20. Jahrgang | Nummer 6 | 13. März 2017

Der Westen & Russland – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

Im vorangegangenen Beitrag dieser Reihe hatte es unter anderem geheißen: „Es gehört offenbar zu der der Geschichte eigenen Ironie, historische Lektionen mit dem Abtreten maßgeblicher Beteiligter binnen einer Generation weitgehend in Vergessenheit geraten zu lassen. Was derzeit in den politischen Feuilletons der inländischen Leitmedien an strategischen Überlegungen, Rezepten und Konzeptionen ventiliert wird, liefert leider für die Berechtigung dieser Befürchtung überreichlich Beispiele.“ Es folgten drei konkrete derselben. Hier einige weitere.
Beispiele vier, fünf und sechs: Donata – was gewöhnlich als „die (von Gott) Geschenkte“ verstanden wird – Riedel ist Hauptstadt-Korrespondentin beim Handelsblatt und leitartikelt regelmäßig zu sicherheitspolitischen Themen, respektive meldet sich mit anderen Formaten zu Wort und vertritt dabei Auffassungen, wie sie auch in den meisten anderen deutschen Leitmedien seit einigen Jahren (wieder) dominieren. So teilte die Kollegin jüngst unter der Überschrift „Ungeliebtes Militär“ mit: „[…] wohl jeder wünscht sich ein freundliches Verhältnis zu Russland, ein Ende der Kriege im Nahen Osten und prosperierende afrikanische Staaten, in denen Terroristen keine Rückzugsorte finden. Leider wird das ohne militärische Stärke nicht zu erreichen sein.“ Soll im Umkehrschluss offenbar heißen: Mit noch mehr militärischer Stärke ließe sich den angesprochenen Zielen näher kommen.
Dies weismachen zu wollen setzt allerdings eine gehörige Portion Chuzpe oder Selbsttäuschung voraus – nach dem, was die militärische Stärke der USA und ihrer jeweiligen Mittäter oder solcher Akteure wie Saudi-Arabien bisher schon in Afghanistan, im Irak, in Libyen, in Syrien und im Jemen angerichtet hat. Und was Russland anbetrifft, so ist noch zu keinem Zeitpunkt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein freundliches Verhältnis zu Moskau durch Säbelrasseln befördert oder gar herbeigeführt worden.
Das klammert die Kollegin geflissentlich aus, denn ihr geht es um etwas ganz anderes. Um das erkannte Defizit nämlich, dass „sich das größte und reichste Land des Kontinents in militärischer Abstinenz übt“ – Deutschland, mit lediglich „1,2 Prozent vom BIP“ jährlich fürs Militär. Das sind inzwischen immerhin 36 Milliarden Euro, und wenn das Abstinenz ist, dann will man gar nicht mehr wissen, wo bei der Kollegin womöglich Völlerei einsetzte.
Ein leitender staatlicher Angestellter wie Karl-Heinz Kamp, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, sekundiert derartigen Ansichten, wenn er im Interview mit der Frankfurter Allgemeine Woche im Hinblick auf die Verteilung der NATO-Militärlasten zwischen den USA und den europäischen Paktstaaten meint: „Der materielle Beitrag der Europäer ist einfach zu gering.“
Ist es in dieser Debatte einerseits schon unsinnig, das über alle Maßen aufgeblähte US-Militärbudget als Vergleichsmaßstab zugrunde zu legen, wie es implizit immer wieder geschieht, so ist es andererseits zugleich Fakt, dass zum Beispiel gegenüber dem neuen (alten) Hauptfeind Russland allein Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Jahre 2016 mit 145 Milliarden US-Dollar an Militärausgaben fast doppelt so viele Mittel wie Moskau (66,4 Milliarden) einsetzten.
Vernünftige, rational nachvollziehbare Gründe dafür, die deutsche Rüstung wieder hochzufahren, haben Riedel und Kamp jedenfalls ebenso wenig zu bieten wie die Bundesverteidigungsministerin. Ursula von der Leyen hat dieses Manko in ihrer Eröffnungsrede zur diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz mit politischer Lyrik kaschiert: „Wir Deutschen haben verstanden, dass wir nach einer Periode, in der wir die Vorzüge einer Friedensdividende nutzen konnten, jetzt beharrlich investieren müssen in eine Sicherheitsrücklage.“
Bleibt derzeit nur zu hoffen, dass die Bundestagswahl im September die politischen Rahmenbedingungen so setzt, dass dieser Problematik anschließend auf Regierungsebene mit mehr Substanz begegnet werden kann.
