von Stephan Wohanka
… das fragte man mich an einer Kaffeetafel im Familienkreis. Die Frage folgte aus dem Eklat um die Wiederwahl von EU-Ratspräsident Donald Tusk. Polens nationalkonservative Regierungspartei PiS hatte sich strikt gegen die Wiederwahl des Polen Tusk gewandt, der Ministerpräsident einer Vorgängerregierung war. Trotzdem bestätigten die übrigen 27 EU-Länder den seit 2014 amtierenden Tusk; einzig Polen stimmte gegen ihn – und kritisiert Deutschland: „Wir wissen jetzt, dass es eine EU ist, in der Berlin den Ton angibt“ sagte der polnische Außenminister Witold Waszczykowski.
„Deine Polen“ rührt daher, dass ich aufgrund persönlicher Lebensumstände eine Affinität zu Polen gelebt habe – also was ist los in Polen? Die derzeitige polnische Regierung betreibt Geschichtspolitik – eine aus politischen Gründen formulierte, parteiische Interpretation von Geschichte mit dem Versuch, die Bevölkerung zur Durchsetzung politischer Ziele von dieser Interpretation zu überzeugen. Das haben Blättchen-Autoren schon überzeugend dargestellt. Ich will deren Sicht noch eine hinzufügen – eine aus historisch-nationalmythologischer Perspektive: An Polen zeigt sich exemplarisch, wie zuverlässig nationale Mythen auch moderne Demokratien zu steuern vermögen.
Dass die polnisch-litauische Adelsrepublik Ende des 16. Jahrhunderts zu einem der größten Flächenstaaten Europas geworden war, ist im deutschen Geschichtsbewusstsein kaum präsent. Weit mehr Beachtung fand der Niedergang dieser „Rzeczpospolita szlachecka“ gegen Ende des 18. Jahrhunderts, der schließlich in die drei Teilungen Polens durch Preußen, Russland und Österreich in den Jahren 1772, 1793 und 1795 mündete. Ohne auf weitere Details einzugehen – ein Grund dafür lag im Prinzip der Einstimmigkeit, dem Liberum veto, ein Menetekel auch für die heutige EU?
Bis zum Ersten Weltkrieg gab es einen polnischen Staat nicht mehr. Grundlegend für das Verständnis der Vorgänge im heutigen Polen ist, wie diese nationale Katastrophe verarbeitet und wie das für die Menschen sinnhaft wurde. Prägend dafür sind die Mythen der polnischen Romantik, namentlich der polnische Messianismus. Den gibt es sozusagen in doppelter „Ausfertigung“, geschaffen von zwei Nationaldichtern, ja „Nationalpropheten“: Adam Mickiewicz (1798–1855) und Juliusz Słowacki (1809–1849). Beide ruhen im nationalmythischen Heiligtum, dem Königsschloss auf dem Wawel in Kraków. Auf dem Hintergrund verschiedener gescheiterter kriegerischer Erhebungen und Aufstände gegen die Besatzungsmächte Polens schuf Ersterer die Idee von Polen als dem „Christus der Völker“, nach der das polnische Volk zum Erlöser aller Nationen wird. Letzterer sprach von „Polen als dem Winkelried der Völker“; setzte Polen also mit der mythisch-schweizerischen Figur Arnold Winkelrieds gleich, der 1386 in der Schlacht von Sempach ein Bündel Lanzen habsburgischer Ritter gepackt und, sich selbst aufspießend, den Eidgenossen so eine Bresche geöffnet haben soll. Historisch irrtümlich hat man ihm den auf Theodor Körner zurückgehenden Ausruf „Der Freiheit eine Gasse“ zugeschrieben, der desgleichen zum geflügelten Wort der deutschen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts geworden war. Kurz gesagt, funktioniert der polnische Messianismus so: Polen nahm durch seinen Untergang im 18. Jahrhundert das Leid aller Völker auf sich, so wie der Messias es für alle Menschen getan hat, um sie zu erlösen. Als Gegenreaktion darauf und „den Romantismus in der Poesie und den Idealismus in der Politik“ kamen in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss ausländischer Ideen starke positivistische Strömungen auf.
