20. Jahrgang | Nummer 22 | 23. Oktober 2017

Bemerkungen

Berliner Notizen: Getestete Schule

Im Frühjahr 2011 – es war ein Wahljahr – stöhnte der Pressesprecher der Berliner SPD-Fraktion, man solle doch aufhören, eine reformpolitische Sau nach der anderen durchs Dorf zu jagen. Er meinte die zahlreichen Schulreförmchen, mit denen die damalige Koalition die Stadt zwei Wahlperioden lang beglückt hatte. Schulpflicht ab fünftem Lebensjahr, FLEX („flexible Schuleingangsphase“), Abschaffung der Benotung in der Grundstufe, JÜL („jahrgangsübergreifendes Lernen“) und eine Inklusion, die entgegen den UNESCO-Absichten eher exkludiert denn integriert, waren nur die aufsehenerregendsten Ideen bildungsferner Bildungspolitiker. Jetzt haben wir den Salat. Nein, nicht wir, die Kinder müssen’s ausbaden. Die wissen das aber nicht, weil sie noch in der Grundschule stecken. Der jüngste bundesweite Bildungsvergleichstest der Viertklässler bestätigte zum wiederholten Male, was alle seit Jahren wissen: Berlin liefert sich immer noch einen erbitterten Wettstreit um die rote Laterne des deutschen Bildungszuges mit dem Bundesland Bremen. Platz 15 in Mathematik – das sind 13,4 Prozentpunkte unter dem Bundesdurchschnitt. Platz 15 in der Rechtschreibung – das sind 14,6 Prozentpunkte unter dem Bundesdurchschnitt. Beim Zuhören läge man aber „immerhin“ auf Platz 14, vermeldete die Berliner Zeitung. Das klingt nach Ironie, ist aber ernst gemeint. Genauso sieht es nämlich die Bildungsverwaltung. Man habe sich nur geringfügig verschlechtert. Im Gegenteil, man sei „recht konstant“. Dass dies auf unterstem Niveau geschieht, verschweigt man dezent.
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Das bildungspolitische Elend hat sich in Berlin verfestigt. Wer genauer auf die „Schlüsselkompetenzen“ der Schulabgänger sieht, wird das bestätigen. Aber dem kapitalistischen Ausbeutungssystem muss man sich als Schule ja nicht bedingungslos unterwerfen, auch ein Tischtenniskurs ist etwas Feines, und wozu benötigt man als Cheerleader überhaupt Arithmetik? Aber der Senat steuert tapfer gegen solche Missstände. Die Grünen fordern ein „Qualitätspaket für die Berliner Schulen“ mit mehr Inspektionen und Zielvereinbarungen. Wenn ich mich recht erinnere, attackierte Bündnis ’90 seinerzeit gerade den „vormundschaftlichen Staat“ mit großer Heftigkeit.
Schulsenatorin Sandra Scheeres ist noch konsequenter. Sie verkündete jetzt, dass künftig die Ergebnisse der zentralen Vergleichsarbeiten in Mathematik und Deutsch in den 3. und 8. Klassen („Vera-Tests“) nicht mehr veröffentlicht werden würden. Richtig so! Lass doch die anderen von ihrer Schande reden, wir schweigen von der unseren…

WB

Fieser Landraub

Auf Usedom, so weiß der Kundige, siedelt ein Menschenschlag, der Politgebilden wie NPD und AfD überdurchschnittlich zugeneigt ist. Indes befindet man sich dort in einem Dilemma bezüglich des Lieblingsthemas beider Parteien, des Ausländerhasses. Man verfügt nämlich nur über eine recht dürftige Zahl an hassenswerten Personen in der direkten Umgebung; die Polen, die mittlerweile dazu beitragen, den boomenden Fremdenverkehr aufrechtzuerhalten, lässt man besser gnädig gewähren, man braucht sie ja.
Was nun als Tipp zu verstehen ist, das konkrete Hassdefizit unserer indigenen nordischen Heimatschützer aufzufüllen, ist an den Küsten des Baltikums zu besichtigen, wohin es von Usedom aus bekanntlich nur ein Katzensprung ist. Das kleine Estland nämlich wird Jahr für Jahr dadurch geografisch größer, dass per Westwind und -strömung Sand von der Küste Usedoms, ja selbst Rügens an seinen Gestaden angespült wird. Urdeutscher Mutterboden – oder Vatersand? – also, an dem sich der Zwergstaat bereichert, legt man ihm, respektive Wind- und Meeresströmung, nicht das unheilvolle Handwerk. In einer Frist, die für die Geschichte nur ein Wimpernschlag ist, in wenigen Jahrhunderten könnte er in Form einer Sandbank, gegen die die Weltbank pillepalle ist, unmittelbar vor unserer Tür stehen wie weiland lange Zeit der Russe. Wobei auch diese Option ohnehin eine von Putins langer Hand geplante Tücke sein könnte, irgendwann mit seinen Panzern direkt an der Demarkationslinie zur friedfertigen deutschen Zivilisation zu provozieren!
Vielleicht ist die AfD zumindest in Deutschlands hohem Norden der Garant dafür, dass es nicht so weit kommt. Die Forderung nach Rückgabe von einigen Milliarden Kubikmeter rassereinsten Ostseesandes, mindestens aber der Bau einer Mauer in der Ostsee zwecks Sandfangs sollte jedenfalls ganz oben auf der Agenda dieser Partei stehen, wenn sie sich bald im Bundestag daran macht, „unser Land zurückzuholen“, auf dass es ein einig Gauland werde.

