von Herbert Bertsch
„Der Sozialismus wird erst siegen,
wenn es ihn nicht mehr gibt.“
Kurt Tucholsky im „Sudelbuch“
Das ist gewiss kein wissenschaftlicher Befund, passt aber ganz gut in die politische Landschaft. Nun gibt es keinen Sozialismus mehr als „Störfaktor“ in der Welt, dennoch diese düstere Bestandsaufnahme derselben: „Die Zukunft leuchtete hell. Die zunehmende internationale Verflechtung der Wirtschaft, der Politik, der Kultur und der Wissenschaft würde den allgemeinen Wohlstand mehren, so die weit verbreitete Annahme.“ Der Konjunktiv deutet an, dass der Textspender zumindest jetzt nicht zu den Verwunderten gehören möchte. Denn: „Die gewohnte Ordnung scheint in Auflösung begriffen – politisch, gesellschaftlich, ökonomisch. Was die Wirtschaft im engeren Sinne betrifft, so hat die heute dominierende Analyse kaum noch etwas mit der Heilsbotschaft der Jahrtausendwende zu tun: Wohlstandszuwächse fallen, bestenfalls, schmal aus. Das Produktionswachstum tendiert gegen null. Der Welthandel stagniert. Der Boom in den Schwellenländern ist vorbei. Die weltweiten Schulden sind auf Rekordhöhe. Dazu kommt die heraufziehende demographische Krise, die der Wirtschaft jegliche Dynamik nimmt. Es herrscht ‚säkulare Stagnation‘ (wie Ex-US-Finanzminister Larry Summers nicht müde wird zu verkünden), die wiederum in politische Instabilität mündet.“
Der dies mit starken Auflagen wissenschaftlich und populär auflistet, ist Henrik Müller, Professor für Journalistik mit Wirtschaft im Fokus, ohne geringsten Anhauch „linker“ Provenienz. Ist auch am vergangenen Sozialismus mit Theorie und Praxis nur mäßig interessiert, dafür aber mit starker Absicht, den dahinsiechenden Kapitalismus rasch durch ein funktionierendes System bei weiter bestehenden Grundformen des Eigentums abzulösen: „Es ist Zeit für einen konstruktiven Realismus“.
Von der bedrohlichen Bestandsaufnahme und Lösungsvorstellungen handelt sein jüngstes Buch mit dem reißerischen Titel „Nationaltheater“. Dabei geht es nicht nur material- und gedankenreich um das Schicksal der Welt, sondern dezidiert auch um Deutschland als „Exportweltmeister“. Er bekämpft dazu die „neuen Nationalisten“, die das grundgelegte „deutsche Geschäftsmodell“ infrage stellen, freilich ohne genaue inhaltliche Definition, wer das ist und aus welchen Interessen politisch so gehandelt wird. Aber dass es mindestens zwei Fraktionen der Großbourgeoisie dabei gibt, steht gleichsam vor der Klammer.
Nun hat sich in jüngster Zeit im Umfeld der auch von Müller zutreffend analysierten Zustände, möglicherweise auch als Konsequenz dessen, allerlei Neues beim Denken und Wahrnehmen von objektiven Widersprüchen ergeben: In Sonderheit Interesse bis Akzeptanz marxistischer Auffassungen zum aktuellen Zustand und Schicksal der kapitalistischen Gesellschaft. Und dies scheint gesellschaftsfähig, neuerdings ohne weithin übliche Diffamierung.
Ein Beispiel: In Verbindung mit dem Film über den jungen Marx gab es in der Berliner Zeitung vom 25. Februar 2017 ein umfangreiches Gespräch mit dem Hauptdarsteller August Diehl, der erst aus Filmgründen mit einigen Aspekten des Marxismus in Berührung kam, sich sonst aber gut im Hier und Heute auskennt. Auf eine direkte Frage meinte der „junge Marx“: „Marx ist seit der industriellen Revolution nicht mehr so aktuell gewesen wie jetzt. Die kommunistischen Staaten sind gescheitert, das einzig herrschende System ist nun der Kapitalismus, aber der ist im Niedergang. Wir leben in einem Zustand, den Marx vorher gesagt hat.“ Das ist mit großer Selbstverständlichkeit gesagt – und ohne hämisches Echo geblieben. Wohlgemerkt, es geht um Theorie und Methode, nicht etwa um Konzeptionen für eine anstehende grundlegende Umgestaltung der Verhältnisse.