Polen war die einzige der „historischen Nationen“ Europas (Friedrich Engels), in der sich die sozialistische Bewegung unter Bedingungen nationaler Unterdrückung entfaltete. Als junger Sozialist gab der spätere starke Mann Polens Józef Piłsudski die Order aus: „Romantismus der Ziele, Positivismus der Mittel“. So wird verständlich, dass sich die polnische Staatlichkeit nach 1919 bis in die realsozialistische Ära hinein und über sie hinaus von diesem religiös-romantisch-positivistischen Erbe nicht wirklich frei zu machen vermochte. 1985 war zu lesen: „… dieses Mal (in den 80er Jahren – St.W.) erscheint als historische Bremse der wiederbelebte messianische Geist“, und dies gerade dann „wenn das Leben kosmische Beschleunigung erfährt […] Die an den polnischen Köpfen durchgeführte Operation gibt ihnen auf, die eigene Gegenwart zu hassen und mythisch die hehre Vergangenheit zu ehren…“
Als der polnische Präsident Lech Kaczyński zusammen mit führenden Persönlichkeiten des Landes im April 2010 in einem Wald bei Smolensk mit dem Flugzeug verunglückte, war das eine Steilvorlage für das polnische „Märtyrertum“. Das Unglück geschah nämlich im selben Wald, in dem auch Katyn, der Ort des Massakers an polnischen Offizieren durch den sowjetischen Geheimdienst im Jahre 1940, liegt: Smolensk wurde zu Katyn und Katyn zu Smolensk. Weshalb es nationalkonservativen Kreisen um den Zwillingsbruder des Präsidenten, den heutigen PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczynski, berechtigt erschien, vom Flugzeugunglück im gleichen Duktus zu reden wie über das Verbrechen von Katyn, also von politischen Opfern, von Auslöschung der Elite und von „kaltblütigem Mord“, da der Absturz ein Anschlag auf die Präsidentenmaschine gewesen sei, bei Mitwisserschaft der Regierung Tusk und möglicher Beteiligung des russischen Geheimdienstes. Das Verhältnis zu Russland ist, natürlich auch aus anderen Gründen, bis heute zerrüttet.
Selbstredend wurde der tote Präsident nebst Gattin desgleichen auf dem Wawel unter starker Anteilnahme der Bevölkerung beerdigt. Das geschah noch während der Amtszeit Tusks, aber unter massivem Druck der 2001 gegründeten PiS. So befremdlich und anachronistisch die allegorische Überfrachtung eines Flugzeugabsturzes und die Inszenierung auf dem Wawel in der Welt auch immer ankamen: Es sind dies die ideell-symbolischen Formen, die dem Land zur Selbstdarstellung gegenüber dem Ausland dienen; so will es gesehen werden, heute mehr denn je.
Mit der eingangs erwähnten Abstimmung isolierte sich Polen selbst; nicht einmal die übrigen Visegrád-Staaten und EU-Mitglieder Tschechien, Slowakei und Ungarn votierten mit Polen. Und Schuld ist das „tonangebende Berlin“. Mit Russland verkracht, von Deutschland majorisiert – die alten Feindbilder sind also wieder virulent. Das heutige Polen handelt auf der Weltbühne wieder nicht als aufgeklärte, selbstbewusste Demokratie (wofür seine Geschichte auch gute Voraussetzungen böte), sondern als trauriges Beispiel dafür, wie – oben gesagt – zuverlässig nationalmythische Ideenwelten die Politik in modernen Demokratien zu steuern vermögen.
Schlagwörter: Donald Tusk, EU, Geschichtspolitik, Jarosław Kaczyński, Polen, Stephan Wohanka