Hans Jahn

Genscher und die Bürde des Würdigens

Hans-Dietrich Genscher ist Ehrenbürger seiner Heimatstadt Halle (Saale), was jedoch die Stadt nicht unbedingt dazu animiert, den im Vorjahr Verstorbenen besonders zu ehren (Blättchen berichtete). Sicher, man verdankt dem ehemaligen Bundesaußenminister (auch) ein bisschen die deutsche Einheit. Und außer Margot Honecker – im selben Jahr wie Genscher geboren – hat die Saalestadt in jüngerer Vergangenheit kaum prominente Kinder hervorgebracht. Allein der Mangel an Alternativen drängt eigentlich zu Genscher.
Und der hat sich um Halle sehr bemüht: So sicherte er den Fortbestand des ehemaligen SED-Blatts Freiheit (heute Mitteldeutsche Zeitung), spendete reichlich für seine ehemalige Schule und wurde nicht müde, bundesweit die Eigenheiten des Hallensers herauszustellen: maulfaul, skeptisch, irgendwann dann aber doch noch herzlich.
Dennoch fremdelt die Stadt mit ihrem Sohn, und das hat viele Gründe. Zum einen hat Genscher „rübergemacht“ und seine Heimat damit gefühlt im Stich gelassen. Wie schon Georg Friedrich Händel – auch ein Hallenser – ist er anderswo zu Ruhm und Ehre gekommen und daheim fremd geworden: Genscher wird eben mehr in Bonn und auf dem Balkon der Prager Botschaft verortet als in Halle.
Zum anderen dringt Genschers Engagement für die Stadt kaum durch: Wen interessieren schon Gelder für eine heruntergekommene Schule? Die Hallenser bewegt bis heute deutlich mehr, dass sie mit der Überführung ihres DDR-Bezirks in das neue Bundesland Sachsen-Anhalt ihren Status als Hauptstädter verloren haben. Genscher hat sich als Helmut Kohls Vizekanzler nicht dafür eingesetzt, dass Halle statt Magdeburg zur Landeshauptstadt wurde – das können ihm viele nicht verzeihen. Deshalb heißt es in Halle oft, Genscher sei ja eigentlich gar kein Hallenser: Sein Geburtsdorf Reideburg wurde erst später eingemeindet.
Zu Lebzeiten wurde Genscher von Halle mit der Ehrenbürgerschaft abgespeist, die im selben Jahr (es war erst 1991) Hermann Göring aberkannt worden war. Nach Genschers Tod aber stellte sich die Frage, wie er ernsthaft zu würdigen wäre. Man entschied sich, den Bahnhofsplatz nach ihm zu benennen. Aber kaum einem Hallenser fiel das auf, nach wie vor trifft man sich am Bahnhofsplatz. Einen Genscherplatz müsste man erst googeln.
Nun forderten einige Stadträte dann doch eine finale Würdigung Genschers, die dessen politischer Bedeutung mehr entspräche. Man entschied sich gegen Denkmal und Kulturpreis und benannte schließlich eine Schule nach ihm: ausgerechnet jenes Gymnasium, das so abgewrackt war, dass der Schüler von einst vor Schreck ganz tief in Tasche griff. In der Schule bröckelt auch heute wieder der Putz. Zu herzlicheren Liebesbekundungen hat es in Halle nicht gereicht.