Wenngleich solche Aspekte bei Müller keine tragende Rolle spielen, wird die Frage erörtert, wer die Veränderungen machen muss und wie es dabei um die Befindlichkeit der Menschen, „der Staatsbürger“ bestellt ist. Und dazu gibt es Bezüge zur gegenwärtigen Verfasstheit der USA im Vergleich zu EU und Deutschland. Die wichtigsten Merkmale sind dabei die Funktion der Parteien und Tendenzen einer direkten Machtübernahme des Finanzkapitals, jedenfalls einer Minderung des Staatsmonopols auf der Basis der überkommenen demokratischen Institutionen, was auch in Deutschland der Veränderung bedarf. Credo: Die Politik darf nicht „zur Gefahr für die Wirtschaft“ werden. So sind die Prioritäten gesetzt – und bei den meisten Parlamentsparteien (auch solche in spe) werden sie so verstanden. Wird das aber demnächst noch ausreichen, dieser auch personell bisher schon realisierte „Trainerwechsel“ a la Pofalla und Co.? Braucht man dafür vielleicht doch „neue Menschen“ – und wie bekommt man sie dafür bereit?
Im Text bleibt es bei der unbehandelten Frage, was uns hier aber nicht an einer knappen Erörterung hindern sollte. Brecht meditierte so: „In Wirklichkeit ist der neue Mensch der alte Mensch in den neuen Situationen, d.h. derjenige alte Mensch, der den neuen Situationen am besten gerecht wird, den die neuen Situationen nach vorn treiben, [ist] das neue Subjekt der Politik. Die neuen Aktions- und Reaktionsweisen konstituieren den ‚neuen Menschen‘ “. In Anlehnung daran Heiner Müller 1953, offenbar aus damals aktueller politischer Erfahrung: „Mit der Veränderung der Verhältnisse geht die des Verhaltens nicht parallel. Die das Neue schaffen, sind noch nicht neue Menschen. Erst das von ihnen Geschaffene formt sie selbst.“ Und, da wir vom neuen Interesse an Marx sprachen, dessen Analyse: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“
Das zu bedenken ist für alle Gesellschaftssysteme bedeutend, gerade in Phasen des Niedergangs. Freilich sagt das aber nichts über die Inhalte aus; manche aktuelle Option könnte auch nur „überalterter Wein in neuen Schläuchen“ sein, oder Ärgeres.
Für das deutsche „Nationaltheater“ empfiehlt Müller jedenfalls Neubesetzung und neue Spielpläne. Und wir empfehlen aus Informationsgründen mit Unterhaltungswert Kenntnisnahme, auch aus diesen Gründen: „Die Linken machen niemandem mehr Angst. Es ist die Angst vor den Rechten, die von nun an die Politik bestimmt. Wir werden erleben, daß sich ein politisches System nicht aus Vernunft ändert, sondern aus Furcht. Der Revolutionär Bucharin soll gesagt haben: ‚Die Demokratie ist die Staatsform des Bürgertums, wenn es keine Angst hat. Der Faschismus, wenn es Angst hat‘“.
Was Jakob Augstein so trefflich zitiert, kann man auch mal im Blättchen nachlesen lassen.
Henrik Müller: Nationaltheater. Wie falsche Patrioten unseren Wohlstand bedrohen, Campus Verlag Frankfurt 2017, 220 Seiten, 19,95 Euro.
Schlagwörter: Demokratie, Faschismus, Henrik Müller, Herbert Bertsch, Kapitalismus, Karl Marx, Sozialismus