20. Jahrgang | Nummer 15 | 17. Juli 2017

Bemerkungen

Daniil Granin zum Gedächtnis

1987 druckte die damals in einer Sechs-Millionen-Auflage erscheinende Literaturnaja Gazeta einen Text Daniil Granins ab, dem dieser den Titel „Über Barmherzigkeit“ gab. Ein halbes Jahr später veröffentlichte auch die Zeitschrift der Akademie der Künste der DDR, die Sinn und Form, diesen kleinen Aufsatz. Granin knüpfte in ihm an seine Erfahrungen und Beobachtungen aus der Zeit des Krieges an. Er erinnerte sich, dass die verhungernden Menschen im belagerten Leningrad einander aufhalfen, wenn jemand Gefahr lief auf der Straße sterbend liegenzubleiben. Zugleich stellte er fest, dass es heute, also in der sozialistischen Sowjetunion, niemanden sonderlich interessiere, wenn jemand blutend auf einer Straße liege und sich auch niemand darüber aufrege, wenn Ärzte in staatlichen Krankenhäusern nur nach vorheriger Übergabe eines Geldscheinbündels notwendige Behandlungen vornähmen. Was Granin da schrieb war nichts anderes als eine Generalabrechnung mit einer Gesellschaftsordnung, die von sich behauptete, den wahren Humanismus alleinig gepachtet zu haben.
Ich weiß nicht, welche Resonanz er damit in seiner Heimat erzielte – in der DDR hielt sich zu meinem seinerzeitigen Erstaunen das Echo in Grenzen. Wir waren inzwischen zu sehr mit uns selbst beschäftigt. Wir waren mit dem Versuch der Rettung eines Systems zugange, dem für die Mehrzahl seiner Bürger die Existenzberechtigung schon lange abhanden gekommen war. Was Daniil Granin für die Sowjetunion feststellte, galt in etwas anderer Form auch für die DDR. Wir weinten so manchen und so manchem – sicherlich zutiefst unterschiedlich – keine Träne nach. Und Granin? Der war der Chronist des „Blockadebuches“, das er 1977 bis 1982 mit Ales Adamowitsch geschrieben hatte und das auch in der DDR eine weite Verbreitung fand. Wir litten natürlich mit den belagerten Leningradern und verfluchten aufrichtig die Faschisten, die den sowjetischen Menschen dies angetan hatten. Dabei vergaßen wir zweierlei: Es waren unsere Väter und Großväter, die das angerichtet hatten. Und obwohl erfahrene „Zwischen-den-Zeilen-Leser“ ignorierten wir das, was die Linguistik als „Subtext“ bezeichnet.
Dabei wussten wir als Liebhaber Graninscher Texte spätestens seit seinem Bericht über die „schöne Uta“ aus Naumburg und den japanischen „Garten der Steine“, dass dieser Schriftsteller ein kongenialer Nachfolger Heinrich Heines war – und man bei Granin immer sehr genau hinsehen musste… Die Eindimensionalität, mit der ausgerechnet seine Texte über den Krieg rezipiert wurden, über das, was diesem in der UdSSR vorausging und beider bösartige Spätfolgen, diese Eindimensionalität findet sich heute wieder, wenn Daniil Granin de facto auf das „Blockadebuch“ reduziert wird. Vor drei Jahren sprach er anlässlich des Holocaust-Gedenktages im Deutschen Bundestag. Er betonte seinerzeit, nicht als Schriftsteller, sondern als Soldat zu sprechen. Auch diese Rede – sie gehört in die deutschen Schulbücher – muss man genauer lesen. Daniil Granin nahm mit ihr das Thema seines 1987er-Aufsatzes wieder auf. Der Mann, der 900 Tage lang erleben musste, dass die Deutschen bereit waren „den russischen Menschen das Schlimmste anzutun“, beschwor vor dem Parlament des Landes, aus dem die Mörder kamen, Begriffe wie Mitleid und Erbarmen, Erinnerung und Vergebung, Gerechtigkeit und „das Wunder der Liebe“.
Am 4. Juli legte dieser große Humanist und tapfere Streiter für die Wahrheit in St. Petersburg für immer die Feder aus der Hand. Er rang zeitlebens darum „unser Sein zu vermenschlichen“. Ja, Daniil Granin hatte recht: Man muss wieder und wieder aufrufen „die Taubheit der Seele zu heilen, damit der Mensch aufhört, das ihm geschenkte Leben in sich hineinzuschlingen, ohne etwas dafür zu geben, ohne etwas dafür opfern zu müssen“. Diesem Auftrag fühlen wir uns verpflichtet.