Thomas Zimmermann

Ein Dorf in Brandenburg

Das Dorf, in dem ich viel Zeit verbringe, liegt idyllisch zwischen Wäldern und Wiesen und an einem Fließ. Eine Straße mit Linden und rund 120 Einwohnern, kein Haus steht leer. Hier gibt es hörbare Stille, ab und an unterbrochen von Kranichrufen und dem Schnurren von Rasenmähern. Lerchen flattern über den Feldern und sogar der Wiedehopf lässt sich sehen, wenn nicht gerade die Linden geköpft sind.
Es gibt eine Freiwillige Feuerwehr, ein Dorfmuseum, einen Heimatverein, und auch der Kirchturm wurde mit Hilfe eines Vereins des Dorfes neu errichtet.
Die Kneipe im Dorf hat vor Jahren geschlossen, die im Nachbarort  dieses Jahr. Immerhin ist ein Koch ins Dorf gezogen und bietet Feines an den Wochenenden. Ein Bäcker versorgt Dorfbewohner dreimal in der Woche mit dem Nötigsten, ansonsten muss man 10 Kilometer in die nächste Stadt fahren. Dort schließen gerade zahlreiche Geschäfte in der Bummelmeile. Ärzte gibt es wenige, Wartezeiten sind lang. Wer arbeitet, hat meist weite Wege, arbeitslos sind aber nur wenige. Man kann per Telefon einen Bus rufen. Sonst fährt der nicht bis zum Dorf.
Der Gemeinderaum wird gut genutzt für Familienfeiern, Wahlen, Vorträge, Spieleabende. Der Platz davor dient für Feiern mit Lagerfeuer zu Halloween und zum Weihnachtsbaumverbrennen. Die Freiwillige Feuerwehr und der Heimatverein halten so das Dorf am Leben. Kontakte sind in der dunklen Jahreszeit rar. Für das jährliche Dorffest im Sommer gibt es einen Festplatz neben dem Spielplatz. Beide werden im Frühjahr an einem „Frühjahrsputz“ genannten Aktionstag von Laub und Schmutz befreit, Sträucher beschnitten. Zwischen 30 und 40 Dorfbewohnern beteiligen sich an diesem „Subbotnik“.
Auf dem Weg zu einem Diavortrag im Gemeindezentrum habe ich mich nach den Wahlergebnissen erkundigt. Von neunzig abgegeben Stimmen erhielt die AfD zwanzig. Das ist Brandenburger Durchschnitt.

mvh

Vergangenheit und Zukunft

Vom Standpunkt der Jugend aus gesehen ist das Leben eine unendlich lange Zukunft; vom Standpunkt des Alters aus eine sehr kurze Vergangenheit.
(Arthur Schopenhauer)

Ich denke viel an die Zukunft, weil das der Ort ist, wo ich den Rest meines Lebens verbringe.
(Woody Allen)

Wie gut, dass das Leben uns immer nur mit seiner Gegenwart überrascht und dass es uns keinen Blick in die Zukunft gestattet.
(Carl Zuckmayer)

Aber das ist nun mal das Machtrecht des Lebenden: Er kann von der Zukunft alles hoffen, und er kann der Vergangenheit seine eigene Meinung aufzwingen.
(Alice Berend)

Es gibt nichts Traurigeres als den Moment, in dem die Zukunft so aussieht, wie wir sie uns vorgestellt haben.
(Pascal Bruckner)

Jede Revolution ist viel weniger Bauplatz der Zukunft als Auktion der Vergangenheit.
(Heimito v. Doderer)

Seit die Zukunft begonnen hat, wird die Gegenwart täglich schlechter.
(Dieter Hildebrandt)

Die Quelle der Angst liegt in der Zukunft, und wer von der Zukunft befreit ist, hat nichts zu befürchten.
(Milan Kundera)

Das Merkwürdigste an der Zukunft ist wohl die Vorstellung, dass man unsere Zeit später „die gute alte“ nennen wird.
(John Steinbeck)

Dreifach kommt die Zeit:
Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,
pfeilschnell ist das Jetzt entflogen,
ewig still steht die Vergangenheit.
(Friedrich Schiller)

