20. Jahrgang | Nummer 10 | 8. Mai 2017

Martinus zu Ehren

von Renate Hoffmann

In die Stadt an der Elbe, zur „Wittenbergischen Nachtigall“, und mitten hinein in das Jahr der Reformation, dem historischen Wendepunkt. Er gleicht einem ins Wasser geworfenen Stein, der kreisförmige Wellen treibt. Sie dehnen sich aus. Weiter, immer weiter. Hans Sachs hat das Ereignis besungen. Die Wellen erreichten Nürnberg beizeiten: „Die wittembergisch nachtigal, die man iezt höret überal. – Wacht auf, es nahent gen dem tag! / ich hör singen im grünen hag / ein wunnikliche nachtigal; ir stim durchklinget berg und tal. / die nacht neigt sich gen occident, / der tag geht auf von orient, / die rotbrünstige morgenröt / her durch die trüben wolken get, …“ Diesen Worten wollte ich nachgehen, denn aus ihnen klingt die „Idee der Freiheit eines Christenmenschen“.
Der mächtige, hohe Rundbau, in dem sich die Dramatik des Jahres 1517 nachvollziehen lässt, ragt in der Lutherstraße in den Wittenbergischen Himmel. Yadegar Asisi (geboren 1955 – Architekt, Maler, vielbegabter, ideenreicher Künstler) gestaltet Panoramen großen Ausmaßes; unter anderem zu geschichtlichen Ereignissen, naturwissenschaftlichen Themen und Naturerlebnissen. Seine illusionären Kunsträume entfalten suggestive Kraft und erwecken den Eindruck, man sei in das Geschehen einbezogen. Bild, Ton, Licht und Raum, kongenial zusammengeführt, schaffen dieses Phänomen. – Asisi entwirft im Luther-Panorama ein Bild der Zeit, der lokalen Umstände, deutet Hintergründe an, die das Ereignis auslösten und lässt Heil und Unheil ahnen, die entstehen werden.
Ich betrete das Wittenberg von 1517. Es liegt im violetten Dunkel der Nacht. Das Auge gewöhnt sich nur allmählich an das mittelalterliche Stadtbild, angezeigt durch die erhellten Fenster der Schlosskirche und hier und da aufblinkende Lichter. – Mit der Morgendämmerung erwacht das Leben. Orgelklänge verkünden die Frühmesse. Bei volltönender Musik geht die Sonne auf und enthüllt Szenen von überquellender Geschäftigkeit. Komödianten und Gaukler ziehen durch die Gassen, von Neugierigen begleitet. Ein Moritatensänger schreckt die Umstehenden mit Bildern vom Fegefeuer und gefährdet ihr Seelenheil. Sie werden gleich auf und davon laufen, um sich einen Ablassbrief zu kaufen. Pilger und Wallfahrer sind unterwegs. Händler vertreiben ihre Waren. Und Studenten – Wittenberg besitzt seit 1502 eine hochgeschätzte Universität – beleben den Platz.
Stimmengewirr, Kindergeschrei, Rufe, Spatzengezeter und Trompetenschall; Hundegebell, Wassergeplätscher und Hammerschläge der Steinmetze, die eine Skulptur bearbeiten. Pferdegetrappel auf dem alten Pflaster. Lachen und Weinen.
Es ist der Tag vor der Ausstellung des „Heiltums“, einer Reliquiensammlung des Landesherrn Kurfürst Friedrich III., genannt „Der Weise“. Er ist ein frommer Mann und besitzt eine der größten Sammlungen dieser Art. Einmal im Jahr, am 1. November, wird das „Heiltum“ allen Gläubigen gezeigt. Das lockt viel Volk nach Wittenberg. Man erhofft sich gute Geschäfte. Besonders für den Ablasshandel. Der wird von Kirche und Kurfürst sanktioniert. Zu Gunsten beider.
Doktor Martin Luther, Professor an der Universität „Leucorea“ (Weißer Berg = Wittenberg), empört sich darüber und formuliert in 95 Thesen, lateinisch abgefasst, seine Meinung zu dem Missbrauch. Sie sind ausdrücklich als Diskussionsgrundlage in Gelehrtenkreisen gedacht und werden auch dem Erzbischof Albrecht von Magdeburg, ebenso Johannes Tetzel, dem geschäftstüchtigen Ablassverkäufer zur Kenntnis gegeben. – Das Anbringen der Lehrsätze an der Schlosskirche ist rechtens, denn sie gilt gleichzeitig als Universitätskirche, und die Kirchentür dient als „Schwarzes Brett“ für Mitteilungen.