W.B.

Berliner Abschiede

Am 2. Juli verabschiedete sich Claus Peymann im Haus am Schiffbauerdamm von seinem Publikum. Ulrich Seidler schrieb in der Berliner Zeitung, er habe sich vom Berliner Ensemble verabschiedet. Das ist definitiver Unsinn. Das Ensemble geht ebenfalls. Kaum einer wird bleiben. Es wird einen neuen Chef geben: Oliver Reese, der nicht nur einer gänzlich anderen Ästhetik frönt als Altmeister Peymann, Reese bringt selbstverständlich „seine“ Schauspieler mit. Am Schluss gab’s ein opulentes Feuerwerk. Ein stiller Abgang war nie Peymanns Sache gewesen.
Am Abend zuvor verabschiedete sich Frank Castorf von seinem Publikum. Aber auch das ist genau genommen falsch. Der Wechsel verläuft hier ebenso dramatisch wie am Schiffbauerdamm: Der „Neue“, ein belgischer Kulturmanager namens Chris Dercon, will eine Art Kultur-„KaDeWe“ aufziehen und benötigt dazu die alten Volksbühnen-Matadore natürlich nicht. Allerdings muss er drei Schauspieler übernehmen, weil die unkündbar sind. Ich wusste gar nicht, dass die göttliche Sophie Rois schon über 15 Jahre am Haus ist… Aber egal, Frau Rois nimmt wohl erst einmal ein Jahr lang Urlaub. Bleiben zwei. Man darf gespannt sein – zumal Dercon mit in etwa gleichbleibenden Zuschüssen zwei Orte „bespielen“ muss. Er hat sich einen Hangar des stillgelegten Flughafens Tempelhof aufschwatzen lassen.
Unfreundlich in Berlin empfangen wurde er de facto von seinem Ober-Chef, dem Kultursenator Klaus Lederer, der sich auf der Castorfschen Abschiedsgala nicht entblödete zum wiederholten Male zu erklären, dass er „die Entscheidung seines Vorgängers“ nicht habe rückgängig machen können. Während die Zerstörung des alten Berliner Ensembles durch Politik und Berliner Medienöffentlichkeit als Begräbnis dritter Klasse zelebriert wurde, stilisierten dieselben Leute den Castorfschen Abgang zu einer Art Untergang des linkskulturellen Abendlandes. Das war am Ende selbst Petrus zu viel. Der öffnete angesichts so vieler Krokodilstränen über der Open-Air-Party vor dem Haus alle seine Schleusen.

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Fast vollständig ignoriert wurden hingegen zwei Abschiede, die sich fast im Stillen vollzogen: Volker Ludwig scheidet zum Ende dieser Spielzeit endgültig, zumindest offiziell…, aus der Leitung des GRIPS-Theaters aus. Die Nachfolge tritt Philipp Harpain, langjähriger Leiter der Theaterpädagogik des Hauses, an. Ludwig, der vor kurzem seinen 80. feiern konnte, kämpft seit Jahren nimmermüde gegen die Berliner Kulturbürokraten um die ökonomische Existenz des GRIPS. Bislang konnte das tapfere Schiffchen durch alle Klippen gesteuert werden. Es wird wohl, im Unterschied zu den beiden genannten Großtankern, weiter Kurs halten…
Dasselbe ist von einem Theater zu sagen, das viele Jahre darum ringen musste, überhaupt erst einmal als Theater anerkannt zu werden: das RambaZamba auf dem Gelände der Kulturbrauerei am Prenzlauer Berg. Das gemeinhin als „Behindertentheater“ wahrgenommene RambaZamba denkt überhaupt nicht daran, den landläufigen „Inklusionsansatz“ zu verfolgen. RambaZamba hat den Spieß umgedreht: „Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen sollen ihr Potential gemeinsam mit anderen vielfältig ausschöpfen und zeigen können“, heißt es etwas sperrig in der Selbstdarstellung des Hauses. Konkret: Hier spielen Schauspieler mit Behinderungen, Down-Syndrom etwa, Stücke, an deren Inszenierung sie tatkräftig mitwirken. „Andere“ dürfen mitspielen, müssen sich also „integrieren“. Diesen Ansatz haben seit 1990 Gisela Höhne und Klaus Erforth entwickelt. Erforth schied vor einigen Jahren aus – jetzt verabschiedet sich die aller Bewunderung werte Gisela Höhne. Die Prinzipalin hinterlässt ein wohlbestalltes Feld. Auch RambaZamba wird seinen Kurs weiter steuern.
Ich liebe diese „kleinen“ Theater – sie sind das Salz der Erde der Berliner Bühnenlandschaft. Gisela Höhne, Volker Ludwig: Seien Sie bedankt! Wir verneigen uns tief vor Ihnen!

