenen Stücke beileibe nicht zu. Ohne Bandunterstützung bewirken die nur von den beiden Multiinstrumentalisten (das zum Einsatz kommende Spektrum reicht von der Ukulele bis zur Djembe) eingespielten Lieder eine intimere wie nachhaltigere Wahrnehmung.
Zwei Anspieltipps sollen besonders hervorgehoben werden: Der „Three Minute Song“ (der in der Akustikversion deutlich länger als drei Minuten ist) und das finale Stück „Ehrlich gesagt“:
Ehrlich gesagt
hab ich schon lange nichts mehr
ehrlich gesagt
und daran was zu ändern
ehrlich gesagt
kontinuierlich vertagt…

Die Messlatte für künftige Veröffentlichungen liegt, ehrlich gesagt, ziemlich hoch!

Thomas Rüger

Carolin No: You & I, CD Fuego Musik 2017, circa 16 Euro.

Biblische Deutung

Immer wieder, und vor allem immer öfter versuchen sich Menschen zu erklären, wie die unübersehbar zunehmende Degenerierung der humanen Umwelt zu begründen sein mag. Denn schließlich ist kaum zu bestreiten, dass einem Verhaltensweisen begegnen, die, wer davon selbst noch nicht betroffen ist, nur mit Kopfschütteln zu quittieren sind. Dies aber auch nur, wenn zu besagten Verhaltensweisen nicht zufällig Gewalt gegen den eigenen Kopf gehört; nun ja.
Aber ob man nun Gewalt, Rücksichtslosigkeit, Kulturlosigkeit oder Umweltverschandelung plausibilisieren möchte, es genügt auch in diesem Falle ein Blick in das Buch der Bücher. Das Alte Testament verzeichnet gleich zwei Geburtsstunden dessen, was man später die Menschheit nennt. Zum ersten sind es Adam und Eva, die sich allerdings umgehend der Erbsünde schuldig machen und zudem – wofür sie ihrer Singularität wegen nichts können – dann Söhne zeugen, von denen der eine den anderen erschlägt, und sich dann fortpflanzt, was mangels anderer Frauen außer Eva ja nun nur mal auf inzestuösem Wege gelingen konnte.
Den zweiten Versuch des HERRN, das alles was sich sodann entwickelte zu Besserem hin zu korrigieren, unternahm er dann mit Noah, dem einzig Überlebenden der Sintflut (übrigens der erste Massenmord der Geschichte mit Gott als Täter, sorry). Außer diversem Getier bekamen Noah und seine Familie den einzigen Zuschlag unter den Menschen, dem Ersäufen zu entgehen und quasi noch einmal von vorn zu beginnen. Aber ach – auch das war naturgemäß nur via Inzest möglich.
Wenn also wissenschaftlich darauf geschlossen wird, dass Inzucht beim Menschen die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Erbkrankheiten erhöht („Erbsünde“ sic!) und sie deshalb verboten ist, und dass wir allesamt irgendwie von Adam oder aber Noah (der wiederum ja aber auch von Adam …) – abstammen, muss einen dann eigentlich noch wundern, was über die Jahrtausende  daraus geworden ist?

J. Ahwe

Binnengereimtes

Der schlafende Schneeleopard

Wenn meine Tatzen ratzen,
bin ich ehrlich ungefährlich.

Der Klingelstreich

Wenn die Gazellen schellen,
sind sie auch gleich weg vom Fleck.

Im Zoo

Wenn die Giraffen gaffen,
seh’n sie Rehe aus der Höhe.

