19. Jahrgang | Nummer 25 | 5. Dezember 2016

Film ab

von Clemens Fischer

Letzte Worte (auf dem Totenbett) sind, wenn sie zum Aphorismus taugen, meist gut erfunden.
Dass gilt für jene zwar nicht, mit denen im Kino gerade Meryl Streep als Florence Foster Jenkins ihre Augen für immer schließt: „People may say I canʼt sing, but no one can ever say I didnʼt sing.“ (Die Leute können vielleicht behaupten, dass ich nicht singen kann, aber niemand kann behaupten, dass ich nicht gesungen hätte.) Nur waren das nicht der historischen Florenceʼ – der Rezensent gestattet sich hier eine respektvolle Anrede im Duktus des Hamburger Dus – letzte Worte, sondern ihre Erwiderung auf eine an ihrem Gesang geübte Kritik.
Die Dame wähnte sich nämlich eine begnadete Koloratur-Sopranistin, galt aber zu ihren Lebzeiten – sie verstarb 1944 – nicht nur Opernpuristen als schlechteste Sängerin aller Zeiten. „Ihr Gesang brachte Tausende zum Weinen. Vor Lachen“, schrieb ein Kritiker in unseren Tagen. Sie traf buchstäblich keinen Rhythmus und keinen Ton, hörte das selbst jedoch offenbar nicht. (Vielleicht organische Folge einer Syphilis-Ansteckung, die ihr erster Ehemann ihr in jungen Jahren beschert hatte; die Krankheit wurde damals vornehmlich mit Quecksilber und Arsen therapiert und konnte so noch nicht auskuriert werden. Florence verlor ihr Kopfhaar und musste fürderhin Perücke tragen.)
Florence hatte reichlich Geld und förderte das öffentliche Musikleben. Dieses großzügige Mäzenatinnentum wollte nachvollziehbarerweise niemand von den Dotierten durch Aussprechen unpassender Wahrheiten – ihr Talent und ihren Gesang betreffend – gefährden. So spielte denn ihr gesamtes persönliches Umfeld jahrzehntelang mit und hofierte ihr „Genie“. Darunter zum Beispiel auch der ewig klamme Toscanini.
Florence gab jährliche Konzerte im Ritz-Carlton-Hotel in New York; für handverlesenes Publikum sorgte sie dabei selbst. 1944 schließlich erfüllte sie sich mit 76 Jahren einen Lebenstraum: Sie bestritt einen Auftritt in der (schon Wochen zuvor – sie genoss längst Kultstatus als „schräge Diva“ – ausverkauften) Carnegie Hall in Manhattan. Mit immerhin fast 3.000 Plätzen. Sie gab dabei unter anderem „Der Hölle Rache“ aus Mozarts „Zauberflöte“. Vier Wochen später erlag Florence einem Herzinfarkt. Böse Kritiken sollen den verursacht haben. Wird bis heute von manchen behauptet.
Vor einem Jahr verlegte der französische Film „Madame Marguerite oder die Kunst der schiefen Töne“ Florenceʼ Geschichte in das Paris der 1920er Jahre und stellte eher deren tragische Aspekte in den Vordergrund. Catherine Frot gab die Hauptrolle der wohlhabenden Madame Marguerite Dumond mit einer Mischung aus groteskem künstlerischen Selbstbewusstsein und existenzieller Verletzbarkeit, weil die Membran („Musik ist mein Leben.“) über der ansonsten vollständigen emotionalen und sonstigen Leere im Leben der Heldin hauchdünn ist. Das tragische Ende war so nur eine Frage von Zeit und Auslöser.
Jetzt ist Meryl Streep „Florence Foster Jenkins“ und hat Hugh Grant als ihren Ehemann an ihrer Seite. Für den skandalträchtigen Luftikus früherer Jahre ein fulminantes schauspielerisches Comeback. Regisseur Stephen Frears schöpft vor allem das komödiantische Potenzial der Geschichte aus. So hat der Film Passagen und einen Showdown – das legendäre Carnegie Hall-Konzert –, bei denen dem Zuschauer vor Lachen die Luft wegbleibt und die Tränen kommen. Doch all dies durchweg, ohne die Heldin in ihrer persönlichen Würde und Tragik zu denunzieren. Eine sehr äquilibristische, höchst gelungene Gratwanderung.
Über Meryl Streeps Spiel noch Worte zu verlieren, hieße Athen mit weiteren Eulen zu traktieren. Sie ist einmal mehr auf der Höhe ihrer Kunst. Doch ihr ebenbürtig und insofern die eigentliche Entdeckung dieses Streifens ist Simon Helberg, dem hiesigen Kinopublikum noch weitgehend unbekannt, in der Rolle des Cosmé McMoon, Florenceʼ Konzertpianisten. Ein Oscar als bester Nebendarsteller sollte ihm nicht streitig zu machen sein.
„Madame Marguerite oder die Kunst der schiefen Töne“, Regie: Xavier Giannoli. Auf DVD und in guten Videotheken.