Wolfgang Brauer

Aufstieg zur Titanic

Das Wrack des Ozeanliners Titanic – zum Zeitpunkt ihrer Indienststellung am 2. April 1912 das größte Schiff der Welt – liegt im nördlichen Atlantik in 3800 Metern Tiefe. Der Schiffskörper, der am 14. April 1912 etwa 300 Seemeilen südöstlich von Neufundland seitlich mit einem Eisberg kollidiert war, sank zwei Stunden und 40 Minuten später und zerbrach dabei in drei Teile, wobei zwischen Bug und Heck am Meeresboden heute eine Distanz von 600 Metern besteht. Trotzdem kann man dieses Menetekel menschlicher Hybris insgesamt ganz gut in den Blick nehmen. Und zwar trockenen Fußes. Nötig ist dazu nur ein kleiner Aufstieg – auf die Aussichtsplattform des Panometers in Leipzig, in dem die Szenerie auf einem 30 mal 100 Meter messenden Panoramabild festgehalten ist, einem Werk des in Wien gebürtigen Iraners Yadegar Asisi, dessen Wittenberger Panorama anlässlich des Reformationsjubiläums Renate Hoffmann kürzlich hier besprochen hat.
In der Begleitausstellung in Leipzig vermittelt ein maßstabgerechter Nachbau des Bugteils des Schiffes dem Besucher einen Eindruck von der eleganten Wuchtigkeit des Schiffes, das lediglich der Ästhetik wegen die Attrappe eines vierten, für den Antrieb überhaupt nicht benötigten Schornsteins trug, und vermittelt Einblicke in eine Epoche industrieller Entwicklung, als der massenhafte Einsatz von Stahl als Werkstoff das Tor zu neuen Dimensionen auch in anderen Bereichen (Wolkenkratzer, Brücken) aufstieß.
In einem Begleitfilm zur Ausstellung äußert der Künstler, dass das Schiffswrack für ihn nicht zuletzt ein Mahnmal für die Zugehörigkeit des Menschen zum Kreislauf der Natur sei und dafür, dass diese sich stets zurückhole, was jener ihr entrissen habe. Das verbinde das Wrack mit dem Walskelett im Mittelgrund des Bildes. Der bleibt allerdings realiter dermaßen im Dunkeln, dass die meisten Betrachter es übersehen – im Sinne von „gar nicht erst ausfindig machen“ – dürften. Schade dass auch Flyer und Katalog zur Ausstellung keinen Hinweis auf das Skelett und seine „Koordinaten“ enthalten.
Asisi übrigens hatte die Schauplätze seiner Panoramabilder in Vorbereitung ihrer Erstellung stets persönlich besucht, soweit sie noch existierten. Das wollte er auch für das Titanic-Projekt, es ist ihm aber nicht gelungen. Nachdem er sechs Jahre auf der Warteliste gestanden hatte, war der Wracktourismus eingestellt worden. Jetzt hätte er eine neue Chance: Ab 2018 bietet der Londoner Reiseveranstalter Blue Marbel Private wieder Trips zur Titanic an. Das Ticket zu 105.129  Dollar. Pro Person.