Frank-Rainer Schurich

Aus anderen Quellen

„Die Paradise Papers zeigen, wie zielstrebig – und bisweilen dreist – Konzerne genau das Recht aussuchen wollen, das ihren Geschäften nicht im Wege steht. Und wie leicht Steueroasen es den Unternehmen machen, die wenigen rechtlichen Vorschriften zu erfüllen“, konstatieren Bastian Brinkmann und Lena Kampf. Konkret befassen sich die Autoren mit einer der Stilikonen des digitalen Zeitalters: „Es geht darum, ob Apple neue Geschäftssitze in Steueroasen gründen soll. Im Gespräch sind gleich mehrere Standorte, die nicht für ihre IT-Fachkräfte berühmt sind, sondern für ihre Steuergesetze: die Britischen Jungferninseln, die Kaimaninseln, die Isle of Man, die Kanalinseln Guernsey und Jersey. Aber bitte nur zu den richtigen Bedingungen, heißt es. Apple will die Sicherheit, dort Geschäfte abwickeln zu können, ‚ohne besteuert zu werden‘. Das soll amtlich bescheinigt werden: ‚Ist es möglich, eine offizielle Bestätigung der Steuerbefreiung zu bekommen, und kostet das etwas?‘“
Bastian Brinkmann / Lena Kampf: Neue Heimat, Süddeutsche Zeitung (online), 07.07.2017. Zum Volltext hier klicken.

*

„Mit der diplomatischen Annäherung zwischen Washington und Havanna seit 2015“, schreibt Renaud Lambert in seinem Lagebericht aus Kuba, „jagt ein historisches Ereignis das andere: das erste Konzert der Rolling Stones, der erste Dreh eines großen Hollywoodfilms (‚Fast & Furious 8‘), das erste Fünfsternehotel ‚plus‘, die erste Modenschau von Chanel und Karl Lagerfeld, die erste Zimmervermietung über AirBnB und die erste Ankunft eines US-Kreuzfahrtschiffs seit 1959. […] Letztes Jahr kamen 4 Millionen Touristen auf die Insel, ein Rekord, der die Branche auf Platz 3 der Devisenquellen katapultierte (nach Dienstleistungen, hauptsächlich medizinischen, und Überweisungen aus dem Ausland). Seit 20 Jahren wächst der Sektor um 5 bis 10 Prozent pro Jahr.“
Renaud Lambert: Kuba aktualisiert seinen Sozialismus, Le Monde diplomatique (online), 12.10.2017. Zum Volltext hier klicken.

*

Über die Periode nach der russischen Oktoberrevolution vermerkt Gabriel Gorodetsky: „Da die Bolschewiki verzweifelt bemüht waren, ihre Prinzipien hochzuhalten, mussten sie in der Außenpolitik zwei Linien verfolgen: Einerseits versuchten sie, ihre nationale Sicherheit durch eine Intensivierung der diplomatischen Beziehungen mit dem Westen zu gewährleisten. Zugleich förderten sie Subversion und revolutionäre Umtriebe, wenn die Umstände günstig schienen – und unterstützten selbst so aussichtslose Aktionen wie den gescheiterten Hamburger Aufstand von 1923. Der Widerspruch spitzte sich 1924 zu, als Großbritannien, Frankreich und Italien zur Überraschung der Moskauer Regierung die Sowjetunion anerkannten und die Komintern zugab, dass die Weltrevolution nicht so bald kommen werde wie erhofft.“
Gabriel Gorodetsky: Sowjetische Diplomaten, Le Monde diplomatique (online), 12.10.2017. Zum Volltext hier klicken.

*

„Vermutlich“, meint Harald Jähner, „hätte Pollock ohne den Einfluss der CIA keinen Deut anders gemalt. Aber dass seine Bilder einen derart erfolgreichen Siegeszug durch die Museen der Welt unternahmen, wäre ohne die Ausstellungspolitik des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes wohl schwieriger geworden. Dieser hatte gleich nach seiner Gründung 1947 umfangreiche kulturelle Aktivitäten in Europa unternommen, die er bald auf Afrika und Asien ausdehnte. Als offizielle Basis für seine Kulturpolitik benutzte die CIA den ‚Kongress für Kulturelle Freiheit‘, der 1950 im West-Berliner Titania Palast von einer Gruppe antitotalitärer liberaler Intellektueller gegründet wurde. Zu seinem Umfeld gehörten antistalinistische Linke und Liberale wie Melvin Lasky und Arthur Koestler, Ignazio Silone und François Bondy.“
Die Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt, die Jähners Beitrag bespricht, läuft noch bis zum 8. Januar 2018.
Harald Jähner: Kapitalistische Kunst im Namen der CIA, Berliner Zeitung (online), 07.11.2017. Zum Volltext hier klicken.