These 36: Jeder Christ, der wirklich bereut, hat Anspruch auf völligen Erlass von Strafe und Schuld, auch ohne Ablassbrief. / These 67: Der Ablass, den die Ablassprediger als außerordentliche Gnaden anpreisen, kann tatsächlich dafür gelten, was das gute Geschäft anbelangt. / These 86: Warum baut der Papst, der reicher ist als der reichste Crassus, nicht wenigstens die Kirche St. Peter lieber von seinem eigenen Geld, als dem der armen Gläubigen? – Gewissensfrage an das Oberhaupt der Kirche!
Erregter Disput vor der Schlosskirche. Vertreter der Universität, Ordensbrüder und Studenten in heftiger Auseinandersetzung mit Luther. Martinus ist ein gewaltiger Redner, er hält seine Schriften hoch und versucht lautstark zu überzeugen. – Inzwischen verlässt Friedrich unter Trompetengeschmetter das Schloss. Thomas Müntzer, Theologe, Rebell, Hitzkopf, stellt sich dem Kurfürsten in den Weg. Luther ist bemüht, Müntzer aufzuhalten, ehe der seine revolutionären Parolen herausschreien kann. – Nebenan in der Amtsmühle herrscht Hochbetrieb. Bauern bringen ihr Getreide, von dem sie einen erklecklichen Teil abgeben müssen. Bettler und Invaliden in traurigem Zustand. Ein Jude, kenntlich am gelben Hut, wird der Stadt verwiesen. Man schaut tatenlos zu … Vor der Schänke blüht der Ablasshandel.
Ein Blick zum Kirchendach. Dort schaut ein junger Mann aus der Luke, von Tauben umflattert. Es soll „Bastel“, einer der beiden Söhne des unverheirateten Friedrich sein, die ihm seine Gefährtin Anna Weller schenkte. „Bastel“ betreibt auf dem Kirchenboden eine Taubenzucht. Zum Vergnügen und zum Verzehr. Aus einer Öffnung am Schlossturm wird soeben der herrschaftliche Nachttopf entleert. Hunde trotten über den Platz und betrachten ihr Spiegelbild in den Pfützen. Schafe und Schweine werden durch das Gedränge getrieben. Man wundert sich, wie die Ochsenkarren dazwischen noch ihren Weg finden.
Die Fenster der Propstei erlauben Einblicke in Luthers Privatleben. Martin beim Ankleiden, „Herr Käthe“ sitzt auf der Bettkante. Martin lehrt seine Kinder; einer der Lutherschen Knaben (Johannes, „Hänschen“?) ist nicht bei der Sache. Martin und seine Freunde Melanchthon, Bugenhagen und Jonas plagen sich mit der Übersetzung des Alten Testamentes. Martin, Melanchthon und Erasmus Reinhold, Astronom und Mathematiker, beobachten in der Januarnacht 1538 einen Kometen. (heute bekannt als C / 1538 A 1)
Es ist die Zeit des Umbruchs. Der Buchdruck ist erfunden, Reisen in ferne Länder öffnen das Weltbild. – In Hintergrund steht die gaffende Menge vor dem Vollzug einer Hexenverbrennung. Im Vordergrund beugen sich zwei Männer über den Globus. Erstdrucke der Lutherschen Schriften und Bibeln werden in Fässern verpackt und auf diese Weise transportiert und verbreitet. Unweit sind zwei Herren im Gespräch. Wer hätte sie hier vermutet: Lucas Cranach und Albrecht Dürer. Beide Künstler waren dem Ruf des kunst- und bildungsbeflissenen Kurfürsten gefolgt und stellten ihr Können zeitweilig oder gar längerfristig in seine Dienste.
Aus der Schlosskirche dringt Chorgesang; das Vesperläuten setzt ein. Dämmerung senkt sich über das mittelalterliche Wittenberg. Aus den Schornsteinen steigt Rauch auf. Die Oktobernacht wird kühl werden.