Alfons Markuske

Pückler in Babelsberg

Hermann Fürst von Pückler-Muskau war Lebemann und Gourmet, Globetrotter und dem schönen Geschlecht über Gebühr zugetan – von einer Orientreise brachte er sich eine für 100 Taler auf einem Sklavenmarkt gekaufte äthiopische Geliebte mit und mutete seiner Gattin Lucie, die Jahre zuvor zwar in die Scheidung eingewilligt hatte, aber bloß damit er sich durch eine neue „gute Partie“ entschulden könnte, die aber weiter mit ihm zusammenlebte, eine ménage à trois zu; er war Bestsellerautor und Abenteurer, der die Schlacht bei Königgrätz im deutsch-österreichischen Krieg von 1866, in den er sich freiwillig gemeldet hatte, nur durch widrige Umstände verpasste, doch das mit 80 Jahren; er war pathologisch eitel und gierte zeitlebens nach Titeln, Orden und Ehrenzeichen sowie einer reputierlichen Position in höchsten Kreisen. Was ihm im Großen und Ganzen gelang, denn er pflegte jahrzehntelang intensive Beziehungen zum preußischen Königshaus, insbesondere zum Kronprinzen, späteren König von Preußen und ab 1871 deutschen Kaiser Wilhelm I. und seiner Gattin Augusta. Ein Promi seiner Epoche, der als solcher höchstwahrscheinlich wenig Bleibendes für die Nachwelt hinterlassen hätte.
Aber Pückler hatte noch mehr drauf: Auf seinen Reisen und autodidaktisch sowie im Austausch mit Fachleuten seiner Zeit wie Peter Joseph Lenné, dem General-Gartendirektor der königlich-preußischen Gärten, entwickelte sich der Fürst zu einem führenden deutschen Landschafts- und Gartengestalter. Der grüne Daumen, das Talent dafür, war ihm offenbar in die Wiege gelegt worden, denn was er anpackte, gelang, wenn auch mit Hindernissen, Rückschlägen und bisweilen erst nach langjährigem Bemühen. Und so hinterließ er drei prachtvolle Parklandschaften, an denen auch wir Heutigen uns noch oder wieder erfreuen können: in Muskau an der Neiße, in Branitz nahe Cottbus und im Potsdamer Vorort Babelsberg.
Das dortige Schloss – ein Schinkel-Bau, um das der 120 Hektar große Park angelegt wurde – lag zuzeiten der deutschen Teilung im DDR-Sperrgebiet an der Grenze zu Westberlin und war samt zugehörigen Bauten weitgehend dem Verfall preisgegeben. Auch ein Teil des Parkes war Sperrgebiet. Im zugänglichen Rest, dem ebenfalls kaum gärtnerische Sorgfalt angedieh, war unter anderem ein Fußballplatz angelegt worden, auf dem sich die Studenten der benachbarten Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften der DDR sportlich betätigten – darunter der Schreiber dieser Zeilen.
Der Landschaftspark im englischen Stil ist inzwischen längst wieder ein gärtnerisches Kleinod von hohen Graden. Jetzt hat die Stiftung Preußische Gärten und Schlösser die Restaurierungsarbeiten im Inneren des Schlosses, die nach derzeitigen Planungen noch bis 2030 andauern werden, für einige Monate unterbrochen und die teilrestaurierte erste Etage für eine liebevoll kuratierte, facettenreiche Ausstellung über Pücklers Leben und speziell sein Wirken in Babelsberg geöffnet. Und wer noch nicht weiß, wie Speiseeis vor 150 Jahren hergestellt wurde – ohne Elektrizität und ohne Eismaschinen – der kann auch das dort lernen. Passenderweise, denn Pückler war zwar nicht der Erfinder der nach ihm benannten Schichttorte, aber der Namensgeber.

Clemens Fischer

„Pückler. Babelsberg. Der grüne Fürst und die Kaiserin“, Park Babelsberg, noch bis 15. Oktober; zu weiteren Informationen im Internet hier klicken!

Medien-Mosaik

Anlässlich ihrer Illustrationen zu Tucholskys „Zeitsparer“ haben wir Franziska Walther hier schon in Nr. 15/2014 hymnische Elogen gewidmet. Vor vier Wochen hat sie nun ihr erstes Bilderbuch vorgelegt. „Hoch hinaus“ erzählt die laut Vorwort wahre Geschichte von einem jungen Elch, der unvermittelt in einer ostdeutschen Stadt (etwa Weimar, Walthers Zuhause?) auftaucht. Wie sich das entwickelt, schildert die Grafikerin in farbigen, ganzseitigen Abbildungen ganz ohne Worte (wenn man von der einmaligen Verwendung des Erikativs absieht). Der Elch bedient sich in der Hutabteilung eines Kaufhauses, rollt ganz nach oben und gelangt aufs Dach, wo ihn die Sehnsucht nach der Ferne übermannt. Dass er von dort entkommen kann, ist so phantastisch, dass es sich Kinder und Erwachsene gemeinsam ansehen sollten!
Franziska Walther: Hoch hinaus, kunstanstifter verlag, Mannheim 2017, 40 Seiten, 22 Euro.