gefunden von bebe

Augenöffnend

Der Titel ist schon fast eine Kurzgeschichte. „Man müsste nur die Wahrheit drucken, man müsste aufhör’n, sich zu ducken“ heißt der Band, der nur selten einen Prosatext enthält, aber dafür über 100 Gedichte und Liedtexte von 30 ganz verschiedenen Leuten, die ihre Gesellschaftskritik von links eint. Der Vorwortautor Nico Diener (selbst mit zwei Texten vertreten) hat die Anthologie zusammengestellt und als ersten Band der neuen Edition American Rebel (als Hommage an den gern als „amerikanischer Rebell“ bezeichneten Dean Reed gedacht) kürzlich in Berlin vorgestellt. In den Gedichten, von denen die ältesten schon in den siebziger Jahren entstanden, sehr viele neue aber mit 2017 datiert sind, werden soziale Verwerfungen thematisiert, politisch-historische Diskurse absolviert aus Zeiten früherer Bundeskanzler wie Willy Brandt und Helmut Kohl, über Themen wie Demokratie, Bundeswehr und Solidarität. Das klug komponierte Titelgedicht stammt von malcom.z – ein Pseudonym eines ehemaligen DDR-Liedermachers. Bekannte Autoren wie der österreichische Dramatiker Heinz Rudolf Unger oder die Liedermacher Jürgen Eger und Frank Viehweg stehen neben engagierten Amateuren wie der „roten Oma“ Elisabeth Monsig, die trotz ihrer 93 Lenze noch an Demos und Straßenaktionen teilnimmt, oder Abel Doering, der 20 Jahre lang Bücher verkaufte, ehe er sein Antiquariat Anfang dieses Jahres schloss. Nicht alles ist große Literatur, aber in der Vielfalt der Handschriften und im politischen Engagement kurzweilig und wohl auch augenöffnend zu lesen.

Man müsste nur die Wahrheit drucken, man müsste aufhör’n, sich zu ducken. Edition American Rebel bei BoD, 148 Seiten, 8,99 Euro.

bebe

Film ab

Mit der Mitteilung „nach wahren Begebenheiten – mehr oder weniger“ beginnt „Victoria & Abdul“ und mausert sich rasch zu einem Kostümschinken von opulenten Graden mit einem Emotionskitsch, der eine Hedwig Courts-Mahler vor Minderwertigkeitsgefühlen hätte erblassen lassen.
Queen Victoria, das Oberhaupt des britischen Empires, der größten und brutalsten Kolonialmacht aller Zeiten, leistete sich als 68-Jährige – die Geschichte begann 1887, da saß die Queen bereits 50 Jahre auf dem Thron, und dauerte bis zu ihrem Tode 1901 – eine offene, wenn auch platonische Mesalliance bei Hofe. Mit ihrem recht jungen indischen Bediensteten Abdul Karim, den sie später, folgt man dem Film, doch tatsächlich zum Ritter schlagen wollte. Der Ministerpräsident und die Hofschranzen waren not amused …
Zum historischen Hintergrund gehört nicht zuletzt, dass der Königin von England und Kaiserin von Indien bereits wenige Jahre vor Abdul Karims Auftauchen eine Affäre mit einem ihrer Diener, dem Schotten John Brown, nachgesagt worden war. Den soll der königliche Haushalt unumwunden mit dem Titel „the queen’s stallion“ (der Hengst der Königin) belegt haben. Chapeau: Die Dame war da immerhin ebenfalls schon 60 plus!
Zurück zum Film: Zu allem Überfluss ist Abdul auch noch mit einem glutäugigen, anfänglich höchst wohlproportionierten Jüngling (Ali Fazal) besetzt, der der Real-Abdul augenscheinlich – im Abspann kann der Zuschauer einen kurzen Blick auf ihn werfen – nicht gewesen ist.
Da Stephen Frears („The Queen“, „Florence Foster Jenkins“) die Regie verantwortet und die Queen durch Judy Dench gegeben wird, kommt Langeweile gleichwohl nicht auf. Zumal Frears seinen Streifen auch als bissige Satire auf den damaligen Hofstaat und dessen blutleere Formalien und Rituale sowie auf den dünkelhaften und dümmlichen Chauvinismus der britischen Oberschicht inszeniert hat. Victoria selbst sagt über ihren ältesten Sohn Albert Edward, den sie zeitlebens Bertie nannte, der sei an Peinlichkeit nicht zu übertreffen. Schon als Student hatte er sich einen Ruf als Dandy mit einer durchaus degoutanten Vorliebe für Glücksspiel, Alkohol und junge Schauspielerinnen erworben. Seine wechselnden Amouren machten regelmäßig die Runde. Trotzdem wurde der missratene Spross als Thronfolger natürlich König. So funktioniert sie halt, die Erbmonarchie: Wer dran ist, wird’s, und seien er oder sie auch noch so ungeeignet.
Bertie sorgte nach dem Tod der Queen im Übrigen als erstes dafür, dass sämtliche Zeugnisse der Beziehung seiner Mutter zu Abdul Karim – Bilder, Schriftstücke et cetera – vernichtet wurden. Damit wurde diese Episode aus den Annalen getilgt und kehrte erst dorthin zurück, als 2010, wie es im Abspann heißt, die Tagebücher des Abdul Karim entdeckt wurden.

Clemens Fischer

„Victoria & Abdul“, Regie: Stephen Frears. Derzeit in den Kinos.