Letzteres erscheint umso dringlicher geboten, damit nicht noch ganz andere, weit abenteuerlichere Überlegungen Gewicht in der Debatte erlangen. Zum Beispiel solche, wie sie Adam Tooze, seines Zeichens britischer Wirtschaftshistoriker, derzeit mit Lehrauftrag an der Columbia University in New York, jüngst im Wochenblatt DIE ZEIT ausbreiten durfte: „Deutschland wäre durchaus in der Lage, sich, notfalls auch allein, strategisch unabhängig zu machen. Russlands Militärausgaben belaufen sich auf circa 75 bis 95 Milliarden Euro, das ist weniger als das, was Deutschland ausgeben würde, hätte es das Niveau von 1988 (circa 2,8 bis drei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt) beibehalten.“
Beispiele sieben und acht: „Braucht die EU die Bombe?“, fragten Peter Dausend und Michael Thumann in DIE ZEIT, während Maximilian Terhalle, unter anderem Senior Research Fellow an der London School of Economics, sein Denken im Tagesspiegel gleich unter der apodiktische Überschrift „Nuklearwaffen gegen Russland. Deutschland braucht Atomwaffen“ offerierte. Diese Autoren widmeten sich folglich einem derzeit im politischen Feuilleton abschreckungsverhafteter Medien häufiger ventilierten Thema. Auf des FAZ-Mitherausgebers Berthold Kohler Einlassungen dazu war im Blättchen, Ausgabe Nr. 2/2017 bereits eingegangen worden.
Dausends und Thumanns Ausgangspunkt: Donald Trump habe „gerade mal zwei Sätze benötigt, um das rückhaltlose Vertrauen der Europäer in die nukleare Schutzgarantie der Supermacht zu zertrümmern: ‚Die Nato ist obsolet‘, lautet der eine. Und der andere: ‚Die Länder, die wir verteidigen, müssen dafür bezahlen. Tun sie das nicht, müssen die USA bereit sein, diese Länder sich selbst verteidigen zu lassen.“ Offenbar eine Horrorvision, denn die Autoren menetekeln: „Gerade nicht-nukleare Staaten wie Deutschland stecken in einem tiefen Dilemma, sollten die USA nicht mehr bedingungslos für sie einstehen.“
Ein Blick in die Geschichte provoziert allerdings die Frage, wann die USA das jemals getan hätten. Nach dem Mauerbau von 1961 jedenfalls nicht. Da war Kennedy klug genug, keinen Atomkrieg um Westberlin und um Westdeutschland willen zu riskieren (und das Adenauer auch unverblümt zu verstehen zu geben). Anzunehmen, dass ein heutiger US-Präsident grundsätzlich anders handelte, kann nur in Glauben wurzeln, nicht in Wissen.
Daher wohl auch Terhalles Radikaltherapie: „Die zentrale strategische Frage für 2017 lautet […]: Wie kompensiert Deutschland den möglichen Wegfall des nuklearen Abschreckungsschirms? Die umfassende atomare Bewaffnung Deutschlands ist das zentrale Mittel […].“ Wie schon Kohler meint auch dieser Stratege, den misslichen Sachverhalt ignorieren zu dürfen, dass im Falle eines auf die nukleare Ebene eskalierenden militärischen Zusammenstoßes mit Moskau nicht Verteidigung, nicht Wiederherstellung der Sicherheit oder gar Sieg zur Debatte stünden, sondern (gemeinsames) finales nukleares Inferno. Wem eine solche Aussicht nicht Motiv genug ist, nach anderen Problemlösungen Ausschau zu halten, dem sollten sich selbst als seriös und ernsthaft definierende Medien nicht widerspruchslos ihre Seiten öffnen. Sonst degeneriert der Aufklärungsauftrag zur Leserverdummung.
Die politische Phantasie der beiden ZEIT-Autoren reicht im Übrigen auch nur bis zu einer wenig erbaulichen Alternative: „Die Deutschen könnten […] bald vor einer harten Wahl stehen. Entweder sie beteiligen sich finanziell an einer modernisierten französischen Force de Frappe und bekommen dafür einen begrenzten Einfluss auf eine europäisierte französische Atompolitik. Oder sie entscheiden sich dafür, das Problem genauso zu verdrängen wie die Nato selbst und sehen in Donald Trump – egal, was er macht – einen verlässlichen Partner, der die Sicherheit Europas garantiert.“
Man könnte, statt sich sicherheitspolitisch nur immer weiter im Kreise zu drehen, aber auch die Perspektive wechseln – wie weiland Egon Bahr in seiner berühmten Tutzinger Rede von 1963. Auf den hier debattierten Kontext bezogen, wäre Bahrs damaliger und späterer Kerngedanken heute folgendermaßen zu formulieren: Die Voraussetzungen zur deutschen und europäischen Sicherheit sind nur mit Russland zu schaffen. Sie sind nicht gegen Russland zu bekommen, nicht ohne es.
Oder anders formuliert: gleichberechtigte Sicherheitspartnerschaft mit Russland als Dreh- und Angelpunkt einer künftigen Friedensordnung in und für Europa.
Die Demokratische Linke in der SPD hat sich zu dieser Frage kürzlich folgendermaßen positioniert: „Wir streben langfristig eine inklusive (also Russland einschließende – W.S.) Sicherheitsarchitektur für ganz Europa an, die die NATO perspektivisch überflüssig macht.“
Das wäre eine Möglichkeit. Weitere sind denkbar, wie ich in einem früheren Beitrag (Blättchen-Ausgabe 6/2016) ausgeführt habe.