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Der Chemnitzer Photograph Guido Seeber (1879–1940) interessierte sich schon Ende des 19. Jahrhunderts für den Film und seine Technik und stellte schon mit 19 Jahren in seiner Heimatstadt gemeinsam mit seinem Vater die ersten selbst gedrehten Filme vor. Er entwickelte sich zu einem der wichtigsten Kameramänner der Stummfilmzeit (seine bekanntesten Filme waren „Der Student von Prag“ mit Paul Wegener, 1913, und „Die freudlose Gasse“ mit Greta Garbo, 1925), und ihm verdanken wir die Filmstadt Babelsberg. Für die Deutsche Bioskop-Filmgesellschaft entdeckte er 1912 das weiträumige Gelände vor den Toren Berlins, auf dem sich später die Ufa und noch später die DEFA ansiedelten. Ab etwa 1925 betrieb Seeber umfangreiche Studien zur Geschichte der Filmtechnik und erarbeitete ein flüssig geschriebenes Buchmanuskript, das nach seinem frühen Tod nur in Auszügen veröffentlicht wurde.
Akribisch in den Details und den Erkenntnissen seiner Zeit verhaftet ist dieses Buch Seebers, wie man es dank der Deutschen Kinemathek in Berlin jetzt entdecken kann. Weil für derartige Fachbücher Verlage schwer zu begeistern sind, ist das Buch so, wie es sich Seeber vorstellte, jetzt als Online-Publikation erschienen. Der Filmhistoriker Ralf Forster hat es aus verschiedenen Manuskriptteilen zusammengefügt und mit Anmerkungen versehen, die auf weitere seitherige Erkenntnisse verweisen und zurechtrücken, wo Seebers Blick vielleicht zu subjektiv war, etwa im Erfinder-Streit mit Max Skladanowsky, dem Berliner Filmpionier.
Die späte Veröffentlichung ist für Interessenten der Technikgeschichte (nicht nur des Films) ein Schatz, der noch größer wäre, wenn die Herausgeber (Redaktion Karin Herbst-Meßlinger) die knapp 600 Bilder aus Guido Seebers Nachlass durch passende Abbildungen aus dem Archiv der Kinemathek ergänzt hätten.
Guido Seeber: Der kinemathografische Aufnahmeapparat, Deutsche Kinemathek, Berlin 2017, abzurufen im Internet.

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Auf zahlreichen Festivals zwischen Locarno, Istanbul und Denver konnte der portugiesische Regisseur João Pedro Rodrigues für seine französisch-brasilianische Ko-Produktion Preise entgegennehmen. Tatsächlich hat er mit „Der Ornithologe“ einen ebenso faszinierenden wie verwirrenden Film geschaffen, der in seiner metaphernreichen Umsetzung an Vorbilder erinnert: Márquez, Pasolini oder (wer sich mit der DEFA auskennt) auch Herwig Kipping. Der Ornithologe und Naturfreund Fernando (so übrigens der ursprüngliche Name des Heiligen Antonius) hat in unwegsamem Gelände einen Bootsunfall und versucht, zu seinem Wagen zurückzufinden. Dabei kommt es zu sehr widersprüchlichen Begegnungen mit Menschen und Tieren. Bewusst hinterfragt Rodrigues Dogmen der christlichen Religion im Sinne Sebastians, provoziert durch das Nacktbad mit einem Jesus und die anschließende Liebesszene der beiden Männer. Immer aber durchweht den Film die Aufforderung, die Natur in allen ihren Formen als Partner der Menschheit ernst zu nehmen.
Der Ornithologe, Regie João Pedro Rodrigues, Edition Salzgeber, seit 13.7. in ausgewählten Kinos.

bebe

Über die Verrücktheit der gesellschaftlichen Zustände

Das Sommerheft 2017 der Wiener Streifzüge widmet sich dem Gebrauchswert. Autor und Redakteur Franz Schandl schreibt: „Wir sind unbelehrbar. Das Dechiffrierungsprogramm aller gesellschaftlichen Werte und ihrer fetischistischen Selbstverständlichkeitenhat nach wie vor seinen Reiz. Die Geilheit scholastischer Exgese, die nicht anderes ist als Transformationskunde in den Eingeweiden, möge man uns nicht nur nachsehen. […] Sie sollten sich vielmehr durchaus darauf einlassen. Nachher geht , Ihnen zwar nicht besser, aber die Ahnung über die gesellschaftlichen Zustände und das Staunen über deren Verrücktheit wird größer.“
Acht Beiträge rund um den Gebrauchswert – von Marx bis zu „Nützlichkeit verdummt!“ und Roman Rosdolskys (1898–1967) „Der esoterische und der exoterische Marx“ sowie „Der beruhigende „ Terror des Geldes (Peter Samol) und „Die Diktatur des Effizienzdenkens“ (Marianne Gronemeyer) sollten neugierig machen.
Mehr unter Streifzüge. Magazinierte Transformationslust.