„Florence Foster Jenkins“, Regie: Stephen Frears. Derzeit in den Kinos.

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Ein Jungsinternat in einer mittelalterlichen Burg auf einem Berg nahe einem See und ein Mädcheninternat in einem Schloss am gegenüber liegenden Ufer des Gewässers – das klingt nach Schulstreichen, beginnender Pubertät und familienkompatiblem Spaß. All das hat „Burg Schreckenstein“ dann auch tatsächlich zu bieten. Und zwar überzogen genug, dass auch sehr jugendliches Publikum nicht in den Irrtum verfällt, dem realen Leben beizuwohnen. Als ich nach dem Kinobesuch meinen achtjährigen Enkel Leo befragte, ob er nun nicht auch Lust auf Internat hätte, war die lapidare Antwort: „Aber Opa, das gibt’s doch gar nicht in wirklich.“
Apropos achtjährig: Der Film hat keine Altersfreigabe. Es hat meinen Enkel allerdings auch noch nicht irritiert, dass den elfjährigen Knaben von der Schuldirektorin der Mädchen ordentlich der Marsch gegeigt wird, als sie die Bengel in den Betten ihrer Schutzbefohlenen erwischt.
Die Direktorin ihrerseits, in puncto Mode stylisch, aber ansonsten hysterisch-zickig und pädagogisch in der Neuzeit noch nicht wirklich angekommen, ist eine Paraderolle für die begnadete Mimin Sophie Rois – allein deswegen kam auch der Opa cineastisch durchaus auf seine Kosten.
Die literarische Vorlage des Filmes, die gleichnamige, zwischen 1959 und 1988 verfasste Jugendbuchreihe von Oliver Hassencamp, umfasst übrigens 27 Bände …
„Burg Schreckenstein“, Regie: Ralf Huettner. Derzeit in den Kinos.

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Sciene-Fiction-Filme, so meinte François Truffaut, seien Weltraumwestern, in denen man die Indianer durch Außerirdische ersetzt habe. Und zwar in der Regel durch feindselige, wäre zu ergänzen, insbesondere wenn es sich um amerikanische Streifen handelt. Herausgekommen sind dabei häufig genug platte Haudrauf- und Vernichtungsorgien wie bei Roland Emmerich & Co.
Jetzt sind sie wieder da, die Außerirdischen – aber ausnahmsweise als friedliche Besucher. Doch das notorisch bellizistische Führungspersonal der irdischen Großmächte und ihrer jeweiligen Verbündeten hat nichts Eiligeres zu tun, als seine eigene, von starrem Freund-Feind-Denken und Nullsummenspiel-Schematismus geprägte Perspektive auf die Ankömmlinge zu projizieren und einen Countdown in Richtung Angriff auf die Fremden in Gang zu setzen.
Der, so viel muss hier verraten werden dürfen, damit Actionfans auch tatsächlich zu Hause bleiben, findet jedoch nicht statt. Denn die Macher des Films interessieren in erster Linie philosophisch-ethische Fragen zum Umgang der menschlichen Spezies sowohl mit sich selbst als auch mit existenziellen Herausforderungen. „Arrival“ reiht sich damit ein in die nicht sehr zahlreiche Phalanx von Werken, zu denen solche Klassiker des Genres gehören wie Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ oder Tarkowskis „Solaris“. Freunde intellektueller Science Fiction werden ihre Freude haben.
„Arrival“, Regie: Denis Villeneuve. Derzeit in den Kinos.