mvh

Aus anderen Quellen

Mit dem Namen des amtierenden Präsidenten der Philippinen, Rodrigo Duterte, verbinde man, so heißt es im Teaser des Beitrages von François-Xavier Bonnet, „vor allem den brutalen Antidrogenkrieg. Was kaum bekannt ist: Der Präsident will den Bergbau zugunsten des Umweltschutzes herunterfahren, das rohstoffreiche Exportland industrialisieren und die Homo-Ehe einführen.“
François-Xavier Bonnet: Philippinische Hoffnungen in Zeiten des Terrors. Le Monde diplomatique (online), 08.06.2017. Zum Volltext hier klicken.

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„Sucht man im Netz derzeit nach Stichworten wie ‚Russia‘ und ‚Cyberwar‘ kann einem Angst und Bange werden“, vermerkt Wolfgang Stieler und fährt fort: „Wired zum Beispiel brachte das Thema jüngst sogar auf den Titel: ‚Wie ein ganzes Land zum Testlabor für den russischen Cyberkrieg wurde‘, überschrieb das Zentralorgan der Silicon-Valley-Hipster seine düstere Geschichte. Tenor: In der Ukraine testen die Russen ihre Cyberwaffen. Vergangenes Jahr im Dezember haben sie bei einem Angriff auf die Stromversorgung gezeigt, was sie können, und niemand weiß, was als nächstes kommt.“ Für Stieler Grund genug, einige prinzipielle Fragen zu stellen: „Wenn Sicherheitsexperten, die ihre Quellen in der Regel nicht offen legen, mit ihren Aussagen suggerieren, dass investigativer Journalismus nur dem Feind nützt, werde ich stutzig. Wenn die selben Experten mir erzählen, dass ‚Kritik am westlichen System‘ nur destabilisierend wirken soll, werde ich hellhörig. Wer steuert hier wen und warum?“
Wolfgang Stieler: Die Russen kommen,
Technology Review (online), 28.06.2017. Zum Volltext hier klicken.

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Der Beitrag von Ulli Kulke ist zwar schon ein paar Jahre alt, geht aber einer „zeitlosen“ Frage nach: „Erinnert sich noch jemand? In den 70-Jahren war sich die Mehrheit der zuständigen Wissenschaftler und die Medien einig, vor einer neuen Eiszeit zu stehen, weil die globalen Temperaturen zuvor gesunken waren. Was aus der Rückschau von heute besonders auffällt: Die erwarteten Folgen glichen denen, die heute im Zusammenhang mit der Erderwärmung diskutiert werden, wie ein Ei dem anderen: Unbewohnbarkeit der Erde, Extremereignisse, Hurrikane, Dürren, Fluten, Hungerkrisen und andere Katastrophen, die CIA erwartete Klimakriege. Auch machte man den Menschen verantwortlich für den sich abzeichnenden Klimawandel.“
Ulli Kulke: Weltklima-Szenarien. Als uns vor 30 Jahren eine neue Eiszeit drohte, WELT.N24, 10.12.2009. Zum Volltext hier klicken.

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„Die Industriepolitik der EU ist wie ein Ufo“, beginnt Jean-Michel Quatrepoint. „Es wird viel darüber gesprochen, man vermutet, dass es sie wirklich gibt, aber niemand weiß, wie sie genau aussieht. Wer an ihre Existenz glaubt, macht sie an einem Begriff fest: Airbus.“ Doch in Wahrheit sei der Erfolg von Airbus eine Ausnahme. „Sogar die Leute, die für die Geschicke des Projekts verantwortlich waren, glauben nicht, dass es etwas Ähnliches noch einmal geben wird.“
Jean-Michel Quatrepoint: Ein Ufo namens Airbus, Le Monde diplomatique (online), 08.06.2017. Zum Volltext hier klicken.